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Ueber Berlin webte die Stimmung der nahen Weihnacht, zum dritten Male im Krieg. Ein Hauch von einst. Eine Ahnung aus ferner Zeit. Ein Traum verlorener Stunden und ihres Zaubers, in dem nicht die Dörfer, sondern die Wachskerzen flackerten, in dem es nicht nach Blut und Leichen, sondern nach frischen Pfeffernüssen roch und die künstlichen Wäldchen junger Tannenbäume auf Straßen und Plätzen nicht das Brüllen verborgener Mordmaschinen, sondern die hellen Rufe der Kinderstimmen: »Ein Dreier det Schäfken!« »Ein Jroschen der Hampelmann!« bargen.
Es war noch eine Woche bis zum Heiligen Abend. Aber in der von Gästen erfüllten Wohnung des Barons Erik Stier funkelte schon zu Ehren seines aus Rumänien heimgekehrten Sohnes und seiner Kameraden der Weihnachtsbaum. Baron Stier, der Balte, saß breit und mächtig mit gesträubtem Grauhaar und zufriedenem rotem Gesicht inmitten der feldgrauen Reiter an der Tafel. Er war, noch ehe die Deutschen in Kurland eingerückt waren und auch sein Schloß wieder für ihn besetzt hatten, auf verborgenen Pfaden nach Deutschland herübergeeilt und hatte seinen Ältesten in die preußische Armee eintreten lassen. Er konnte leichter als andere die Ostseeprovinzen missen. Die Hauptlinie seines alten Deutschordensgeschlechtes hatte in Ostpreußen geblüht und war vor einem halben Menschenalter erloschen. Er hatte auch diese deutschen Stammgüter seines Hauses geerbt. Sie waren an Umfang mit den Riesenflächen seiner kurischen Herrschaft nicht zu vergleichen, aber auch die letzte Scholle auf ihnen war intensiv bebaut, wo drüben jenseits des Kruges Nimmersatt noch der Elch durch den Sumpfwald brach, und die Feuerwelle des russischen Einfalls hatte sie nicht mehr erreicht.
Um ihn und die Baronin am anderen Ende der Tafel dröhnten die frischen, jungen Männerstimmen, lachten braune, bartlose und schnurrbärtige Gesichter, auf denen noch der Sieg im Südosten, Galopp über die rumänische Ebene und Reiterherrlichkeit leuchteten. Der Krieg lebte und lachte über der meist feldgrauen Tafel. Er spielte von den Prismen des Kronleuchters herab in tausend Lichtern über den sonnverbrannten Köpfen. Er funkelte auf glitzernden, ganz neuen Ordensschnallen mit gekreuzten Schwertern. Er perlte in den aufsteigenden Bläschen der Sektschalen. Er schnellte von den Lippen. Blitzte in den Augen. In dem Durcheinander der Stimmen hallte noch der schwere Marschtritt des Einzugs in Bukarest. Das Brausen des großen Kehraus unten an der Donau. Und in dem Siegesrausch der wilden Jagd da unten die säbelklirrende, übermütige Frage der jungen Reitersleute: Wer ist der nächste an der Reihe?
Die goldenen Kuppeln von Moskau und Kiew tauchten schattenhaft, verheißungsvoll, in unbestimmter Ferne auf. Die breiten Newaflächen von Petersburg. Rigas weite Dünabrücken. Der Schloßberg von Dorpat mit seiner efeuumrankten Domruine, der hochgetürmte Schattenriß Revals von dem grauen Himmel des Ostens. Im Osten war bisher immer noch der Sieg gewesen! Der Osten hatte bisher immer Glück gebracht! Die Gläser klangen. Durch die Stimmung von Wallensteins Lager schwang doch bei den Älteren und bei denen, die nicht als Lebensberuf die Waffe an der Seite trugen, ein ernster Unterton.
»Uff! Zu Hause ist's doch am schönsten, Kinder!«
»Jetzt geht die Geschichte ja auch bald zu Ende!«
»Der Rumäne war der letzte Trumpf!«
»Nee ... nu kann ja nichts Gescheites mehr kommen!«
Ein kleines Volk nach dem anderen war gegen Deutschland aufgestanden und hatte alsbald wieder den Boden geküßt. Ein neues Heer nach dem anderen war durch Deutschlands Faust zerschmettert, kaum daß es aus der Erde gewachsen. Einmal mußte doch der Zustrom von Feinden ein Ende nehmen! Das Schwerste lag jetzt hinter einem! Auf vielen der kriegerischen Gesichter sonnte sich die Friedenshoffnung: die Sehnsucht nach Weib und Kind, die Liebe zum alten Daseinswerk, der Drang nach vergeistigter deutscher Menschlichkeit von einst. Man hatte jetzt doch genug geleistet! Mehr als für Menschenkraft möglich erschien! Man stand im dritten Jahr des Krieges! So lange, ununterbrochen hintereinander, hatte seit Friedrichs des Großen Tagen, seit fast zwei Jahrhunderten, kein deutscher Krieg mehr gedauert ...
Und jetzt eben stand man auf der Höhe der kriegerischen Erfolge! Man stand so gut da wie noch nie! Ein Lärmen oben am Tisch!
»Bis zum Frühjahr haben wir Frieden!«
»Wetten, daß?«
»Stier – schlagen Sie durch!«
Frieden ... Seit ein paar Tagen war ganz Berlin voll davon. Man hatte den Frieden angeboten. Die Taube war aus der grauen Hochburg der Geheimräte in der Wilhelmstraße unsicher, im Zickzack, in den Sturm über den Wassern hinausgeflogen und suchte den Ölzweig. Die Antwort draußen in der nachtschwarzen Welt war bisher nur das Aufblitzen der Geschütze. Frieden... vielleicht doch bald Frieden... Das Gespräch war unwillkürlich leiser geworden. Die Gesichter ernster.
Baron Erik Stier, der deutschkurische Magnat, schaute mit seinen schlauen und gutmütigen Augen, die seinem trotzigen Äußeren widersprachen, die Tafel entlang. Er sah da einen besonders ernsten, versonnenen Kopf, mit blondem Schnurrbart und blauen Augen, der seinen blonden Haarschopf nicht über grauer Attila oder Ulanka, sondern über einem dunklen Bürgerrock trug. Er hob sein Glas und verstärkte seine dröhnende Stimme:
»Auf Livland und Esthland, Kerkhuß!«
»Auf eine deutsche Zukunft auch bei euch!« rief Engelbert Stier, der Leutnant, ihm gegenüber.
Waldemar Kerkhuß nickte stumm und tat Vater und Sohn Bescheid.
