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11.

Tief innen im kurländischen Winterwald, unter mächtigen Fichten, durch deren verschneites Geäst nur der blaßblaue, nordische Himmel neugierig lugte, eine halbe Meile vom Eisgang der Düna, hatten sich die deutschen Pioniere eingenistet wie die Biber im Bau. Ihre moosgedeckten, mit Rasen gestopften Blockhütten zogen sich halb oberirdisch am Hang einer sonnigen Mulde entlang, die als Lichtung in der tiefen Waldeinsamkeit eingebettet lag. Die eingesetzten Glasfensterchen blinkten. Die Namen der einzelnen Villen prangten schwarz auf weiß. Die Feldkanzel aus rohem Fichtenholz stand abseits. Auf der anderen Seite stieg der Mittagsrauch aus der unterirdischen Küche. Ein gefrorener gelber See davor war gestern Erbssuppe gewesen, die aus dem von einer Schrapnellkugel durchlöcherten großen Kessel geflossen war. Es war ein Zufallstreffer der Russen. Sonst konnten sie lange suchen, ehe sie die verborgene Winterfrische entdeckten.

»Die Pioniere haben's viel zu gut! Finden Sie nicht?« »Wenn Herr General wüßten ... Keine Ruh bei Tag und Nacht ...«

»Na – für unsereins ist das hier das reine Idyll!« Der deutsche Brigadekommandeur stand mit seinem Stab auf der sonnenwarmen, fast schneefreien Waldblöße, sah auf die Uhr und sagte zu seinem Adjutanten:

»Na – los nach vorne! Die Chaussee liegt unter feindlichem Feuer? Schön. Da schlängeln wir uns also weiter seitwärts durch die Büsche!«

»Wollen Herr General uns nicht zuvor im Kasino die Ehre geben? Der ostpreußische Maitrank ist schon bereit!«

»Na – auf einen kleinen Stehschoppen – da bin ich kein Unmensch!«

»Wenn ich gehorsamst bitten darf – hier ist der Eingang zu unseren Gemächern!«

Das Kasino war ein kleiner Keller unter der Erde. Eine Leiter führte hinab. Unten brannten schon zwei Kerzen auf dem Tisch zwischen den rauchenden Punschgläsern. Pünktlich in dem Augenblick, als man in die Unterwelt hinabkletterte, stimmte unten das Grammophon aus der Ecke, den ›Einzug der Gäste in die Wartburg‹ an. Aber der General hemmte, noch im Tageslicht, auf der obersten Sprosse den wegen der Sporen schräg gestellten Fuß und sagte:

»Nanu – ein Zivilist! ... Wo kommt denn der her?«

Aus dem Wald schritten zwei Herren über die Lichtung. Ein Hauptmann in Feldgrau und neben ihm ein junger Mann mit blondem Schnurrbart, die Zigarette im Mund.

»Dabei hinkt er auch noch!«

»Es ist einer von den Baronen hier. Es war uns schon telephoniert, daß er mit dem Hauptmann von Roland hier durchkommen würde!«

»Nach vorn?«

»Zu Befehl!«

Bis zu dem Pionierdorf waren schon ein paarmal kurische Barone aus der Nachbarschaft zu Besuch gelangt. Aber weiter gegen die livländische Grenze hin war der volle Ernst und die Gefahr des Krieges. Der General blieb dienstlich erwartungsvoll stehen, bis der Hauptmann von Roland auf ihn zutrat und halblaut Meldung erstattete. Gleich darauf reichte er dessen herangekommenem Begleiter die Hand.

»Ach so! Sie sind das, Baron Kerkhuß! ... Schön! Befehl von oben, Sie durch unsere Linien zu lassen! Die Geschichte ist aber mehr wie brenzlig! Das ist Ihnen doch klar?«

»Jewiß doch, Herr Jeneral!«

»Also: ich wasche meine Hände in Unschuld! ... Na, meine Herren: heute scheint Ihnen ja der Russe nicht in die Suppe gespuckt zu haben!« Der General nahm lachend mit den anderen am Tisch in dem unterirdischen Kasino Platz. Der kleine Raum war gedrängt feldgrau mit schwarzen Schlagschatten und flackernden Kerzenlichtern, und hell in ihnen Waldemar Kerkhuß' blonder Haarschopf über dem nachlässig-kühlen, in keiner Weise erregten Gesicht. »Wie Sie das nun eigentlich anstellen wollen, Baron Kerkhuß, ist mir ja, gelinde gesagt, schleierhaft ...«

