Rudolph Stratz
Die armen Reichen
Rudolph Stratz

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Fünftes Kapitel

Der Abend dämmerte schon, als die beiden endlich die Richtung heimwärts einschlugen, über den weichen Fichtennadelteppich des Bergforstes hin, in denen ihre Schritte lautlos versanken, dem zwischen den Stämmen purpurn leuchtenden Sonnenball im Westen entgegen, und nun erschien es ihnen schon ganz selbstverständlich, daß sie miteinander verlobt waren – und nur, wie diese Stunden eigentlich hingegangen und was sie in ihnen zusammen gesprochen und gelacht und geküßt, das wußten sie nicht mehr recht . . . Es war alles ein einziger Rausch und Jubel gewesen. Nur jetzt eben, ganz zuletzt, da war die Wirklichkeit gekommen, da hatte Barbara von Harry von Rhenus zu reden angefangen und hatte ihrem Bräutigam alles von jenem erzählt, bis zu dem Absagebrief, den sie ihm geschrieben hatte. Im Anschluß daran hatte sie ihm auch gebeichtet, was sich mit ihr vor dreieinhalb Jahren ereignet hatte – die schwere Wunde, die das Leben ihr damals geschlagen und die er nun in wenigen Tagen geheilt. Dann atmete sie tief auf – so – nun kannte er alles von ihr. Es blieb kein Restchen mehr übrig – die Vergangenheit war abgetan und vergessen, und während er sie umschlungen hielt und sie sich wieder und wieder küßten, wuchs in ihnen das Übermaß von Glück bis zur Trunkenheit empor. Vor der hielten keine Hindernisse stand. Die verflogen wie Spreu im Winde. Rasch, in gleichem Schritt und Tritt, wanderten sie Arm in Arm dahin und schauten unter der Tarnkappe ihres großen Geheimnisses mitleidig auf die Leute, die ihnen begegneten. Sie blieben, wenn sie allein waren, wieder stehen und küßten sich. Dies waren die einzigen Augenblicke, wo sie ernst waren. Gleich darauf kam die lachende Sonnenstimmung wieder.

Nun war es schon volle Nacht. Heller Mondschein lag auf dem Tal der Oos, in das sie wieder eintraten, auf den zerstreuten weißen Häusern und den großen, dunklen Parkflächen der Gartenstadt. Barbara hätte längst zu Hause sein müssen. Aber das war ihr jetzt ganz gleich. Sie wollte diese Stunden auskosten bis zur letzten Minute, und so erklärte sie ihrem Verlobten: »Ich begleite dich noch bis zu deinem Hotel! Ich mag jetzt nicht unter andere Leute . . .«

So schritten sie zusammen dahin, über die Lichtentaler Allee, in deren Baumschatten noch überall Menschen gingen oder auf den Bänken plauderten, an den lichthellen Gärten der Hotelpaläste vorbei, wo auf der Kiesfläche vor den Glasveranden die Kapellen musizierten und innen an den von roten Lampen beschienenen Tischchen die Gäste sahen und weithin sichtbar speisten. Dann schritten sie weiter durch das Menschengewoge der Sophienstraße, durch die Gruppen der Engländer und Amerikaner, die barhaupt, in Frack und weißer Binde nach dem Diner flanierten. Sie kamen an Schwarzwälderinnen mit großen schwarzen Flügelhauben und goldbetreßten Hotelportiers und himmelblauen Grooms vorbei, und bogen in die steil am Berge aufgetürmte Altstadt ein und stiegen, ähnlich als sei man in Italien, zwischen hohen, fensterlosen Mauern die abschüssigen Jesuitenstaffeln empor, bis zu einem kleinen, bläulich vom Mondlicht beschienenen Platz. An ihm lag das bescheidene Gasthaus, das Robert Burck bewohnte. Unten war eine Weinwirtschaft. Stimmengewirr und Speisengeruch drang durch die hellerleuchteten Fenster. Und vor dem Eingang stand ein Mann – ein älterer Mann, soweit man es in der Dämmerung erkennen konnte, einen zerdrückten Filzhut auf dem Kopf, die Hände in den Taschen eines alten Mantels. Er rührte sich nicht. Er schien auf etwas zu warten.

Und plötzlich, noch in ziemlicher Entfernung, machte Robert Burck halt. Sein Blick drang unsicher, forschend vorwärts. Er zögerte – dann, langsam, kam ihm die Gewißheit. Er blieb stehen und atmete schwer, mit einem bitteren Lächeln des Erkennens, wie wenn er ein unvermeidliches Unglück erwartet habe. Als Barbara sich an ihn drängte und seine Hand ergriff und ihn ängstlich fragte: »Was hast du denn? Wer ist denn das?« – da antwortete er nur: »Da steht mein Vater . . .«

Ein schweres Schweigen war zwischen ihnen. Er machte keine Anstalten, weiterzugehen. Der Vater drüben harrte still wie eine Schildwache. Er sah sie nicht. Er schaute nach der anderen Seite. Sie wiederholte leise: »Dein Vater . . .?« Sie faßte sich dann ein Herz und schritt entschlossen auf den alten Mann vor dem Gasthaus zu. Robert Burck blieb stumm an ihrer Seite. Der Vater hatte nun seinen Sohn bemerkt und kam langsam auf sie zu.