»Haltet nur aus da oben! Die Ohren steif! Mut! Mut!«
Die Kristallschalen der Umsitzenden berührten die seine mit klingenden Rändern. Er dankte und sagte, nachdem das Stimmengewirr sich gelegt, halblaut zu der Dame des Hauses, die, schräg am Schmalende der Tafel, zwei Stühle von ihm entfernt saß:
»Warum ich so sorjenvoll dreinschau', Baronin? Diese Herren hier wissen jar nicht, wie sehr ich sie beneide! Sie ziehen wie die fahrenden Ritter von Land zu Land und kämpfen!«
»Sie leben immer im Mittelalter, lieber Kerkhuß!«
»Ich komme aus dem Mittelalter. Das Mittelalter hatte auch seine guten Seiten. Man hatte sein Leben, um es in die Schanze zu schlagen, so wie es diese Herren hier tun!«
»Jeder weiß es und sieht es an Ihrem Gang, daß Sie nicht mit hinauskönnen!«
»Aber auch in mir lebt ritterliches Blut! Meine Vorfahren waren jlücklich, wenn sie ausreiten durften!«
»Wie wollen Sie es möglich machen zu dienen?«
»Man kann auch dienen, ohne daß man Feldgrau trägt!«
»So tun Sie es doch!«
»Versuche ich es denn nicht seit mehr als einem Vierteljahr?« sagte Waldemar Kerkhuß leise, damit es nicht zu viele hörten, und halb verzweifelt. »Seit Ende Aujust, seit ich freie Bewejung in Deutschland bekam, laufe ich durch Berlin und biete meine Dienste an! Ich laufe von der Wilhelmstraße nach den Linden, von einem Amt in das andere! Aber was man da einem Mann wie mir an Beschäftigung anbietet, sind so lächerliche und winzige Dinge, daß es sich dafür wahrhaftig nicht lohnte, in Rußland jeächtet zu werden!«
»Wie kommt das nur?«
»Ich dachte früher, Petersburg sei die Stadt des Tschin. Nein doch: Berlin ist es! Wer hier nicht abjestempelt ist, durch mehrere Prüfungen jejangen, gewesenes Mitjlied jewisser Studentenverbindungen oder anderer freimaurerartijer Jemeinschaften, der fällt lästig! Jedermann bestrebt sich, ihn auf eine jewinnende Weise wieder loszuwerden...«
»Aber wenn er wie Sie die jenaue Kenntnis des feindlichen Auslands mitbringt...«
»Eben das stört ja, Baronin! Man weiß das alles hier ja längst viel besser! Es ist ein janz kleiner Kreis, dem durch die Jurisprudenz alles Wissen der Welt zuteil ward. Wo Sie hinkommen, ist ein Assessor oder ein Rejierungsrat oder ein Jeheimrat und läßt sich nicht in seine Karten schauen! Was nicht Jura studierte, läuft unjenutzt umher und hat zu jehorchen! Wenn ich als Landwirt im Frieden an meinen Feldfrüchten solchen Raubbau jetrieben hätte, wie Deutschland mit seinen jeistigen Kräften es im Krieg tut, dann wäre janz Kerreküll höchstens noch zu einer Fohlenkoppel jut!«
»Aber es jeht ja, scheint es, auch auf diese Weise!«
»Es jeht! Jewiß!«
Waldemar Kerkhuß schwieg. Vor seinem Auge ragte wieder, fern im Osten, der russische Koloß. Immer noch ungeheuerlich, Europa mit seiner asiatischen Riesengestalt überfinsternd. Aber das furchtbare Gebilde stand still an den Grenzen seines ungeheuern Urreichs. Es hatte nicht mehr die Sintflutkraft, sie zu überschwemmen, ja nur die geborstenen Deiche des Schutzwalls seiner Fremdvölker zu behaupten. Das Gespenst des Ostens besaß noch seine mächtigen Umrisse. Aber es war blasser, blutleerer geworden. Es begann zu verschwimmen, durchsichtig zu werden. Es war ein erstes ahnendes Aufatmen, als ob die Menschheit von einem Alpdruck erwachte und nicht mehr den Schemen des Zaren auf sich knien fühlte. Waldemar Kerkhuß dachte sich, wieder in einem Aufzucken von Hoffnung, beim Anblick der Krieger um sich: Noch ragt der große Kerker zwischen Kurland und China. Aber er wankt. Der deutsche Sturmbock rammt und rammt. Götz von Berlichingens eherne Faust donnert an die Tore der Paläste von Gatschina und Zarskojeselo und Livadia ... der Morgen graut ...
Er kam aus seinen Gedanken zu sich und fuhr sich mit der Hand über die Stirne.
»Du weißt wohl jar nicht, daß du zu Anfang des Krieges auch einmal auf mich jeknallt hast!« sagte er zu dem Sohne des Hauses ihm gegenüber. »In Ostpreußen. Ich stand neben Onkel Pauluscha im russischen Schützenjraben. Du warst noch Jemeiner. Du kauertest drüben wie ein Hase im Schnee und retiriertest dann in den Chausseejraben!« »Habe ich denn jetroffen?« erkundigte sich der Leutnant von Stier.
»Man hat dir anjemerkt, daß du schon als Junge ein jediejener Kugelschütze warst! Der Mann, der an meiner Stelle auf die Brustwehr jetreten war, fiel uns wie ein Sack vor die Füße! Übrigens: Onkel Oxberg hat damals angefangen: er ließ zuerst auf dich schießen, obwohl er dich erkannte!«
»Na natürlich mußte er das!«
Die beiden jungen Männer schwiegen. Sie waren ernst geworden. Die Gesichter um sie auch. Die alte Gewissensfrage tauchte da vor ihnen auf: die zwei Seelen in der baltischen Brust ...
»Wo ist denn Onkel Pauluscha jetzt, Waldemar?«
»Im Frühsommer, kurz ehe ich Esthland verließ, traf ich ihn auf Urlaub in Finnland. Er stand damals noch unten an der Düna und wehrte euch den Überjang!«
Der deutschrussische General, der, gehorsam dem Zaren, die Deutschen vom russischen Hoheitsgebiet fernhielt ... Auch die sorglosen preußischen jungen Reitersmänner fühlten den schmerzlichen Zwiespalt. Sie nickten stumm und wußten nichts dazu zu sagen. Zwischen ihnen, zur Rechten der Hausfrau, saß ein helläugiger Offizier mit bartlosem Römerkopf, der auch noch jung, feldgrau und gebräunt war wie sie, aber den meisten doch um ein bis anderthalb Jahrzehnte im Alter voraus. Sonst unterschied er sich von ihnen nur dadurch, daß er den spitzen, blauemaillierten Stern des Pour le mérite am Halse und breite, karmoisinrote Streifen an den Beinkleidern trug. Der Oberstleutnant vom Generalstab sagte in die Stille:
»Na, Herrschaften, wir haben schon andere Flüsse als die Düna überschritten!«
Alles stimmte bei.
»Wir haben die Russen schon aus anderen Ländern herausgeschmissen!«
»Polen war größer!«
»Die Donau war breiter!«
»Unbesorgt, Baron Kerkhuß! Wir werden uns den Rest der Ostseeprovinzen schon auch noch aus der Nähe besehen!«
Waldemar Kerkhuß richtete sich aus seiner geistesabwesenden Haltung auf.
»Kommt ihr wirklich und wahrhaftig?«
»Sobald wir dürfen!«
»Sowie uns Oberost von der Strippe läßt!«
»... und in kein Land lieber als zu euch!«
»Weiß Gott, was wir schon alles an Völkerhaschee von den Russen losgeeist haben! Diesmal geht es doch um euch Deutsche und um deutsches Land!«
In seinen weit offenen, blauen Augen leuchtete ein grimmiger Glanz.
Waldemar Kerkhuß hatte gegen seine Gewohnheit seine kühle Haltung verloren. Seine Stimme bebte.
»Kommt bald!« sagte er. »Sonst findet ihr keinen Deutschen und kein deutsches Land mehr bei uns!«
Der Generalstäbler zuckte die Achseln.