»Es ist da ein Mensch ... ein Lette ... Sein geräumtes Haus steht ganz nahe an der Düna ... an unserem Ufer. Ich besprach alles mit ihm: er weiß einen Weg durch die gefrorenen Birkensümpfe hier nebenan!«

»Die Kerle drüben beehren uns ja auch von Zeit zu Zeit!« sagte einer der Herren. »Erst gestern schwammen zwei Sibiriaken auf einem Baumstamm bei der Mordskälte nackt zwischen den Eisschollen des Nachts zu uns herüber. Man friert, wenn man nur daran denkt!«

»Sind sie abgeklappt?«

»Beide tot.«

»So kann es Ihnen auch gehen, Baron Kerkhuß!«

»Wie denn? Wie sollte mich der Lette verraten? Er bekommt ja sein Geld erst nachher durch Baron Stier.« »Aber wenn Sie nun auch glücklich in Ihrem nordischen Zivil, mit diesem wohlhabenden Pelz und dieser schönen Mütze auf der anderen Seite stehen? ... Schon die Krähen wundern sich ja des Todes und melden es den Russen, daß ein fremder Herr aus Deutschland da ist ...«

»Auch dafür ist jesorgt, Herr Jeneral!«

Waldemar Kerkhuß sagte es einsilbig und in sich versonnen und setzte hinzu:

»Es ist ein Jlück, daß der Lette etwas Deutsch kann!«

»Verstehen Sie denn kein Lettisch?«

»Nein. Nur Esthnisch. Erst hinter Dorpat bin ich wie zu Hause!«

»Wenn Sie nur nicht statt dessen in Sibirien landen ... Na ... mir gefällt's!« Der General erhob sich. Er hielt sich ungern länger als drei Minuten beim Rasten auf. »Falls Sie sich mir anschließen wollen ... ich stecke jetzt die Nase mal ein bißchen nach Osten.«

»Sehr jerne, Herr Jeneral!«

Drunten, in dem kleinen, heißen, halbdunklen Raum war noch ein Hauch von Frieden und Heimat gewesen. Man hatte auf einem Sofa aus Kisten und Woilachen darüber gesessen. Es waren verschimmelte Photographien an den feuchten Wänden gewesen, ein in der Wärme angelaufener Spiegel, ein rötlich glühendes und krachendes Kanonenöfchen im Winkel. Hier draußen, in der schneidenden Kälte des Winterwinds, war nur noch der Krieg. Ein kurisches Rittergut lag, als man sich dem Waldrand näherte, als ein wüster schwarzer Trümmerhaufen im weißen Schnee, die hinteren Hälften von drei durch eine Granate in die Luft geschleuderten Pferden spaßhaft in einer Reihe ausgerichtet mit senkrecht emporgestreckten Hinterbeinen hoch oben auf dem verkohlten Stalldach. Eine lärmende Krähenversammlung herum. Davor, auf freiem Feld, mitten in der weißen Öde, drei leere Stühle, als hätten da nachts Geister Skat gespielt. Der eine Leutnant meinte es und machte halt. Man ließ jetzt seinem Vordermann zehn Schritte Abstand, bis man weiter durch die ausgetretene Schneespur stapfte. Es ging stumm im Gänsemarsch einen weißen Hügel hinauf. Man war jetzt schon nahe an der Düna. Ein hartes, kurzes Krachen ertönte zeitweise seitlings in der Nähe, ein eilfertiges Plackern brodelte dazwischen, wie von aufsteigenden Blasen im kochenden Wasser. Der General war jetzt ein anderer Mann. Immer noch guter Dinge, aber sein Gesicht grimmig heiter, seine Haltung belebt, als sei er zwanzig Jahre jünger. Er blieb hinter einem leeren Bauernhause im Gefechtsstand eines Regimentes stehen und empfing Meldungen und nahm dann selbst das Hörrohr zur Hand und telephonierte mit der Division.