Er war Barbara ein Fremder. Sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Es gab auch kein Bild von John Burke im elterlichen Hause, alle Andenken an ihn waren verbrannt, man sprach nicht von ihm – oder höchstens wie von einem Toten – oder wenn von ihm als einem noch Lebenden die Rede war, dann geschah das nur im Arbeitszimmer ihres Vaters hinter verschlossenen Türen, durch die dumpf die Stimme von Rechtsanwälten und kaufmännischen Beratern im ewigen Streit um Prozeßforderungen und Erbschaftsansprüche klangen. Otto Burck war jedesmal ganz bleich und erschöpft, wenn er von einer solchen Sitzung kam.

So sah sie Roberts Vater zum ersten Male bewußt mit Augen. Ihr erster Eindruck war eine Art von Enttäuschung. Sie hatte ihn sich bedeutender vorgestellt – eine Größe, wenn auch eine gestürzte – ein Mann, der gewohnt gewesen war, die Menge zu überragen. Sie sah nun, daß seine Gestalt kaum das Mittelmaß erreichte und durch die müde, sorgenschwere Haltung, die mehr als schäbige, geradezu verwahrloste Kleidung noch dürftiger erschien. Und auf diesen gebeugten Schultern saß ein Kopf, der viel zu mächtig für den schwachen Körper war. Ein eigentümlicher Kopf – die Gesichtsfarbe weiß, fast blutleer, ein silbergrauer, wirrer Bart, ein spärlicher Haarkranz über der kahlen Stirne, Hunderte und aber Hunderte von Fältchen um die ausgearbeiteten Lippen, die eingesunkenen Wangen, die tiefliegenden Augen. Sein Lächeln war seltsam . . . fein . . . Es überstrahlte die verwitterten Züge.

»Da bist du endlich!« sagte er. Seine Stimme klang tief. Eine unerschütterliche Ruhe lag darin. Barbara fühlte, daß der alte Mann, wie er da stand, in all seiner Ärmlichkeit, die Verkörperung eines ehernen Glaubens an sich selbst war. Und darin lag nichts Gemachtes, John Burke gab sich ganz einfach. »Da bist du endlich!« wiederholte er, drückte Robert die Hand und warf einen fragenden Blick auf seine Begleiterin. Robert sagte rasch: »Das ist Kusine Barbara, Papa – Onkel Ottos Jüngste – wir sind spazieren gewesen . . .«

»So – Onkel Ottos Jüngste . . .« Es fiel Barbara auf, daß, ehe John Burke sprach, das unruhige Spiel seiner Gedanken schon voraus in einem Zittern über die tausend Fältchen seines Antlitzes lief. Dabei wiederholte sich ein nervöses, beinahe schmerzliches Zucken im linken Auge. Er fuhr lächelnd fort: »Vor einundzwanzig Jahren hab' ich dich zuletzt gesehen! Da saßest du im Hemdchen auf dem Arm deines Vaters. Der brachte dich nach Tisch herein und zeigte dich den Gästen, und du weintest und strampeltest und wolltest wieder in die Baba. Aber wie ich dir meine Uhr hingehalten hab' – so immer Ticktack – Ticktack – da hast du gelacht und mich am Bart gezaust . . . ja . . . das ist lange her . . . Erinnerst du dich noch an die große Puppe Miß Gwendolin, die ich dir damals geschenkt hab' . . .? Die war sicher zwei Zoll größer als du selber . . .«

»Ach ja . . . wahrhaftig . . .« Es dämmerte Barbara dunkel – ein Stückchen verblaßte und verwaschene Erinnerung aus der Kinderzeit. »Aber daß du dich auf solche Kleinigkeiten noch besinnst, Onkel . . .«

»Ich besinne mich auf alles, mein Kind!« sagte John Burke. »Es gibt auch gar keine Kleinigkeiten. Alles ist gleich wichtig. Na – und du . . .?« Er drehte den grauen Kopf nach seinem Sohn. »Du warst bei Onkel Otto?«

»Ja.«

»Im Hause?«

»Ich hab' es dir doch geschrieben . . .