»Wir sind Soldaten und haben zu gehorchen. Ohne Befehl kein Angriff! Mit Befehl mit Wonne!«
»Aber wird dieser Befehl einmal kommen?«
»Das weiß ich nicht, Herr von Kerkhuß, und wenn ich es wüßte, dürfte ich es nicht sagen.«
»Das ist es ja eben!«
»Und trotzdem bin ich felsenfest davon überzeugt, daß eines schönen Tages einmal auch da oben ›Kartoffelsupp!‹ geblasen wird!«
»Jlauben Sie, Herr Oberstleutnant?« »Wir tun nichts halb, was wir ganz tun können! Das ist nicht unsere Art! Und wir werden es einmal ganz tun können!«
Den ganzen Abend gingen Waldemar Kerkhuß die lachend-sorglosen Worte durch den Kopf, während er hier zwischen dem zweiten Deutschland saß, dem Deutschland, von dem er den Eindruck hatte, daß es draußen im Felde seinen Willen zur Macht mit Blut schrieb, statt daheim in der Wilhelmstraße seinen Willen zur Ohnmacht mit Tinte, dem Deutschland des zuversichtlichen »Ja, also!« der Heerführer, statt des unsichern »Ja, aber!« der Minister. Der frische Reitergeist steckte an. Die Erde wurde klein. Im fliegenden Galopp ging es über ihre Hindernisse hinweg! Ein unbändiges Kraftgefühl des Erfolges beflügelte Roß und Reiter. Man lebte, nach so vielen stillen Jahrzehnten, als Soldat aus dem vollen im Rausch des Kriegs, starb aus dem vollen, den Sieg vor Augen. An allen Ecken und Enden Europas hatte das Regiment, dessen Uniform der junge Leutnant von Stier trug, schon seine Grabkreuze in erobertem Feindesland zurückgelassen. Namen vieler, die nicht mehr waren, klangen zuweilen im Wirbel des Gesprächs auf. Dann wurden die Mienen einen Augenblick ernster, und dieser Ernst und diese Länge des Feldzugs und diese Zweifel zwischen dem Krieg, von dem man hier redete, und dem Frieden, von dem draußen die Straßen voll waren, zogen immer wieder schließlich auch durch Waldemar Kerkhuß' Seele ...
Er richtete es so ein, daß er zugleich mit dem Generalstäbler die Gesellschaft verließ und noch eine Strecke mit ihm durch den weihnachtlichen Winterabend dahinging. Der Oberstleutnant war in bester Laune. Er summte eine Melodie vor sich hin. Sein Säbel klappte in kurzen Abständen auf das Pflaster. Seine Sporen klirrten unter seinem festen und elastischen Tritt. Waldemar Kerkhuß sagte unvermittelt:
»Bedenken Sie hier in Berlin nur immer das eine, was mir vor Augen steht! Ich habe die janze Welt jesehen ...«
»Da sind Sie zu beneiden! Ich kenne vom Ausland nur das Berner Oberland!«
»... und ich weiß: Wo die Wellen rauschen, ist England niemals ferne! Unser Baltenland ist ein schmaler Küstenstrich. Es konnte seit dem frühesten Mittelalter niemals mehr selbständig bestehen. Es braucht Anschluß. Es sucht ihn bei euch! Jebt ihr ihn uns nicht, dann setzt sich England an eure Stelle ...!«
»Aber ich bitte Sie! ... England in dem weltfernen Ostseewinkel da oben! Das ist ja eine Kater-Idee!«
»Dann habt ihr für England jearbeitet, jejen das euer Haßjesang jeht!«
»Hören Sie mal: das wäre ja toll! England kann doch nicht überall sein!«
»England ist schon bei uns in Esthland! England ist überall, wo man es hereinläßt! Rußland wankt in allen Fugen. Ich bekomme regelmäßig Berichte aus Petersburg. Asiens Macht jeht dahin! Der Zar ist nur noch ein Schatten. Wir Balten werden herrenlos. Zwingt uns nicht, zwischen euch und England zu wählen!«
»Das ist allerdings das Neuste!«
»Ich sage es nicht für mich, der ich alles für Deutschland dahinjejeben habe! Ich sage es für uns alle! Es kommt die Zeit, wo wir Jewißheit haben müssen, weil die Zeit drängt! Ihr müßt uns Mut jeben, auszuharren. Sonst wird es uns zu schwer. Mir hier auch in dieser allgemeinen Unbestimmtheit, die das Zeichen dieser Stadt ist!« »Gott – lassen Sie doch Berlin sich amüsieren! Wir draußen sind andere Leute. Wir wissen genau, was wir wollen!«
»Dann verraten Sie es mir! Helfen Sie mir, wie ich meiner Heimat helfen kann! Ich jehe hier spazieren! Man kann mich nicht verwenden! Wäre ich niemals in Esthland jewesen, sondern hätte ich ein dickes Buch über Esthland jeschrieben, dann würde man mich sofort hier als maßjebend betrachten! Ich halte diese leeren Tage nicht mehr aus! Ich muß endlich wissen, woran ich bin!«
Der Generalstäbler überlegte.
»Wir Wilden sind bessere Menschen!« sagte er. »Wir sind froh, wenn wir vernünftige Leute an die Hand kriegen, mit denen wir arbeiten können! ... Sie scheinen mir danach! So auf einem Bein stehend läßt sich das natürlich nicht abmachen! Dahinten kommt auch schon meine Neunundsiebzig! In den nächsten Tagen habe ich blödsinnig zu tun! Aber kurz vor dem Fest schinde ich mir schon eine Stunde für Sie heraus! Wenn Sie mir dann das Vergnügen machen wollen ...«
»Ich danke Ihnen!« sagte Waldemar Kerkhuß, drückte dem anderen kräftig die Hand und ging allein die Straßen Berlins weiter. An den Litfaßsäulen klebten die Erlasse und Verbote der Behörden – ein Jahr Gefängnis und zehntausend Mark – zwischen den Theaterzetteln der Operetten und Possen. Die Riesenplakate der Tingeltangel und Nachtlokale nahmen den halben Raum der Säulen ein. In kleinem Umfang wimmelten weiter unten die Bekanntmachungen der Abgabe der kärglichen Lebensmittel, und dies Ganze schien ihm ein Bild der Hauptstadt, die mit stoischer Geduld hungerte, blind und freudig gehorchte und sich abends amüsierte, so gut es ging, und allen Willen und alle Kraft und allen Entschluß dem Heere überließ. Und er dachte sich, selbst noch belebt von diesem Abend zwischen Waffen und kaum vernarbten Wunden und Wagemut und Wehr wider die Welt: Deutschlands Herz schlägt draußen in Deutschlands Heer. Seine Seele ist in den Seelen seiner Geschütze und Gewehre. Seine Sprache sind die feurigen Zungen auf den Schlachtfeldern. Sein Kompaß ist die Spitze des Degens: er soll auch mein Wegweiser in die Zukunft sein, wenn er mir zeigt, wohin es geht ...