»Bei mir? ... Bei mir steht alles tadellos! Ich habe mir heute morgen schon meine Frühstücksrussen vorführen lassen! Zweihundert Kerle müssen mir jede Nacht gefangen werden! Sonst ist kein richtiges Leben in dem Betrieb. Wie befehlen Exzellenz ...?«

Er horchte und verdrehte verzweifelt die Augen.

»Wie? Im Nachbarabschnitt rechts? Der Russe hat sich festgesetzt und frißt immer weiter um sich? In Gottes Namen: Ich werde die Verstärkungen abgeben! Wie? Helsing läßt mir danken? Ich möge mich moralisch als umarmt betrachten? Bitte gehorsamst, ihm auszurichten, daß wir den Russen schon abquetschen werden. Helsing möge sich das Erdwerk nur dreist wieder auf der Karte blau anstreichen! Jawoll, Exzellenz: Nu erbitte ich mir aber von der Division ein Paar Badehosen! Ich bin ganz entblößt! Kein Mann mehr! Wie? Ich soll ein Paar pelzgefütterte kriegen? Danke gehorsamst! Angenehm bei der Kälte! Auf Wiederhören!«

Oben auf dem Hügel tat sich vor Waldemar Kerkhuß, so wie zwei Jahre früher bei den Russen in Ostpreußen, die feierliche, lärmende Leere des Krieges auf. Das von unruhigen, unsichtbaren Luftgeistern erfüllte Nichts. Die geheimnisvolle, wesenlose Hand, die hier plötzlich einen weißen Schneeball in den blauen Himmel setzte, da unvermutet einen rötlichgrauen Rauchkegel aus dem beschneiten Boden schleuderte, dort einen jähen Springbrunnen aus der gefrorenen Sumpffläche spritzen ließ. Er stand hinter dem General. Den Fluß selbst konnte man hier von dem hohen Ufer nicht erblicken. Aber jenseits weithin in schneeigem Weiß und Sonnengold das leere Land. Es wuchs, je höher sie auf einer Leiter in die wackelige Windmühle emporstiegen, die den Hügel krönte.

»Zu komisch, daß die drüben den ollen Kasten hier nicht umlegen!« sagte oben der General. »Aber sie tun's nicht. Sie haben irgendwas damit vor. Wahrscheinlich einen Anhaltspunkt für ihre höchst mäßigen Artillerieberechnungen.«

Draußen pfiff es schnell und fein in der dünnen Luft. Mit einem »Tak« schlug unten etwas in das alte, trockene Holz. Der General setzte sich im Fenster der Windmühle vor das Fernrohr und beschaute so angeregt die Gegend, wie ein Vergnügungsreisender eine Schweizer Landschaft. Die Adjutanten standen neben seinem Stuhl. Man sah von dem hochgelegenen, im Winde leise schwankenden Raum wie aus einem Taubenschlag über Livland hin. Kein Mensch war zu erblicken. Nur drüben in dem vom Sonnenschein in tausend Kristallen glitzernden Schnee die stille, verräterische, endlose Reihe der niederen, braunen Pfähle. Die Offiziere sprachen leise miteinander. Sie nannten sich die Namen einzelner deutscher Höfe und lettischer Dörfer. Dann hörte Waldemar Kerkhuß, wie einer sagte:

»Bei klarem Wetter sieht man ganz dahinten die Türme von Riga ...«

Jetzt, am Nachmittag des kurzen Spätwintertages, war schon zu viel grauer Nebel am fernen Himmelsrand. Die unerlöste alte deutsche Stadt am Meer, das unbefreite, weite baltische Land drüben verschwammen in trübem Schein.

Waldemar Kerkhuß' Augen hingen an dem großen Schweigen jenseits der Düna. Es wehte ihm wie eine bange, stumme Frage in dem kalten Nordost entgegen: Wann kommt ihr? Wir hoffen und harren! ...