». . . daß du mich kaltstellen willst!« Der Alte nickte belustigt. »Das ist ein Spaß, du Grünschnabel – aber kein guter.«

»Es ist voller Ernst, Papa . . .«

»Mir nicht!« versetzte John Burke gleichmütig. »Und auf euch kommt es nicht an. Also laß mich nur für mich sorgen und kümmere du dich um dein Nähgarn . . . und du, meine Nichte Barbara . . . sage deinem Vater, ich freute mich, daß er eine so schöne Tochter hat – aber im übrigen könne ich ihm bei seiner Verblendung nicht helfen – ich sei jetzt da, und jetzt würde es Ernst. Er hat den Kampf bis zum bitteren Ende gewollt. Er soll ihn haben.«

Er sprach das leise und in einem ganz reinen, von keinem englischen Anklang getrübten Deutsch. Und doch machte er nicht den Eindruck eines Deutschen. Ebensowenig konnte man ihn den Briten oder irgendeiner anderen Nationalität zusprechen. Er stand ganz für sich. »Ja – bis zum bitteren Ende!« murmelte er so geschäftsmäßig, als spräche er vom Wetter. Barbara wußte ihm nichts zu erwidern und warf Robert einen verstörten Blick zu. Der zuckte stumm die Achseln.

John Burke aber schaute die zwei an – von einem zum anderen – oder vielmehr, er schaute zu ihnen empor – denn sie waren beide größer als er – und fragte, von einem neuen Gedanken erfaßt, ganz unvermittelt und schnell: »Geht ihr öfter zusammen spazieren? Jeden Tag, seit du hier bist . . .? Gefallt ihr euch?« – und als Robert unmutig sagte: »Papa . . . laß das doch, bitte . . . wir sprechen nachher – über alles . . .« Da glitt ein feines Erraten über sein weißes Gesicht, dessen Fältchen das Mondlicht so grell hervorhob, und er sagte freundlich: »Du willst gehen, meine Nichte Barbara? . . . Gute Nacht, mein Kind! Schlaf wohl! Ich gebe dir nicht die Hand. Es könnte deinem Vater unangenehm sein . . .!«

Aber als sie ihm nun die Rechte entgegenstreckte, zu sprechen vermochte sie nichts in ihrer Beklommenheit, nahm er sie doch und drückte sie mit einer Kraft, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Dann trat er zurück und ließ die beiden für sich. Und sie schauten sich noch einmal ins Gesicht und küßten sich mit den Augen, in einem Widerstreit von Glück über das, was geschehen, und Bangen vor dem, was kam – dann wandte sie sich rasch ab und ging über den Platz und grüßte noch einmal von der Ecke der Jesuitenstaffeln. Ihr weißes Kleid verschwand im Schatten der hohen, dunklen Mauern.

»Komm auf mein Zimmer«, sagte John Burke gelassen, als sei gar nichts vorgefallen, zu seinem Sohn. »Essen können wir später.« Sie stiegen in das Hinterstübchen im dritten Stock empor, das er bewohnte. Mitten in dem blieb der alte Mann, als sie eingetreten waren, stehen und horchte. Ein geheimnisvoller gespannter Ausdruck lag auf seinem Gesicht, während er den Kopf zur Seite legte. »Hörst du nichts?« fragte er gedämpft.

»Es klopft irgendwo – was denn sonst?«

»So – irgendwo? – Und wo denn, so spät am Abend? Willst du mir das vielleicht erklären?«

Robert zuckte ungeduldig die Achseln. Er kannte die spiritistischen Schrullen des Vaters. Der aber beharrte: »Im ganzen Hause ist es still! Warum pocht es denn gerade in meinem Zimmer? Immer da, wo ich bin?«

Gegen die Klopfgeister war bei ihm nicht anzukämpfen. Die umgaben und verfolgten ihn als ein unsichtbares Geleit, wo er ging und stand. Er rührte sich nicht. Er zählte andächtig die Schläge und die Pausen. Aber nun verstummte das Hämmern plötzlich ganz, und John Burke machte eine resignierte Handbewegung und setzte sich seufzend auf das wurmstichige Sofa, zündete sich eine Zigarre an und lud seinen Sohn ein, neben ihm Platz zu nehmen.