»Es ist ein sonderbares Ding!« sagte er, als er einige Tage später in der Königgrätzer Straße in Elise Metztaks Zimmer saß. Ein grüner Tannenbaum stand in, dessen Mitte. Die kleine Baronin hatte heute ihre Wohltätigkeitsschreibereien gelassen und war damit beschäftigt, den Baum für das Christfest am Abend herauszuputzen. Es war noch heller Nachmittag. Er saß rauchend, ein Bein übergeschlagen, und beobachtete andächtig die junge Frau, die ihre zarte Gestalt auf die Fußspitzen gestellt hatte, um die vergoldeten Nüsse mit ihren schmalen, weißen Fingern an den Zweigen zu befestigen. Dann stieg sie auf einen Stuhl und knüpfte den schwebenden Engel oben an die Krone. Sie tat es mit ernster Sorgfalt. Sie glich einem jungen Mädchen, wie sie sich zierlich, kaum mittelgroß, mit ihrem sanften, dunkeln Haupt von dem Hell des Fensters abhob. Nun sprang sie mit einem Satz wieder herab und elastisch auf die Füße. Die nervöse Willenskraft ihres Wesens federte in der kurzen Bewegung. Unten unter der Tanne lagen die Geschenke für ihren Mann und ihre Kinder und die Leute. Baron Metztak selbst war nicht da. Er war noch in die Stadt gegangen, um eine Überraschung für sie zu besorgen. Es roch trotz der geschlossenen Türe vom Flur her nach Weihnachtsbackwerk. Von nebenan hörte man das Kinderfräulein und die hellen Stimmen der kleinen Mädchen, die jetzt vor der Bescherung nicht mehr nach vorn kommen durften. Waldemar Kerkhuß empfand das alles um sich her und Elise Metztaks Nähe mit einer Art von trägem und beinahe schmerzhaftem Glücksgefühl. Er schloß halb die Augen und träumte. Er fuhr zusammen, als sie, zurücktretend und den Aufputz des Baumes prüfend, ihm lachend seine Worte zurückgab:
»Was ist ein sonderbares Ding, lieber Freund?«
Da war wieder die Wirklichkeit und er ein Gast im fremden Haus, den man für den Abend unter die Weihnachtstanne eingeladen hatte und der dann, wenn die funkelnden Lichter niedergebrannt waren, einsam hinaus in das Dunkel ging. Er nahm sich zusammen und sagte:
»Ich meine diese Stimmung in Deutschland! Es ist mir immer so, als marschierte eine unabsehbare Menschenmasse in Schritt und Tritt durch die stockfinstere Nacht. Man hört nur den dumpfen Schall von unzähligen Tritten. Sehen kann man nichts. Nach vorn ist alles schwarz. Zuweilen zeichnen sich unbestimmt Umrisse, wie von Führern, ab. Aber da sind sie schon wieder verschwunden. Niemand weiß, wohin der Marsch eigentlich jeht! Man weiß nur: es jeht vorwärts! Alles marschiert voll Jlaube und Hoffnung und Liebe zum Vaterland weiter. Aber wo ist das Ziel?«
Er sprang ungestüm auf und ging, das lahme Bein leicht nachziehend und eine blaue Wolke von Zigarettendampf hinter sich lassend, im Zimmer auf und nieder.
»Erwäjen Sie selbst, liebe Freundin,« sagte er, »man jing in den Krieg. Man schlug Belgien! Man drang in Frankreich ein! Man jagte die Russen zur Düna und Beresina! Man schlug die Engländer bei Jallipoli! Man schlug die Serben! Man schlug die Montenegriner! Man schlug die Rumänen! Man nahm Brüssel, Belgrad, Cettinje, Warschau, Bukarest! Man schlug alles, was sich regte. Aber frage ich: Welche Ziele verfolgt ihr mit diesen Siegen? – so antwortet man: Pst! Es ist verboten, von Kriegszielen zu sprechen! Die Polizei will es nicht! Wir führen eben Krieg ...«
»Ist denn der Krieg Selbstzweck?« fuhr er fort, vor Elise Metztak hintretend. »Dann wäre er Selbstmord! Dann würde man hier nicht jetzt vom Frieden sprechen? Frage ich aber nun nach den Friedenszielen, so sagt man mir: Pst! Es ist verboten, Friedensbedingungen zu erörtern. Die Wilhelmstraße will es nicht!«
Er hinkte wieder zornig im Zimmer auf und nieder.
»And jlauben Sie mir, liebe Freundin, diese Unbestimmtheit lähmt allmählich die Jeister. Diese Ungewißheit höhlt die Seelen aus. Dieses Marschieren, ohne daß man die Hand vor Augen sieht, macht müde! Ich merke es an mir. Als ich jlücklich nach meiner Flucht deutschen Boden unter den Füßen hatte, atmete ich auf und ballte die Fäuste: Nun jeht es los! Nun trittst du in Deutschland in Reih' und Jlied und jehst auf deine Weise auch in den Krieg! Aber da war nicht Reih' und Jlied. Der Krieg war draußen. Daheim jing jeder seinen Jang. Niemand führt die Leute. Ein Jefühl der Unsicherheit liegt von oben her über den Menschen, die so jerne helfen wollen und nicht dürfen. Es hat auch mich erfaßt! Ich möchte nur fort aus dieser Stadt, in der es nur Verbote und Strafen jibt und Ruhe die erste Bürgerpflicht ist!«
Es war ein Schweigen. Dann sagte die kleine Frau zuversichtlich:
»Was hilft das alles, lieber Waldemar? Wir können es nicht ändern, und ich lasse mir meinen Jlauben nicht nehmen! Kommen Sie: helfen Sie mir lieber die Lichte an den Baum stecken!«
Waldemar Kerkhuß stand neben ihr und reichte ihr die farbigen Kerzen. Er mußte zu ihr emporsehen. Denn sie war wieder auf den Stuhl gestiegen. Von oben schaute ihr zartes und sanftes Antlitz aus blauen schwärmerischen Augen auf ihn herab. Sie nahm die Wachskerzen und befestigte sie behutsam in den Zweigen. Liebe war in ihrem Tun. Ernst gegen die Menschen um sie. Pflicht des Herzens.
»Ich möchte fort!« wiederholte er.
»Warum denn nur?«
Er antwortete nicht. Er bog mit düsterer Miene den Halter an einer Kerze zurecht und vermied ihren Blick.
»Und wohin?«
Wieder zuckte er nur die Achseln und schaute stumm vor sich nieder. Es war wieder die gefährliche Stille, die ihr all das verriet, was er, wie sie wußte, nie über die Lippen bringen würde: Du bist glücklich in deiner Liebe zu Mann und Kindern und hast ein bißchen von deinem Glück auch noch als Freundschaft für mich übrig. Aber ich ... ich habe nichts ... nichts als dich, die ich nie haben werde ...
Sie begriff, daß sein Drang, von hier wegzugehen, auch ihr galt... Sie sagte nichts weiter. Er reichte ihr schweigend zum Baum hinauf, was sie brauchte. Sie verständigten sich durch Winke und Zunicken.
»Es müssen noch mehr Lichte da vorn hin an die Tanne!« sagte er endlich. »Das sehen die Kinder zuerst, wenn sie hereinkommen!«
Elise Metztak machte eine bejahende Bewegung mit ihrem dunkeln Kopf. Er kniete am Boden nieder und schmückte den Weihnachtsbaum für ihre Kinder. Sie sprachen, damit es die Kleinen nebenan nicht hörten, leise, fast geheimnisvoll, über den bunten Tand gebeugt, der durch ihre sich oft in der Hilfsbereitschaft berührenden Hände ging. Die silbernen Nüsse, die scheckigen Hampelmänner, die Prinzessinnen von Tragant glitten zwischen ihren Fingern. Goldflitter klebte an Elise Metztaks braunem Haar, weißer Watteschnee an seinem dunkeln Rock. Sie vertieften sich, den Blick auf dem farbigen Abglanz des Spielzeugs, in die Arbeit. Ein kleines Marzipantierchen fiel zur Erde und barst in zwei Hälften. Er hob es auf und sagte:
»Sehen Sie! Das Glücksschweinchen ist zerbrochen. Das jilt mir. Nicht Ihnen. Mein Stern ist auch zu Boden gesunken. Ich jehe auch so durch das Dunkel und weiß nicht, wohin ...«
Elise Metztak stieg vom Stuhl herunter. Sie vermied es, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Beide standen nebeneinander und schauten prüfend auf ihr Werk, dann meinte sie:
»Vielleicht ist der Weihnachtsbaum doch eine Vorbedeutung, lieber Freund, und es wird bald Friede und alles gut.«
»Wenn es Frieden jibt und Esthland beim Zaren bleibt, bin ich verloren. Ich habe meine Schiffe hinter mir verbrannt.«
Sie wußte nichts Tröstendes darauf zu erwidern. Er fuhr fort:
»Ich habe es schon oft jesagt. Ich bin ein Jeschöpf des Kriegs. Nur der Krieg kann mich retten. Ich hinke ihm nach mit meinem steifen Bein. Ich suche ihn. Ich werde ihn schon noch finden. Ich habe in diesen letzten Wochen, seit mir der Überdruß hier bis zur Kehle steigt, immer mehr einen seltsamen und jeheimnisvollen und gefährlichen Jedanken, wie auch ich Krieg führen kann ...«
»Wollen Sie ihn mir nicht verraten?«
»Noch ist es nicht an der Zeit. Ich muß vorher wissen, ob es Krieg oder Frieden jibt! Sonst täte ich es umsonst! Ich möchte nicht unnötig dem Zaren helfen, seine Bergwerke zu bevölkern ...«
»Um Gottes willen – was haben Sie vor?«
Waldemar Kerkhuß lachte. Er kam jetzt wieder in seine alte Stimmung der Kühle.