Dort drüben war die Heimat, zum Greifen nah und scheinbar unerreichbar fern. Die braunen Pfähle wanden sich dazwischen gleich einer von Meer zu Meer geringelten Riesenschlange. Man sah nicht den Stacheldraht, die elektrischen Kabel, die Flatterminen, die Wolfsgruben. Man sah den Moskowiter selber nicht. Aber man wußte: er hielt Wache. Er saß da unten, zu vielen Tausenden gedrängt, in warmen Erdlöchern unter dem Schnee und quoll wie ein Schwarm Schlupfwespen braun und massenhaft und stechlustig heraus, wenn man ihn aufrührte. Dort drüben war seit Jahr und Tag die Grenze Halbasiens, das Ende der Welt.

Kommt! ... Kommt! ... Ferne Stimmen riefen es in Waldemar Kerkhuß' Ohr. Stimmen aus Schloß und Pastorenhaus, aus Bürgergiebeln und Handwerksstuben, aus Gelehrtenzimmern und Schulsälen ... Kommt! ... Der Reuße über uns! ... Wir erliegen dem Sturm des Ostens wider die Ostsee! Der Völkerwanderung aus Asien! ... Kommt, ehe es zu spät ist!

Waldemar Kerkhuß zündete sich eine Zigarette an. Seine Hand zitterte. Der General bemerkte es. Er hatte sich erhoben.

»Sie sehen es ja jetzt an Ort und Stelle,« sagte er. »Ein Kinderspiel ist der Krieg nicht. Am Pfefferkuchen wird bei uns nicht geknobelt. Niemand zwingt Sie, den Kopf in die beinahe sichere Schlinge da drüben zu stecken! Überlegen Sie sich's noch mal! Jetzt steht Ihnen noch der strategische Rückzug frei. Am Gottes willen, warum sehen Sie denn so zornig aus?«

»... bei dem Jedanken, zurückzujehen, Herr Jeneral!«

»Sie wollen die Geschichte also wirklich riskieren?«

»Wenn ich jenau wüßte, daß ich bis morgen früh tot bliebe, jinge ich doch hinüber!«

»Ich ahnte gar nicht, daß Sie solch ein Fanatiker sind. Sie machten mir eher einen kühlen Eindruck.«

»Es jibt auch kühle Fanatiker, Herr Jeneral!«

»Scheint! Also schön ...! Dann kommen Sie mit nach vorne! Jetzt wird's ernst!«

Vorn, ganz vorn, in der äußersten vorgeschobenen Stellung, in der man den Atem anhielt und den Russen förmlich zu riechen glaubte, der drüben auf dem anderen Flußufer saß. Nichts rührte sich. Auch das Geböller und Gepolter im Nachbarabschnitt hatte aufgehört. Es klang sonderbar im leeren Raum, als der General unterdrückt hustete. Er holte einen dicken Stoß Zeitungen und einen ebensolchen Pack Zigarren heraus, die er in seinen Manteltaschen mitgebracht, und gab sie den Leuten und zündete sich selber eine Zigarre an.

»Nett habt ihr's hier, Kinderchen,« sagte er. »Na – was machen Sie denn da für Kunststücke, lieber Roland?«

Vor ihnen verlor sich ein Laufgraben nach vorn, flachte sich allmählich in einer gekrümmten Linie ab. Man mußte sich immer tiefer ducken, wenn man ihn entlang schlich. Der Hauptmann von Roland hatte sich nicht genügend gebückt. Sein grauer Mützenrand hatte einen halben Finger breit über die Brustwehr hinausgeragt. Fast im selben Augenblick spritzte hart daneben der Schnee in losen Brocken auseinander. Eine Beule in dem heruntergeklappten Schutzschild klirrte. Der Hauptmann ging schleunigst tiefer in Kniebeuge und kam so zurück. Von drüben wehte über den Fluß ein schwacher Knall.

»Die Brüder schießen gar nicht so schlecht!«

»Das sind die sibirischen Eichhornjäger!«

»Und dann haben sie noch englische Aufsatzspiegel am Gewehr!«

»Sie sehen, Baron Kerkhuß: Hier ist die Welt mit Brettern zugeschlagen!«

Waldemar Kerkhuß dachte sich: Sibirien hier zwischen mir und der Heimat, Sibirien vielleicht auch dort statt der Heimat, wenn sie mich entdecken!