»Wenn ich nur immer wieder deine Dummheiten gutmachen darf, mein Junge!« sagte er ein wenig vorwurfsvoll. »Da muß ich nun hierherreisen – ich wollte es ja ohnedies – aber so über Hals und Kopf – fast ohne Geld – dritter Klasse – damit du nicht weiter hier alles verdirbst! . . . Was fällt dir ein, Robby, dich in meine Angelegenheiten zu mischen? . . . Du bist und bleibst doch ein großes Kind . . . Gottlob, daß ich jetzt noch da bin! . . . Aber was einmal aus dir wird, wenn ich die Augen schließe . . .«

Er senkte kummervoll das Haupt. Dann erhellte sich sein Antlitz. Es pochte wieder zwei-, dreimal ganz leise – ganz fern – die unsichtbaren Freunde waren nahe – er war nicht allein auf der Welt, zwischen den Menschen, seinen Feinden. Robert sagte unterdessen: »Ich habe dich so gebeten, endlich den alten Streit mit Onkel Otto ruhen zu lassen.«

». . . und das gerade jetzt, wo er sich ganz geräuschlos und heimlich in eine Aktiengesellschaft verwandelt!« John Burke lachte auf. Die Naivität seines Sohnes belustigte ihn. »Robert – wo lebst du? – Im Mond? – Oder auf der Erde? Wenn je, dann ist doch jetzt der Augenblick gekommen, mit allen meinen Ansprüchen hervorzutreten, ehe er den sauberen Handel verschleiert und mir seine neuen Aktionäre als Strohmänner in den Weg stellt. Deswegen ist er ja auch mit seiner Gründung in der Familie geblieben, der alte Fuchs, damit nichts an die große Glocke kommt. Und in der Familie ist doch ein Dummkopf neben dem anderen. Die Burcks sind alle beschränkt. Sie waren es immer, außer mir! Und dann denken sie, ich erfahre nichts von ihren Schleichhändeln – ich sei schon ganz zum alten Eisen geworfen . . . pah . . . ich hab' mehr Verbindungen, als sie ahnen.«

Robert wollte den Vater nicht reizen. Wurde er leidenschaftlich, so wurde jener – das wußte er – es noch mehr. Dann entluden sich plötzlich ganze Vulkane von Anklagen gegen Gott und alle Welt, von Haß gegen die Menschen im allgemeinen und gegen seine Verwandten im besonderen. So schlang sein Sohn die Hände ineinander und sagte möglichst ruhig: »Was willst du denn nur von Onkel Otto?«

»Geld.«

Der alte Geisterseher warf, während er das sprach, das graue Haupt zurück. Die großen, starren Augen ruhten unverwandt auf seinem Sohn. In seiner Stimme war keine Gier, kein Haß, keine Leidenschaft – es lag ein feierlicher Klang in der einen Silbe: Geld – und ebenso andächtigen Tones setzte er hinzu: »Geld ist alles auf der Welt.«

»Gott im Himmel, Vater – sage mir das nur heute nicht – in der Stimmung, in der ich bin . . .«

»Als ich noch Geld hatte«, sagte John Burke trocken und kniff dabei plötzlich wieder leidend das linke Auge zu, »da hatte ich auch eine Frau, da hatte ich wohlgeratene Kinder und liebende Angehörige. Da hatte ich Freunde in Menge, da hatte ich das Vertrauen aller Menschen. Da füllte ich überall respektabel einen Platz in der Welt aus – in der Kirche – und auf der Börse – und daheim an meinem Herd. Ich war so wohlgestaltet und aus einem Guß wie nur irgend etwas in der Schöpfung, und wie ich eines Morgens keines mehr hatte«, er blies sich in die hohle Hand, »hui – merkst du, wie der Sand in alle Winde stiebt! – Nichts ist übriggeblieben – nichts, außer dir . . . Du hast doch als Boy Mathematik gehabt . . . du weißt, was eine Gleichung ist . . . Wenn vom Geld alles abhängt – dann ist Geld auch alles, und ich muß es wiederhaben, nicht für mich. Ich hab' mich in den langen Jahren an das Hungern und Frieren gewöhnt. Und auch für dich allein nicht, obwohl das sonst mein letzter Wunsch auf Erden ist, daß es dir gut geht, mein Junge . . . Nein . . . damit ich weiß, daß ich nicht unterlegen bin!« Plötzlich richtete sich der Alte auf, seine Augen sprühten, seine Faust schlug schwer auf den Tisch. »Du bist eben keine Kampfnatur! Du pfeifst dir ein vergnügtes Liedchen, wenn du dein Nähgarn sortierst, und steckst am Sonnabend deine paar Pfund mit einem Kratzfuß und einem ›Vergelt's Gott‹ in die Tasche und denkst: ›Der liebe Gott wird schon wissen, warum ich ein Armer bin‹ . . . aber ich . . . ich . . . ich, dem nichts im Leben unerreichbar geschienen hat . . .« Er sprang empor, er schrie vor Leidenschaft – ». . . guter Gott . . . soll ich denn wie ein Hund in die Grube fahren? . . . Ich, der John Burke – der jetzt noch hier in dem alten Kopf Verstand für hundert Cityleute hat – vor dem sie Platz gemacht haben, wo er auf der Börse ging – der John Burke, den sie in Chile und Peru so gut gekannt haben wie in London und Hamburg, und heute kräht kein Hahn nach mir, und ich habe kaum mehr auf eurem verwünschten D-Zug meine Platzkarte bezahlen können – du mußt mir überhaupt nachher Geld leihen, Robby . . .«