»Das, was den Menschen nur von sich selber befreien kann!« sagte er. »Die Tat!«
»Welche Tat?«
»Ich jlaube. Ihr Telephon hat jeklingelt!« meinte er, und zugleich trat das Mädchen ein. Aber sie rief nicht ihre Herrin an den Fernsprecher. Ein Offizier aus dem Großen Generalstab hatte Baron Kerkhuß angerufen und wartete.
»Ja doch! Sie jestatten es mir, liebe Freundin? Ich hinterließ zu Hause, als ich wegging, Ihre Nummer!« sagte Waldemar Kerkhuß und schlurfte eilig hinaus. Sie hörte ihn draußen sprechen: »Jewiß, Herr Oberstleutnant! Ich weiß, wie kostbar Ihre Zeit ist! Ich kann jleich zu Ihnen kommen, wenn Sie wünschen!«
Er küßte Elise Metztak die Hand und verabschiedete sich. Sie rief ihm auf dem Flur noch nach: »Kommen Sie ja nachher pünktlich zur Bescherung! Sonst wird ohne Sie anjefangen!« Waldemar Kerkhuß winkte lächelnd zurück, hinkte die Treppen hinab und fuhr hinüber nach dem Königsplatz.
Er hatte, so wenig wie die meisten andern Menschen, im Frieden je das mächtige Backsteinviereck des Großen Generalstabs betreten. So konnte er, als er, nach Warten und Anmeldung unten an der Torwache, mit einer Ordonnanz die breite Mitteltreppe hinaufstieg, die Veränderung nicht vergleichen, die die Stellvertretung im Kriege mit sich gebracht hatte. Die Frauen waren in das Hirn der Armee eingezogen. Auf den schwarzen Tafeln an den Türen las er immer wieder: Fräulein Müller. Fräulein Krause. Fräulein Schulze. Daneben zwischen Dunkelkammern die Namen von Photographen und Xylographen. Die wenigen, mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichneten Offiziere, die ihm begegneten, sahen meist bleich und angegriffen aus wie nach schwerer Verwundung. Es fiel ihm auf, daß sie, wenn sie ihr Zimmer auch nur auf einen Augenblick, um mit dem Nachbarn etwas zu besprechen, verließen, jedesmal sorgfältig den Schlüssel abzogen und in die Tasche steckten. Die Ordonnanz führte ihn die Gänge entlang, an deren Wänden mit lateinischen Buchstaben und Ziffern die einzelnen Abteilungen des stellvertretenden Generalstabs verzeichnet standen und seitlings endlose Stöße von Kartenmaterial aufgestapelt lagen, und in ein Zimmer, das nur große verschlossene Schränke und einen mächtigen Tisch ohne Stühle enthielt. Die Tischplatte war ganz leer. Auch sonst befand sich kein Papierblatt, kein beweglicher Gegenstand irgendwelcher Art im Raum. An der Wand warnte eine gedruckte Merktafel, nichts liegen zu lassen, nichts in den Taschen der Arbeitslitewkas in den Schränken stecken zu lassen, die Schränke sorgfältig zuzusperren und den Schlüssel mitzunehmen. Unsichtbar brauten die heimlichsten Geheimnisse des Kriegs in den nüchternen, kahlen vier Wänden. Da klirrten Sporen. Der Generalstäbler trat ein, frisch, lebhaft, liebenswürdig, obwohl er die Nacht hindurch bis vier Uhr und wieder den Tag über von neun Uhr morgens ab gearbeitet hatte, um wenigstens die Feiertage über etwas Ruhe für sich und seine Familie zu haben.
Setzen konnte man sich nicht. Dazu fehlte in diesen Räumen überbürdeter Pflichterfüllung mit Absicht die Gelegenheit. Die beiden standen. Der Oberstleutnant lachte.
Auf seinen braunen Zügen wetterleuchtete noch der Krieg an der Donau, dessen Andenken man bei ihm nur merkte, wenn ihm beim Weggehen die Ordonnanz behutsam den Mantel über die noch steif vernarbte linke Schulter zog.
»Alles ein bißchen merkwürdig hier, nicht?« sagte er und drückte dem Gast die Hand. »Ja – das ist der Krieg. Einigermaßen gemütlicher geht es ja im Frieden in der großen Bude zu. Ich habe mich schon als Oberleutnant, frisch von der Kriegsakademie weg, hier zuerst abgeschuftet. Wer von uns Dächsen konnte damals ahnen, daß es noch einmal solch 'nen Krieg geben würde!«
»Und jetzt wohl bald Frieden?«
»Frieden?«
Der Generalstäbler wiederholte es mit einem Lächeln, in dem der Stolz der Überlegenheit über alle Feinde lag. Aber auch die Überlegenheit über die Heimat.
»Nun ja, Herr Oberstleutnant! Überall ist doch von Frieden die Rede. Bleibt dann in den Ostseeprovinzen alles beim Alten, so sind ich und meinesgleichen jeliefert. Es jibt dann ein feierliches Bejräbnis für uns, und es ist daher eine bejreifliche Neujier, die mich zu Ihnen trieb.«
»Aber warum zu uns, verehrter Herr von Kerkhuß? Wir sind hier Soldaten! Wir haben Krieg zu führen! Das Friedenschließen ist nicht unseres Amts!«
»Wenn aber die, die dieses Amt haben, niemandem sagen können, was nun eijentlich vorjeht und was sie schließlich wollen ... Wenn sie zujeknöpft herumjehn, als hätten sie alle Jeheimnisse der Welt in der Tasche, und dabei sieht der, der die Welt ein bißchen kennt, ihnen doch die innerliche Verlejenheit und Unentschlossenheit an? Ich bin jetzt ein halbes Jahr in Deutschland. Ich jlaube mich nicht zu täuschen, wenn ich zu der Erkenntnis jelangt bin, daß alles, was überhaupt jeschieht, durch das Heer jeschieht und für das Heer jeschieht, und daß man sich also an das Heer wenden muß, wenn man erfahren will, was jeschehen wird!«
Auf dem noch von der Sonne Rumäniens braungebrannten bartlosen Römerkopf ihm gegenüber, der sich mit straffen, festen Zügen wie eine Verkörperung des Willens selber aus dem Grau des Kragens hob, erschien wieder die sorglose Kraft des Kriegs. In seinen hellen grauen Augen schlief die Ruhe der durchdachten Schlacht. Er lachte oder aus ihm lachte der Sieg über halb Europa.