»Aber wie denn?« sagte er. »Wozu dem Russen den Jefallen tun und ihm in den Rachen laufen? Man wird weiter bis zu den jroßen Sümpfen jehn müssen, die sich an diese Stellung hier anschließen. Kein Mensch kann sie betreten, weder Sie noch die Russen. Das Eis hält nicht mehr. Wir haben Anfang März neuen Stils. Man bricht um diese Zeit schon in den Mooren ein und erstickt ...«

»Und Sie wollen trotzdem ...«

»Wie sollte ich nicht? Ich bin im Sumpf zu Hause. Wir jingen schon als Jungen, wenn es fror, und jagten auf den Elentierfährten. Ich fühle es im Jeiste, ob das Moor unter mir trägt oder nicht. Ich brauche nur diesen Letten Lackat, der mich führt.«

Sie gingen eine Strecke zurück. In einem winzigen Waldhaus mit ausgebranntem Dach war der Bataillonsstand. Neben dem noch bewohnbaren Raum zur ebenen Erde ein eingegrabener und überdeckter Unterstand für den Fall der Not.

»Da ist ja ein Unteroffizier mit einem Eingeborenen!«

Ein langer, finsterer, entschlossener Mann stand da im umgedrehten Schafpelz und hohen Schnürstiefeln. Er hielt die Pelzmütze in der Hand. Sein grobes Gesicht war hart, aber dabei verschlagen. Waldemar Kerkhuß sprach halblaut mit ihm und sagte dann ebenso zu dem General:

»Ich jlaube, es ist ein Halbdeutscher. Ich habe einen Blick für diese Leute. Ich werde mich ihm anvertrauen. Wir schleichen, wenn es dunkel wird, dort seitwärts in das Dickicht und zum Fluß ...«

»Nun denn, Gott befohlen!«

Der folgende Tag war ebenso kalt und sonnig. Wer nicht wußte, daß Riga im Krieg war, der hätte es in der mächtigen Ostseestadt nur an dem dumpfen, Winterlichen Gewittergrollen in der Ferne, den Massen von felbbraunen Mänteln, spitzen schwarzen Pelzmützen, blauen Uniformen der Kronsschiffe und an dem Fehlen aller deutschen Laute auf der Straße gemerkt. Der Krieg durchfieberte das hastende Hafentreiben zu beiden Seiten der breiten Fläche der Düna. Wie sonst wimmelten die Menschen aus der Sünderstraße über die Pontonbrücke, rollten die Züge hoch über dem Fluß hinüber zur Mitauer Vorstadt, wirrte es zwischen dem Rathaus und den Mastspitzen am Markt.

Eine Gruppe junger russischer Offiziere der Kronstadter Flottenequipage ging da auf dem Rückweg zum Bahnhof nach Dünamünde und Hafendamm. Sie schlenderten die breiten Anlagen hinauf. Hier war ein weltläufiger, russischer Verkehr, Damen nach neuester Mode und mit Pariser Hüten, Kronsbeamte im Zivilstaatskleid des Tschin, Uniformen des Zarenheeres und der Flotte in Menge. Plötzlich blieb der eine, noch ganz junge, hellblonde Marineoffizier stehen. Der neben ihm frug ihn auf russisch:

»Was hast du, Michael Konstantinowitsch?«

»Siehst du den Linienoffizier da mit umgehängtem Mantel, der drüben geht – da gerade an den Bettlern vorbei?«

»Der Verwundete, der ein wenig das Bein nachzieht? ...«

»Ja! Er!«

»Nun, Gott mit ihm! Was soll's?«

»Wenn ich nicht wüßte, daß mein Bruder Waldemar niemals gedient hat und daß er längst drüben bei den Deutschen ist, so würde ich schwören, daß er es war!«

»Schaut doch: Kerkhuß sieht Gespenster!«

»Komm, Michael: da ist der Tuckumer Bahnhof!«

Aber der junge Baron Michael Kerkhuß machte sich von dem untergehakten Arm frei.

»Ich muß doch sehen ...,« sagte er und eilte quer über die Straße, blieb stehen, schüttelte den Kopf, kehrte zurück.