»Beruhige dich doch, Papa«, bat sein Sohn. Aber der einstige Börsenkönig klatschte in die blutleeren Hände, als könne er so das träge Schicksal in Trab bringen. »Die Zeit verrinnt, Robby! Die Zeit ist kostbar. Meine Kräfte nehmen ab – ich fühle es wohl – und um obenauf zu kommen, brauche ich doch meine Kräfte, nicht wahr? Darum heißt es jetzt rücksichtslos die Gelegenheit nutzen. Die war nie günstiger als jetzt. Jetzt steht der Sieg vor der Tür, mein Junge!«

Er setzte sich wieder und lächelte vor sich hin. Sein Sohn erwiderte ihm nichts, und der alte Mann hub wieder an: »Dann bin ich zufrieden! Nur einmal noch über meine Feinde triumphieren . . .«

»Du hast ja gar keine, Vater. Du bildest sie dir nur ein.«

»Alle Welt ist mein Feind! Nur einmal noch dem Gelichter zeigen, wer ich bin – weißt du, was das heißt? – Nein – du weißt es nicht! . . . Du hast Milch in den Adern . . .«

Und den Blick hartnäckig in die Ferne gerichtet, setzte er hinzu: »Und wenn sie mir sagten: ›Fünf Minuten sollst du der John Burke von einst sein – aber dann legen wir dich da in den Sarg‹ – ich sagte: ›Her mit dem Sarg! – Nur gebt mir vorher die fünf Minuten!‹«

»Ich bitte dich, Vater – hör auf!«

Der Alte lachte. Der bloße Gedanke an die Millionen erwärmte ihn. Und plötzlich ganz ruhig geworden, fing er an, von den Geschäften zu sprechen, oder vielmehr von der einen großen Spekulation unter all seinen hundert Projekten, der Wiedererschließung der längst verlassenen Ridderfountainmine an der Grenze von Transvaal und Mozambique. Dort lagen Millionen im Schutt der Wildnis – Millionen! Er betonte das kaltblütig. Er wußte das. Eine tiefe, überzeugende Sicherheit überkam ihn – man mußte daran glauben und nur eilen, um sich ihm anzuvertrauen, ehe es zu spät war und andere das Geld aufgehoben hatten, das vor den Augen des hellsehenden alten Mannes da auf der Straße lag.

Oder hatten etwa die Portugiesen nicht schon im sechzehnten Jahrhundert dort nach Gold geschürft und Schiffe voll heimgebracht? Wiesen nicht geheimnisvolle uralte Trümmer dort im Zululand, riesige Steinmassen einstiger Städte, auf die Zeiten der Phöniker und Ägypter zurück? Woher kamen denn die Schätze der Königin von Saba? Hatte nicht noch um 1830 Xaver Hainbichler, der schwäbische Missionar, dort Goldklumpen herumliegen und die Kinder damit spielen sehen – und sich als ein rechter deutscher Michel damit begnügt, die wichtige Tatsache in seinem Tagebuch zu vermerken und weiter zu ziehen? Waren Blätter dieses Tagebuchs, als er nach seiner Heimkehr dem Fieber erlegen, nicht noch in den Sechzigerjahren dort vorhanden gewesen? Und hatte sich nicht der Hauptteil mit vielem anderen, bei Ausbruch der Krankheit zurückgelassenen Gepäck jahrzehntelang in jener einsamen Burenfarm im äußersten, fieberheißen Norden Transvaals befunden und war dort von manchen vorbeikommenden Jägern und Händlern gesehen worden, bis der letzte Krieg die Farm zerstörte und die Burenfamilie Gott weiß wohin verschlug? Das alles war doch klar – sonnenklar . . .

Robert erwiderte nichts. Er kannte aus vielen Gesprächen die unheimliche Kraft, die solchen Ausführungen seines Vaters innewohnte. Das war alles so geordnet. So logisch schob sich Baustein über Baustein, bis das stolze Wolkenkuckucksheim dastand – und der einzige Eckpfeiler, der daran trügerisch war – der ein Übergang vom Reich der Wirklichkeit in das der Träume, auf dem dann alles andere ruhte – der war wohl verborgen. Den fand man nicht so leicht.