»Wissen Sie was? Kommen Sie mal mit ins Nebenzimmer!« sagte er. »Da sind wir ungestörter!«
In dem kleinen Allerheiligsten nebenan gab es Sitzgelegenheit und Zigaretten. Der Generalstäbler bot seinem Gast Feuer. In dem roten Schein, der in der ersten beginnenden Dämmerung über sein Antlitz glitt, beobachtete Waldemar Kerkhuß schweigend, wie vergeistigt Stirne und Augen waren, im Übergang zu der kühnen Willenshärte um den Mund. Er sah einen Mann vor sich, der schon in langen, eintönigen Friedensjahren über vieles nachgedacht hatte, was weit über die Grenzen seines Berufs hinausging. Er sagte sich: Das da vor mir: das ist Preußen! Das ist das letzte, das reinste, das höchstgezüchtete Preußen! Die nadelscharfe Spitze, in die die ungeheure Heerespyramide ausläuft ...
»So – da sind wir nun unter uns Pfarrerstöchtern!« lachte der jugendliche Oberstleutnant, »und nun will ich, soweit mein schwacher, gottlob von höherem Orte her erleuchteter Intellekt reicht. Ihnen einen Geheimschlüssel zum Verständnis der Lage in Deutschland in die Hand drücken. Sehen Sie: um mich wie so ein guter Professor auszudrücken – Sie haben doch gewiß in der Sekunda auch schon vom horror vacui gehört! Die Natur duldet keine Lücken! Man kann kein Loch ins Wasser oder in die Luft machen! Jedes Element hat den natürlichen Drang, die leeren Räume um sich auszufüllen!«
»Jewiß!«
»Na also! Da haben Sie unsern Fall! Wir erfüllen zunächst draußen als Soldaten unsern Beruf. Aber wenn wir damit fertig sind und uns daheim umschauen, dann sehen wir um uns mit Entsetzen eine ungeheure, gähnende, unfaßbare Leere. Einen grauenhaften Mangel an brauchbaren Menschen im Staat. Ich war nie in der Sahara. Aber sie ist sicher nichts in ihrer Öde und Unfruchtbarkeit gegen die Stellen, die uns daheim von Amts wegen helfen sollen, den Krieg zu gewinnen! Unser Volk daheim ist groß, ist prachtvoll. Unser Amtsschimmel daheim ... ja, reiten Sie mal auf dem gegen die halbe Welt! Da gibt es nichts als die Angst vor der eigenen Courage! Da heißt es: ›Entweder konsequent oder inkonsequent, nur nicht das ewige Schwanken!‹ Da machen die Männerchen am liebsten gar nichts oder noch lieber heut das Gegenteil von gestern und morgen das Gegenteil von übermorgen. Dann hebt sich die Geschichte wenigstens auf, und man ist aus der Verantwortung heraus. Das ist ihnen nämlich zunächst die Hauptsache. Ja, aber zum Donnerwetter: geschehen muß doch etwas! Gewinnen wollen wir doch den Krieg! Und wenn da weit und breit mit dem Fernrohr in den Amtsstuben kein Mensch zu finden ist, der ein bißchen Schneid aufbringt – na – dann hilft das nischt! Dann müssen wir Offiziere das alles eben auch noch im Nebenamt machen! Da haben Sie, im Vertrauen, die ganze Bescherung!«
»Unjefähr so habe ich mir das auch jedacht!«
»Na also! Hoffentlich sind Sie nun beruhigt!«
»Noch nicht janz! Jestatten Sie mir eine offene Frage!«
»Bitte! Nehmen Sie sich noch eine Zigarette! Das Laster gewöhnt sich im Krieg jeder anständige Mensch an! Nun ... Sie zögern mit der Sprache, Herr von Kerkhuß?«
»Sie sagen. Sie müssen alles machen! Aber verarjen Sie es mir nicht: Werden Sie es denn auch machen können?«
»Wir schaffen's!«
Es klang in lachender, markiger Zuversicht, getragen von beflügelter Kraft. Auf den energischen Zügen mit den stählern gewordenen grauen Augen erschien geisterhaft das ganze ungeheure deutsche Heer. Das furchtbarste Kriegsaufgebot, das die Welt je gesehen. Die Trompeten schmetterten. Die Flieger surrten. Schwer dröhnte der Massenschritt der Millionen. Ruhmreiche Feldzeichen ragten aus ihrer Mitte. Grünes Siegeslaub umkränzte das Grau der Helme. Vorn donnerten dumpfe Schläge wie von hundert Gewittern. Die Festungen des feindlichen Ostens stürzten. In endlosen Windungen krochen aus ihnen die braunen Riesenschlangen der Gefangenen stumm über Tal und Hügel. Es wetterleuchtete bis zu den Trümmern Babylons. Es flammte am Sinai. Es spie Feuer am Goldenen Korn. Bis in die Tiefen Asiens hinein erzitterte der Erdball: das deutsche Heer im Krieg! das deutsche Heer im Sieg!
»Wir schaffen's, Herr von Kerkhuß! Seien Sie unbesorgt! Sie haben's ja eben in Rumänien gesehen! Das war die kritischste Zeit! Das konnte leicht dreckig werden! Das liegt nun auch mit Gottes Hilfe hinter uns! Nun halten wir unser Spiel fest in der Hand!«
»Sie sind überzeugt, daß Sie durchhalten?«
»Wissen Sie: das Wort durchhalten gefällt mir eigentlich gar nicht! Das hat so was Passives! Nee – wir wollen siegen!«
»Wenn aber doch der Frieden dazwischenkommt?«
»Wo sollte er herkommen? Seien wir doch mal ehrlich: Unsere Friedensvorschläge sind genau so unbestimmt und halb, wie die schwankenden Gestalten, die sie machen! Aber wenn sie auch klar wie Kristall wären – die drüben wollen ja nicht! Die wollen uns totschlagen, nicht?! Die gehen aufs Ganze! Na, schön, Kinders – wir auch!«
Die braunen Wangen hatten sich gerötet. Die Augen blickten starr und kühn wie die eines Adlers. Das Gesicht war schön in diesen Sekunden. Es war die Erfüllung eines Lebensberufs, zu dem man von seinem neunten Jahr ab durch Kadettenkorps, Kriegsschule, Akademie und Generalstab hindurch erzogen war. Eine Erfüllung, vor der alle hochfliegenden Zukunftsträume des Jünglings in der Erinnerung winzig wurden. Ganz Deutschland zur Verfügung, mit seinen vielen Millionen von Männern, seinen ungezählten Milliarden an Gold, all seinen Vorräten und Schätzen und Hilfsmitteln und geistigen und leiblichen Kräften! Und das alles wie eine geballte Wetterwolke wider den Feind, in unerschütterlicher Zuversicht, in heiligem Eifer, als Retter und Mehrer des Reichs seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit zu tun ...
Waldemar Kerkhuß blieb still. Er dachte sich, mit leichter werdendem Herzen: das ist ein Glaube an sich, der Berge versetzt und Felsen sprengt! Solch ein Glaube kann nicht trügen! Er kann die dort nicht trügen und mich nicht! Es war nun schon halb dunkel geworden und ringsum kein Laut. Der Geist Moltkes ging in dem Schweigen durch die Räume, die der große Schweiger noch vor einem Vierteljahrhundert in lebender Gestalt durchschritten. Unten vor den Fenstern ragte auf dem Platz sein ehernes Standbild in dem Abendgrauen, das sich immer tiefer und düsterer über Deutschland herniedersenkte ...
»Also Sie glauben, der Krieg jeht weiter?«
Waldemar Kerkhuß' Stimme klang rauh und entschlossen.