»Zu merkwürdig! Ich sah ihn noch einmal in der Entfernung und er mich, scheint mir, auch, als er sich zufällig umdrehte!«

»Und dann?«

»Er winkte an der Ecke des Thronfolger-Boulevards einem Fuhrmann, stieg ein und fuhr davon!«

»Lasse ihn fahren! Dein Köpfchen brummt dir noch von unserem letzten Gespräch mit den Deutschen draußen in der Bucht!«

»Taub mag man von dem Kanonendonner werden, aber doch nicht blind!« sagte, auf die Uhr sehend, der junge, russische Marineoffizier. »Doch natürlich habe ich mich getäuscht! Wie käme Waldemar hierher! Nun – es ist Zeit, daß wir wieder auf unsere Schiffe kommen!«

Draußen, auf der Ostsee, war noch grauer, in Sturmstößen brüllender Winter. Aber die Eisschollen, die, wild übereinandergetürmt, einen unabsehbaren Gletscherwall längs des baltischen Strandes bildeten, waren schon von Seewasser und milderer Luft zernagt, die Stunden wurden länger, an denen das Tageslicht über die endlos wandernden Wellen schien. Über das Land hin, über Haide und Weide, Wald und Feld und Bruch wehte das erste nordische Frühlingsahnen, die Märzstimmung der Schneeschmelze, der strömenden Dächer und schwimmenden Straßen in den Städten, des ersten braunen Bodens auf dem Lande. Das russische Erwachen aus dem Winterschlaf in dem ungeheuren Reich der hundert Völker und der hundert Sprachen.

Kirgisisch und Kalmückisch, Burjätisch und Tatarisch, Sartisch und Tscherkessisch konnte man in der Völkerwanderung hören, die immer noch längs der Ostseeprovinzen gen Westen strömte, aber, mit Ausnahme der vielen deutschen Fremdwörter in der russischen Sprache, keinen deutschen Laut. Der Dorpater Hochschullehrer Professor von Silverharnisch, der an einem dieser milden Abende des Frühlings 1916 im Begriff war, vom Schloßberg zur Stadt hinabzusteigen, hatte drüben, in den Anbauten der Hochschule an die malerischen Trümmer des seit Jahrhunderten niedergebrannten Doms und in der Universitätsbibliothek im Innern der Ruine, nur Russisch gesprochen. Aber seiner hohen, schon lange ergrauten Erscheinung sah man das alte deutsche Blut der Ostseeprovinzen an. Das war nicht jener träumerische Steppenzug auf slawischen Gesichtern, sondern geistesstarke, in den Willen zur Erkenntnis umgesetzte deutsche Tatkraft eines nordischen Pioniers deutscher Wissenschaft, eines der letzten, die noch ungebeugt trotz Verrussung und Verfolgung, trotz Heiligsten Synods und Petersburger Tschins den hundertjährigen Geist der deutschen Hochschule in baltischen Landen in sich bewahrten, aus sich atmeten, selbst in der fremden Sprache, in der sie lehren mußten, noch um sich verbreiteten.

Der Dorpater Professor stand in den verschneiten Parkanlagen des Schloßbergs und sah auf das nordische Heidelberg hinab. Die kleine Musenstadt lag friedlich mit ihren niederen Dächern in das Hügelland gebettet. Der Embach führte zwischen ihr seine von der Schneeschmelze geschwellten Wellen zum nahen, weiten, stillen Sumpfmeer des Peipussees. In der Luft war ein ungestümes Rauschen und Brausen der Windstöße. Die Wolken flogen am Himmel. In diesem Sturm um die Ohren hörte Professor von Silverharnisch hinter sich die Stimmen zweier vorübergehender russischer, uniformierter Studenten, östliche Gestalten, aus einer der slawischen Hochschulen im Innern des Reiches oder der notdürftigen Viertelsbildung eines orthodoxen Klosterseminars entsprungen. War doch schon vor dem Krieg die Zahl der deutschen Studenten der Jurjew genannten Universität auf wenige Hundert gesunken, die der Russen, Polen und Hebräer auf beinahe zweitausend gestiegen.