Und wo stand dort drüben auch die Grenze zwischen Wahrheit und Trug? Die Möglichkeiten waren ja unbeschränkt – die Größenverhältnisse überstiegen jedes Maß. Tausendfache Millionäre tauchten da auf und wandelten schlicht und einfach, beinahe ängstlich zurückgezogen, wie James Beit, unter den anderen Menschen, ungekrönte Könige herrschten gleich Cecil Rhodes über halbe Erdteile, abenteuernde Krösusse wie der diamantenbehangene frühere Schauspieler Barnato erfüllten London mit dem märchenhaften Glanz ihres Reichtums und stürzten sich auf der Heimreise hoch vom Bord des Dampfers hinab – in das Nichts des Atlantischen Ozeans – was war da noch denkbar – was nicht? Für den, der ein Menschenalter diese Luft geatmet, wie der Alte da drüben auf dem Sofa – für den hörten diese Begriffe auf. Und dabei blieb der doch eigentlich auf dem Boden der Tatsachen. Als sein Sohn jetzt einwarf, warum denn andere nicht schon diese Schätze gehoben, da lächelte er nur mitleidig: War das etwa nicht geschehen? Jene Ridderfountain-Company Limited war doch schon vor dem Krieg gegründet. Sie besaß nur nie die nötigen Mittel, um die Nachwehen der letzten großen Krisis durchzuhalten, und nun, ehe sie die erste Stempelbatterie aufgestellt, war es mit ihrer Kraft zu Ende. Jetzt konnten andere ernten, was jene gesät. Der Weg war frei. Und er, John Burke, mußte das Riesenwerk vollbringen und Ridderfountain zu einem Boom an der Börse verhelfen, daß man die Shares den Maklern aus den Händen riß.

»Wenn du gut beraten bist, Robby«, sprach er, »so gehst du auch mit all dem Bißchen, was du hast, in die Sache! Sie ist ein Märchen an Prosperität. Schwierigkeiten sind ausgeschlossen. Unser neuerfundener Steinbohrer wird Wunder tun. Und jetzt steht das Papier noch kaum elfeinhalb. Es hat eigentlich noch keinen rechten Kurs . . .«

». . . weil keine Katze es kaufen will, Vater!«

»Um so besser für uns! Wer jetzt unterschreibt, kriegt noch Bonus-Shares mit in den Kauf! Der lacht nachher die anderen aus. Diese Chance muß in der nächsten Woche ausgenutzt werden! Sonst lassen sie mich nicht mehr mit hinein in den Konzern. In acht Tagen muß ich die Mittel haben – von deinem Onkel Otto! . . . Diesmal kriege ich ihn schon zu Fall, Robby! Diesmal gehe ich gegen die ganze Familie! Gegen alle, die seine Aktien bekommen sollen!« Der Alte kicherte. »Jedem einzelnen, Burck und Rhenus und Hafner, droh' ich mit dem Staatsanwalt, wenn er mithilft, meine Rechte zu verkürzen! Überall geht der Tanz los, hier vor dem Gericht in Karlsruhe, in London, in Frankfurt, in Wien, in Polen! Ich habe ein Syndikat von Geldgebern hinter mir. Paß nur auf, wie ich deinen Onkel zur Verzweiflung bringe!«

»Bei mir hast du das schon fertiggebracht!«

Der Alte riß die Augen auf: »Wieso?«

Sein Sohn atmete schwer auf. Dann trat er auf ihn zu und fragte ihn: »Sag . . . hast du mich wirklich lieb?«

»Das könntest du wissen, Robby!«

»Ich will es aber jetzt von dir hören – gerade in dieser Stunde . . . Also – du hast mich lieb?«

John Burke nickte nur stumm. Die Erschöpfung machte sich plötzlich bei ihm geltend. Er sah alt und vergrämt aus.

»Dann tu mir den einzigen Gefallen, Vater, und fahre morgen früh nach England zurück – bleib nicht hier! Du verdirbst mir alles . . .«

John Burke sah ihn erstaunt an, mit einem mitleidigen Lächeln. Dann versetzte er: »Was verstehst du davon, du Muttersöhnchen! Laß du mich alten Landsknecht nur meine Schlachten schlagen! Wenn ich deinen Onkel Otto erst auf die Knie gezwungen hab' . . .«

»Das sollst du ja gerade nicht . . .«

»Ei – sieh da . . . und warum verbietest du es mir dann?«

». . . weil ich hoffentlich morgen um diese Zeit schon sein künftiger Schwiegersohn bin. Ich habe mich vorhin mit Barbara verlobt . . .«

Der einstige Börsenkönig blickte jäh auf und ihm scharf in die Augen. Ein Wolkenflug blitzschneller, einander widerstreitender, sich überstürzender Empfindungen glitt über die Furchen seiner Züge.

Jetzt fiel ihm ein. Es hatte ihm schon vorhin, bei der Begegnung mit Barbara Burck, undeutlich eine solche Möglichkeit geschwant. Aber dann war es ihm bei dem steten Wechsel seiner Gedanken, die sich doch in beharrlichem Wirbel um den einen Tiefpunkt, die Ridderfountainmine, drehten, aus dem Sinn gekommen.