»Soweit man etwas sagen kann, bin ich davon überzeugt!«
»Auch der Krieg nach Osten?«
»Na – gerade der! Im Osten haben wir bisher immer die besten Geschäfte gemacht. Mit dem Osten müssen wir vor allem mal reinen Tisch machen, um die Hände frei zu bekommen! Wir haben unsere Nachrichten: Es scheint da bei Ihnen in Rußland endgültig der große Kladderadatsch heraufzusteigen ...«
»Auch ich habe Verbindungen mit Petersburg! Es ist nur noch eine Frage von Monaten, bis er kommt!«
»Na sehen Sie – und dann kommen wir!«
»Auch zu uns? Nach Livland? Nach Esthland?«
»Ja, wissen Sie: auf dem Dreifuß sitze ich ja nun nicht, und ob wir uns doch noch durch die Schlammwälle von Dünaburg hindurchbeißen, das ist die Frage. Aber es geht ja bei dem Großreinemachen dort alles in einem! Wo wir auch siegen, kommt es hinterher auch Ihnen zugute! Nur Dreistigkeit und Gottvertrauen! Es wird schon gehen!«
»Ihr laßt uns nicht in der Hand der Russen?«
»Ich habe Ihnen schon neulich gesagt, Herr von Kerkhuß: Was wir tun, tun wir nicht halb! Kurland haben wir und geben wir nicht wieder heraus! Und Livland und Esthland sollen nur Geduld haben! Wir kommen, Herr von Kerkhuß – wir kommen, wenn unsere Zeit gekommen ist!«
Waldemar Kerkhuß atmete tief auf. Die beinahe angstvolle Spannung war von seinen Zügen gewichen. Von dort drüben kam die Ruhe, die gesammelte Kraft um sich her ausstrahlt. Er sagte:
»Ich danke Ihnen!«
»Bitte! Gern geschehen!«
»Und ich jlaube Ihnen! Und ich weiß jetzt, was ich zu tun habe! Ich habe schon lange mit dem Jedanken jerungen.«
»Wenn ich Ihnen dabei irgendwie helfen kann ...«
»Jerade Sie können mir helfen! Sie alle hier! Ohne euch jeht es jar nicht! Und für euch soll es ja auch sein!«
»Da bin ich gespannt!«
»Hier bin ich zu nichts nütze! Fern vom Schuß. Ein unbeträchtlicher Mensch. Ich muß hinaus wie ihr! Bitte, hören Sie ...«
In dem Generalstabsgebäude durfte sich niemand, der nicht zum Bau gehörte, allein auf den Fluren und Treppen bewegen. Die Ordonnanz, die Waldemar Kerkhuß zu dem Oberstleutnant gebracht hatte, stand draußen und wartete. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis er herauskam. Der Generalstäbler begleitete seinen Besucher bis an die Schwelle.
»Was Sie mir da erzählt haben, interessiert mich riesig!« sagte er. »Ich denke, man wird Ihnen da jede Hilfe angedeihen lassen! Aber offen gestanden: Ein Kinderspiel ist das, was Sie da vorhaben, nicht! Darüber sind Sie sich doch klar?«
»Aber jewiß!«
»Wir hier müssen da unsere Hände in Unschuld waschen, wenn was passiert! Na schön! Wir bleiben miteinander in Verbindung, Herr von Kerkhuß! Vorläufig können Sie doch nichts tun, als hier Weiteres abwarten.«
»Aber ich kann inzwischen schon wenigstens näher an die Front! Ich könnte einen Passierschein nach Kurland bekommen! Ich habe dort Verwandte auf ihren Gütern. Es ist ja da auch einiges für mein Vorhaben vorzubereiten. Jestatten Sie mir die Bitte, Herr Oberstleutnant, Ihnen meine vorläufige Adresse in Königsberg dazulassen!«
»Also Sie wollen schon bald aus Berlin fort?«
»Jetzt jleich!«
»Wann würden Sie denn reisen?«
»Wenn ich sofort meine Sachen packe, komme ich noch zu dem Nachtschnellzug zurecht!«
»Heute, am Heiligen Abend?«
»Jewiß doch! Man fährt da unjestört!«
Der Generalstäbler war verblüfft. Er meinte langsam:
»Na, Sie scheinen ja ein Mann von raschen Entschlüssen ...«
»... Wenn etwas einmal jeschehen muß, wozu dann lange warten?«
»Aber ist denn diese Eile nötig? Ich sehe eigentlich den Grund nicht recht ein!«
»Es sind da verschiedene Jründe!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Dringende Jründe! Manchmal besteht die Selbstüberwindung eben im freiwilligen Rückzug. Das wissen Sie aus dem Felde ja besser als ich!«
»Ja, ja – schon! Aber hier ...«
Der Generalstäbler war ein kluger Mann. Er hatte plötzlich eine unbestimmte Ahnung, daß in der Seele des anderen noch andere Dinge umgingen, Dinge, die nichts mit Russen und Esthen und Deutschen und Einmarsch oder Nichteinmarsch zu tun hatten, und die der vor ihm durch die Schranken kühler Ruhe vor fremden Blicken schützte. Waldemar Kerkhuß reichte ihm die Hand.
»Jlauben Sie mir: Ich muß aus Berlin fort!« sagte er. »Es hätte vielleicht schon eher jeschehen sollen. Haben Sie Dank. Also bitte: nach Königsberg!«
In der Wohnung des Ehepaars Metztak waren die brennenden Weihnachtskerzen am Christbaum schon halb geschmolzen. Sie tropften und flackerten und warfen unruhige Lichter über das Durcheinander von blonden Kinderköpfchen, roten Backen und buntem Spielzeug. Nur ein Gabenteller mit ein paar Kleinigkeiten stand daneben so, als hätte ihn noch keine Menschenhand berührt.
Elise Metztak und ihr Mann saßen und schauten ihren Kindern zu. Dann sagte er, sich nervös den wirren Christusbart streichend:
»Kannst du dir erklären, wo nun eijentlich Kerkhuß bleibt?«
»Es ist doch nun einmal ein Mensch voller Widersprüche, Alexander! Die meisten von uns Balten sind es doch! Man muß ihm seine Schrullen lassen!«
»Daß er nicht zur Bescherung kam, mag übertriebenes Feinjefühl jewesen sein! Janz unnötiges natürlich! Aber essen muß der Mensch doch schließlich. Wir haben seit einer Stunde jejessen! Wir haben den Baum zum zweiten Male anjezündet! Ich weiß nicht, was in Kerkhuß jefahren ist!«
Alexander Metztak verstummte und frug dann plötzlich in einem seltsamen und weichen Ton:
»Elise, weißt vielleicht du es?«
Sie hielt ruhig seinen Blick aus. Ihr zartes, mädchenhaft schmales Gesicht mit den seelenvollen blauen Augen unter dem krausen dunklen Haar war klar wie immer. Nicht die flüchtigste Röte auf den Wangen trübte seine Reinheit.
»Wer kann wissen, was alles in einem Menschen vorgeht, Alexander? Wozu Dinge wecken, die schlafen wollen?«
»Ich meine nur ...«
»Man weckt sie, indem man sie ausspricht! Sie sollen schlafen. Das will er selbst. Falls sie überhaupt vorhanden sind ...«
»Ich will nichts jlauben und nichts wissen, Alexander! Denn es jeht mich nichts an. Ich brauche es nicht zu wissen. Denn er jab mir nie Jelegenheit dazu. Was ein Mensch denkt und fühlt, das jehört ihm. Das hat er ein Recht in sich zu verschließen!«
»Bis er am Ende doch einmal ...«
Elise Metztak schüttelte mit sanfter Sicherheit den Kopf.