»Hast du Nachrichten?«

»Ich habe. Da sind nicht nur Brotunruhen in Petrograd! Tausende kämpfen vor den Mehlmagazinen des Alexander-Newski-Klosters. Der Polizeimeister und die Kosaken sind zurückgeschlagen ...«

»Wie mag es in Moskau sein?«

»Wie soll es aussehn: Die Stadt ist beinahe dunkel. Kein Licht. Keine Kohlen. Kein Brot. Aber nicht das ist es! Es ist mehr, was jetzt geschieht!«

Während der Professor zur Stadt hinabstieg, klangen in seinem Ohr diese halblauten Worte einiger beliebiger junger Russen nach, gleich dem letzten, schwachen Widerhall eines ungeheuren Erdbebens, das durch ganz Rußland, von den Urwäldern am Stillen Weltmeer und den Baumwollfeldern Zentralasiens bis zu den Palästen an der Newa, den goldenen Kuppeln auf dem Kreml zitterte. Es war wie ein ferner, unterirdischer Donner, der langsam näher rollte. Da wieder: zwei russische Offiziere. Die feldbraunen Pelzmäntel um die Schultern gehängt, die Papyrossen schief im Mund, stiegen sie atemlos auf halber Höhe des Schloßbergs an dem Gelehrten vorbei aufwärts.

»Und der Zar? Wo ist er?«

»Er soll abgereist sein ... nach Pskow ... irgendwohin ...«

»Zu den Truppen?«

»Ich weiß nicht ...«

Dies allrussische, alltägliche, ergebungsvolle: Ich weiß nicht ... Und ein Unterton: Es ist ja auch gleich, wo der gekrönte, eigensinnige Schwächling weilt, um den herum eine asiatische Palastrevolution der anderen folgt, ein Ministerium das zweite stürzt, der am Morgen ernannte Feldherr am Abend schon wieder seine Entlassung durch den Fernsprecher vernimmt. Mag er inmitten seines letzten Stabes kaukasischer Garden nicht weit von hier, da unten am Südufer des Peipussees sitzen, der schattenhafte Purpurträger, auf den die Großfürsten einhadern, dem Mißvergnügte den Günstling, den Wundertäter und Weiberhelden beinahe unter seinen Augen ermorden, der, zitternd wie der Tisch, an dem er rückt, ein paar Seelen aus dem Jenseits beschwört, während er zugleich viele Millionen von Menschen in das Jenseits sendet. Er wird Rußland nicht retten. Es rollt eine Woge heran. Ihr Schaumkamm reicht bis zum Himmel. Ihr Brüllen übertönt selbst den Donner der Geschütze. Die Geister kommen, die du gerufen. Die unsichtbare Welt wird offenbar. In Asien und Europa wankt das Rußland des hellen Tages. Das unterirdische Rußland steigt empor ...

Unten in der Stadt traf der Professor einen Freund. Einen Deutschen. Einen Petersburger Akademiker. Sie reichten sich hastig die Hand, traten in einen Hausflur, sahen sich um. Sie sprachen auch jetzt noch Russisch.

»Kommst du aus Petrograd?«

»Vorgestern verließ ich es.«

»Was ist ...?«

»Es ist wie der Eisgang auf der Newa. Alles setzt sich allmählich in Bewegung. Alles löst sich los, wird frei. Warum es gerade jetzt kommt ... Du kannst es so wenig vorher wissen wie beim Eisgang, ehe der Kanonenschuß das Zeichen zur Wasserweihe gibt.«

»Schießt man schon?«

»Man schießt. Die Preobraschenzen tragen rote Bänder an den Gewehren! Das Moskauer Stadthaupt erklärt sich öffentlich für den Aufruhr ...«

»Also ganz Rußland ...?«

»Rußland!«

»Weißt du, was das heißt?«

»Niemand kann es ermessen. Es wird da etwas wach ... Nein ... es stürzt da alles ... Alles gibt auf einmal nach ... alle Mauern wanken ... Man sieht es und wagt es nicht zu glauben! Othmar: sollte das das Ende sein?«

»Wenn es das Ende ist, dann ist es der Anfang!« sagte der Gelehrte.

Er betrat seine Wohnung in der Ritterstraße. Auch hier schwirrte es von Gerüchten, als habe man in der hereinbrechenden Dunkelheit Fledermäuse aufgestört. Das Haus, die Stadt waren davon voll. Frau und Töchter berichteten in flüsterndem Deutsch: Ein Ultimatum Petersburgs an den Zaren. Als einzige Antwort ein Ukas an den Minister: Jage die Volksvertreter auseinander! ...