Und aus diesem Brüten heraus sprach er endlich langsam, in einem ganz veränderten Ton: »Wenn das so ist, Robby – dann müßte mir dein Onkel doch helfen – von sich aus – freiwillig – nicht wahr?«

Es zuckte bitter über das Gesicht seines Sohnes. »Und das ist alles, was du dabei denkst?« sagte er. »Hast du denn nicht ein einziges Wort auch für mich? Fühlst du denn gar nichts mit mir?«

»Doch, doch! Robby!« Der Alte stand auf und tat gerührt. Er drückte dem jungen Mann die Hand. »Da hast du also nun endlich dein Glück gefunden, mein Junge! Ich bin froh, daß ich die Stunde noch erleben durfte . . . All right, das hast du gut gemacht! Jetzt kommt alles in die Reihe! Sieh nur, daß dich dein Onkel Otto nicht übers Ohr haut! . . . Sei ja nur nicht zu bescheiden mit der Mitgift! . . . Spiele nur um Gottes willen nicht den bescheidenen Jüngling! Setze dich nur so recht mitten ins Nest und lache die anderen aus!«

»Vater – lasse das, bitte!« Die Stimme seines Sohnes klang so entschieden, daß der Alte eingeschüchtert schwieg. Etwas Verträumtes kam allmählich in die Augen des Alten, sein Blick verlor sich in die Ferne, und dann hub er leise, vor sich, wie im Kopf rechnend, an: »Natürlich hilft er mir dann! Er war ja eigentlich immer ein gutmütiger Mensch, dein Onkel Otto! . . . Früher, vor vielen Jahren, da waren wir ein Herz und eine Seele . . . Wenn ich jetzt die Möglichkeit habe, mit ihm selber ruhig zu sprechen, ihm alles zu erklären –. Er ist ja beschränkt, auch als Kaufmann, sein Horizont reicht nicht weit, aber immerhin, dazu langt's, daß er dann seinen Vorteil einsieht –.« Seine Züge belebten sich in einem jähen Schein. »Dann wäre ja der ganze Streit nicht nötig, Robby! Dann geht alles in Frieden, und die Bahn ist endlich für mich frei . . .«

Plötzlich sprang er wieder so elastisch wie vorhin empor. Alles an ihm war Unruhe und Zittern. Lange Zahlenreihen schossen ihm durch den Kopf und ordneten sich auf seinen murmelnden Lippen zu unerhörten, kommenden Gewinnen. Er durchrechnete im Flug die Sprünge des rettenden Kapitals von Polen nach England und von da nach Transvaal, und seine triumphierende, verdoppelte und verdreifachte Heimkehr. Er richtete seine hagere, kleine Gestalt straff auf und lachte leise und selig vor sich hin. Er kicherte beinahe im Übermaß des Entzückens und voll bösartiger Kampflust und rieb sich die Hände. Ihm wurde warm und wohl. Er fühlte schon das nahende Lebensblut durch die Adern rinnen. Das Geld . . . das Geld . . . Er verspürte neue Kräfte, gleich dem Riesen, der endlich wieder einmal die Mutter Erde berührt. Jetzt sollten seine Gegner sehen, wer er noch war, jetzt würgte er bald in London auf dem Kaffeemarkt der City wie der Wolf im Schafstall – hei – das sollte ein Sturm um ihn und seine Gruppe werden, ein Tosen in den Handelszeitungen, ein Lärm auf der Börse. Ganz nahe vor sich, nicht mehr wie sonst als unerreichbare Fata Morgana, sah er den Traum seines Lebens: das Bild von einst, das mächtige Kontor, in dem die Clerks gebückt, fieberhaft rechneten, das Rasseln der Schreibmaschinen, die dumpfen Stimmen aus den Telephonzellen, das Laufen der Depeschenboys, das Hin und Her eiliger Makler. Und er drinnen in seinem Allerheiligsten im Sessel – vor sich die stenographierenden Sekretäre, und jedes Wort von ihm ward zum elektrischen Funken und schoß schneller als der Gedanke durch den Ozean nach Amerika und durch den Kanal nach Europa – und jedes Wort ward zur Tat und zauberte drüben in Afrika die Schätze aus dem Boden. Da keuchten die Kulis und schleppten die Neger für ihn – und um ihn war ein Rauschen und Strömen von Gold . . . von Gold . . . von Gold.