»Nein!« sagte sie ruhig. »Das wird er, solange er lebt, nicht tun! Ich kenne ihn zu gut. Der letzte Jrund seines Wesens ist der Stolz! Schon der gebietet ihm, sich eisern zu beherrschen!«
Baron Metztak beugte sich nieder und küßte sie. Sie zogen beide ihre Kinder heran, die auf dem Teppich spielten, und küßten sie auch. Dann versetzte er:
»Um rein von äußerlichen Dingen zu sprechen ... hast du nicht auch bemerkt, daß Waldemar in letzter Zeit mit irgendeiner Veränderung seines Lebens umjeht?«
»Ja. Seit er Anfang der Woche bei Erik Stier mit den vielen deutschen Offizieren zusammen war!«
»Sprach er mit dir darüber?«
»Er sagte nur janz unvermittelt am nächsten Tage: Es handelt sich jetzt darum, Jefahren zu bestehen! Es ist jetzt die Zeit für Jefahren! Ich werde auch Jefahren bestehen, so jut wie diese Herren! Ich bejreife meine Pflicht jetzt janz jenau!«
»Was meinte er denn damit?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Hast du ihn denn nicht weiter jefragt?«
»Er hatte nur sein zerstreutes Lächeln zur Antwort. Man möchte ihm so jerne helfen und kann nicht.«
»Ich werde mal Mantel und Mütze nehmen und um die Ecke jehen und selber nach ihm schauen!« sagte Baron Alexander Metztak, entschlossen aufstehend. Da klingelte es. Ein Bote hatte einen Brief abgegeben. Er nahm ihn in Empfang und wog ihn auf der Hand. Das Wappen der Kerkhuß, drei Rosen über einem Stern, prangte auf dem Siegel des Umschlags. Er öffnete den Brief nicht, sondern reichte ihn seiner Frau.
»Lies du nur! Es ist zwar keine Aufschrift da. Aber er schreibt schon an dich!«
Elise Metztak trat näher an das Licht des Weihnachtsbaums und überflog die Zeilen. Ihre Lippen murmelten den Inhalt so laut, daß auch ihr Mann ihn hören konnte:
»Liebe Freundin!
Zum Abschied möchte ich Sie noch einmal so nennen. Ich gehe jetzt. Ich reise noch heute abend. Ich muß in unsere Heimat nach Esthland zurück. Ich bin jetzt überzeugt: die Deutschen werden kommen und Esthland befreien! Solange ich nur die deutsche Schwäche in der Wilhelmstraße kannte, glaubte ich es nicht. Seitdem ich die deutsche Stärke im Großen Generalstab kennenlernte, glaube ich es felsenfest. Es ist dort wie eine Erleuchtung über mich gekommen. Jetzt habe ich das blinde Zutrauen: die Deutschen werden uns von dem Zaren und seinem Reich erlösen! Aber ein Mann darf nicht tatenlos abwarten, bis er erlöst wird. Er muß selbst an seiner Befreiung arbeiten. Ich muß an diesem Werke selbst mithelfen, damit die Russen in unserem Baltenland einstweilen vielleicht die Menschen umbringen, aber nicht die Seelen. Man muß der deutschen Seele in Livland und Esthland Hoffnung geben. Man muß ihr einen Gruß aus Deutschland bringen. Man muß heimlich von Hof zu Hof gehen und Geduld und Standhaftigkeit predigen und das endgültige ›Los von Rußland!‹ verkünden!
Ich schleiche mich mit Hilfe der deutschen Behörden in Kurland verstohlen über die Grenze. Ich werde durch Wälder wandern und mich in Heuwinkeln verstecken. Ich setze mein Dasein auf die eine Karte, daß die Deutschen kommen! Ich werde nicht müde werden, es jedem in Esthland zu sagen, bis er davon ebenso überzeugt ist wie ich. Ich bereite in meiner Heimat den Deutschen den Boden für die Zukunft vor. Mein Wort hat dort Gewicht. Mancher, der dort von der Welt abgeschnitten und bedrückt vom Moskowiter dasitzt, wird wieder aufatmen und Mut fassen, wenn er von mir hört: ›Ich komme aus Deutschland! Die Deutschen kommen! Fort mit den Ketten des Zaren! Unser Heil liegt bei Deutschland!‹ Das ist der Kriegsdienst, den ein Mann mit einem steifen Bein wie ich für Deutschland tun kann!«
Elise Metztak ließ den Brief sinken und schaute erschüttert vor sich hin. Sie begriff den Inhalt erst allmählich und machte ihn sich, in einem Schweigen zwischen ihr und ihrem Mann, mit Mühe ganz klar. Dann frug sie leise:
»Um Gottes willen: ist denn das nicht furchtbar jefährlich, was er vorhat?«
»Ich jlaube, daß es bedeutend jefährlicher ist als vorn im Felde im vordersten Jraben!« sagte Baron Metztak. »Er jeht mitten in die Höhle des Löwen oder vielmehr des Bären!«
»Also das war es ...«
»Lies weiter!«
»... den Asiaten wird meine Tätigkeit nicht recht sein. Sie werden Jagd auf mich machen. Es wird eine lebhafte Zeit für mich geben. Ich werde es den Häschern Dschinghiskhans schwer machen, mich zu fangen. Denn ich kenne in Esthland jeden Sumpf und Steg, und nicht nur die Mitbrüder, auch viele Bauernwirte kennen mich und vertrauen mir. Ich werde es auf deutsch und werde es auf esthnisch verkünden, daß die Deutschen kommen!«
Elise Metztak stockte einen Augenblick. Dann las sie rasch und ruhig zu Ende.
»Leben Sie wohl, liebe Freundin! Ich möchte Sie niemals wiedersehen. Ich werde Ihnen nie wieder im Leben begegnen. Sie werden durch mich selbst nichts mehr von mir hören. Ich werde Ihnen immer dankbar sein. Durch Sie habe ich begriffen, daß das Herz mehr ist als der Kopf. Ich habe an Ihnen erkannt, wieviel mir noch in all meinem Hochmut fehlt, und habe versucht, mir hier in Deutschland die Eigenschaften, die mir fehlten, zu erwerben, indem ich mir Sie zum Vorbild nahm. Sie waren für mich, in diesem kurzen Vierteljahr, Deutschland, mit allem, allem, was dies Wort umschließt.
Leben Sie wohl! Grüßen Sie herzlich Alexander! Bleiben Sie glücklich!
Waldemar Kerkhuß.«
Elise Metztak ließ das Blatt sinken. Sie sagte nur:
»Nun ist er fort!«
»Nun ist er fort ...«
Vor den Fenstern dunkelte die Dezembernacht, und trotzdem war die Königgrätzer Straße heute Heller als sonst. Die Weihnachtsbäume warfen ihren Schein hinaus in Kälte und leise im Winde wirbelnden Schnee. In allen Stockwerken der hohen Häuser brannten die geschmückten Tannen. Schatten fröhlicher Menschen drängten sich hinter den Wärme und Lichtglanz bergenden Scheiben. Die Straße unten war so tot und menschenleer wie sonst vor Morgengrauen. Unbesetzte Straßenbahnen fuhren in langen Abständen vorbei. Der Wind pfiff schneidend hinter ihnen her und fegte das kahle Pflaster.
Ein einzelner Mann stand da unten und schaute empor zum zweiten Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses. Es waren dort keine Vorhänge vorgezogen. Man konnte deutlich das stille Bild im Innern sehen: den traulichen Wohnraum, den langsam, geheimnisvoll verglühenden Lichterbaum, und in dem Weihnachtsfrieden das dunkle Haupt einer jungen Frau im Glück des Beisammenseins mit ihrem Mann und ihren Kindern.
Waldemar Kerkhuß richtete, vom Schatten eines Hausvorsprungs aus, lange Zeit den ernsten Blick in diese Insel der Liebe da oben. Dann wandte er sich ab, drückte sich die Pelzmütze fester gegen das schräge Flockenstieben in die Stirne, beugte den Oberkörper gegen die kalten Stöße des Nachtwinds vor und setzte, das lahme Bein nach sich ziehend, seinen einsamen Weg nach dem Bahnhof fort.