Und das alles verdankte er dem guten, dummen Jungen da, seinem Robby, dem blonden großen Kind, dem er nie im Leben soviel Einsicht zugetraut! Ein fixer Bursche! Der verliebte sich nicht in das erste beste arme Gänschen, wie er es heimlich immer gefürchtet hatte. Holte sich einfach die Barbara Burck! Gerade als ob sich das von selbst verstände, solch ein Meisterstreich, der alles, aber auch alles auf einmal wieder in die Fugen brachte! Und plötzlich packte er seinen Sohn und drehte ihn zu sich herum und umarmte ihn stürmisch und preßte ihn an sich und schüttelte ihn derb an den Schultern, während er ihn losließ: »Du Schlingel, du, du verwünschter Schlingel, du Duckmäuser – na, warte nur!« Er lachte wie ein Kind, während ihm die hellen Tränen in den Augen standen. Und jener dachte, die Begeisterung des Alten gelte seinem, Roberts, Glück, daß er das große Los im Leben gezogen und ein Mädchen wie Barbara Burck, desgleichen es doch ein zweites Mal auf der Welt nicht gab, gefunden hatte und nun gar nicht wußte, wo er mit seinem Jubel und seiner Seligkeit nur hin sollte – er hatte jetzt, wo Barbara nicht da war, gar keinen anderen Platz als die Brust seines alten Vaters. An die lehnte er sich und schaute ihm zärtlich ins Gesicht und streichelte sein graues Haar und gab ihm Schmeichelnamen, weil er Barbara nicht kosen konnte. Er war dankbar, daß er einen Menschen hatte, der ihn verstand und mit ihm fühlte. Beide weinten beinahe und trockneten verstohlen sich die Augen und lachten wieder und waren eine Zeitlang wie närrisch und wußten es und fühlten sich überschwenglich wohl dabei, daß endlich die Vernunft auf Erden aufgehört hatte.

Allmählich beruhigten sie sich dann, und John Burke knöpfte seinen dünnen schwarzen Rock zu, wie er immer tat, wenn eine geschäftliche Unterredung zu Ende war. Er sagte trocken: »Also gut, Robby, ich will dir das Opfer bringen! Ich will abreisen und die Spekulation einige Tage verschieben, so kostbar die Zeit auch ist. Ich baue auf dich! Aber leicht fällt es mir wahrhaftig nicht, mein Sohn! Geld ist ein ungeduldiges Ding . . . das will vorwärts, das will arbeiten! Und ich muß es nun vorläufig noch an der Kette halten . . .«

Er tat so, als knisterten ihm die großen Scheine schon in der Tasche, und er ließe sie nur großmütig, aus Rücksicht auf seinen Sohn, dort ruhen. Er hatte sich schon ganz in den Gedanken, solch ein Wohltäter zu sein, eingelebt. Es war ihm unmöglich, eine andere Stellung zu Menschen und Dingen zu finden. Und sein Sohn lächelte. Er war so froh und jenem dankbar, daß er, vielleicht zum erstenmal im Leben, seinen eigenen Willen einem anderen aus freiem Entschluß untergeordnet hatte und das Feld räumte.

Und wirklich reiste John Burke am nächsten Morgen ab. Sein Sohn begleitete ihn zum Bahnhof und brachte ihn in einem Abteil zweiter Klasse unter und ließ ihm noch, während sie vor dem Wagen standen, verstohlen ein Kuvert mit Geld in die hohle Hand gleiten. Der Alte tat, als merke er es gar nicht, sondern rauchte seine kurze, englische Pfeife. Er sagte plötzlich: »Sieh mal, ist das nicht die Barbara Burck? Und heute ist sie noch hübscher als gestern . . .«

Robert erkannte wirklich zu seiner Freude Barbara. Er hatte ihr am Abend noch ein paar Zeilen geschrieben. Nun war sie selbst gekommen.

Das rechneten ihr nicht nur ihr Verlobter, sondern auch jener selbst hoch an. Er war sehr aufgeräumt und guter Dinge, viel ruhiger und vernünftiger als bisher. Als sie ihm herzlich die Hand schüttelte, ihm, der in England doch im Gefängnis gesessen, und ihn »lieber Onkel« nannte und hoffte, daß sie bald »lieber Vater« zu ihm sagen dürfe, da wurde er ganz gerührt und streichelte ihr zärtlich die Wangen. Er meinte, endlich habe die Familie Burck nach so vielen Fehlschlägen und Mißgriffen etwas Gelungenes hervorgebracht, woran man seine Freude haben müsse. Und nun pfiff es zur Abfahrt, und John Burke küßte noch einmal seinen Sohn und drückte, als er sah, daß Barbara es erwartete, scheu und zaghaft, fast andächtig seine Lippen auf ihre Stirn. Er stieg ein und winkte aus dem immer rascher rollenden Wagen und rief etwas, es war nicht mehr verständlich – nur das Wort »Ridderfountain« klang durch. Gleich darauf verschwand der hagere Graukopf mit den abenteuerlich leuchtenden Augen aus dem Fensterrahmen, und der Zug fuhr in die Ferne, der Rheinebene zu . . .

 


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