»Wer sagt es?«

»Die russischen Offiziere erzählen es überall.«

Der Diener, ein stiller Herrnhuter, trat heran:

»Ein russischer Offizier sitzt seit zwei Stunden im Studierzimmer und wartet.«

»Was will er?«

»Er sagte es nicht.«

»Kennst du ihn?«

»Nein. Er sprach Deutsch!«

»Deutsch? In Uniform?«

»Ja. Wahres Deutsch!«

Der Dorpater Professor schüttelte den Kopf und trat ein. In dem Zwielicht erhob sich aus dem Sessel am Fenster die Gestalt eines jungen blonden Mannes in feldbraunem Mantel und hohen Stiefeln. Die schwarze Lammfellmütze lag daneben am Boden. Er reichte dem Hausherrn die Hand und sagte, so als ob sich das von selbst verstände:

»Nun – da sind Sie! Ich habe Ihre Stimme draußen jehört. Ich wollte Sie auf der Durchreise besuchen!«

»Lassen Sie doch einmal schauen... Drehn Sie sich jefälligst zum Licht! ... Herrjott ja: Kerkhuß! ... Sind Sie das wirklich?«

»Nun ja doch! Jewiß!«

»In russischer Uniform?«

»Man fährt bequemer! Es ist alljemeine Verwirrung. Niemand fragt mehr auf den Bahnhöfen, woher man kommt, wohin man jeht. Übrijens habe ich auch Papiere.«

»Sie dienen in der russischen Armee?«

»Ich? Erbarmen Sie sich! Unter den Mongolen? Ich jehöre nicht nach Asien! Ich käme nur auf dem Weg nach Sibirien hin!«

»Nun eben... Jeder hier im Lande weiß doch: Sie sind jeächtet!... Man hat Sie verurteilt...«

»Deswejen zog ich ja dies Jewand des Zaren an, als ich jlücklich durch die deutschen Linien war!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Es war da alles vorbereitet. Ein Lette half mir, ein fixer Kerl. Selbst mein lahmes Bein hilft mir. Die Damen machen mir auf der Straße Platz: Ehre dem Verwundeten! Nun ... so führte mich Gott bis hierher!«

»Und nun?«

»Nun – man wird sehen! ... Sobald ich das esthnische Sprachjebiet erreicht habe, jibt es einen Esthen mehr im Lande. Als ich klein war, mahnte meine Mutter oft: Junge ... spiele nicht immer mit den Kutscherkindern! Du wirst noch Läuse kriejen!! Und später: Lieje nicht ewig mit dem Jäger im Walde herum! ... Wie sehen deine Hosen aus! Ich werde dich die alten aus Elenhaut vom Urjroßvater anziehn lassen! ... Nun ist es jut, daß ich mit den Esthen zu denken und zu reden vermag.«

»Aber was wollen Sie tun?«

Waldemar Kerkhuß saß schon ganz in dem Dunkel, das er suchte. Nur der Lichtpunkt seiner Papyros blinkte durch das Zimmer.

»Man muß nicht nur die Deutschen vorbereiten, daß Deutschland kommt ...,« sagte er. »Auch die Esthen. Dies Volk schläft. Sein Gott liegt unter dem Dom zu Reval bejraben. Das ist der Sinn der Sage, daß dieser Kalewapoeg einmal aufwacht. Er, war schon einmal nahe daran, jejen uns, im Aufstand vor zehn Jahren ...«

»Sie wurden damals schon totgesagt, als Sie allein hundert Bauern entjejenritten!«

»Die Leute jingen heim, als ich mit ihnen jütlich sprach! Sie sagten: Der Kerreküllsche Baron, der junge, will es! Ich war damals wenig über Zwanzig. Wir müssen den schlafenden Esthen unter unserem Ritterdom aufwecken, nicht jejen uns, sondern mit uns! Für uns! Daß wir das nicht taten, wie es die Ordensbrüder in Preußen taten, das ist der jroße Fehler der Verjangenheit! Wir hießen die Schwertbrüder. Wir trugen das rote Schwert und Stern auf weißem Mantel. Wir waren durch Jahrhunderte die Herren. Es jenügte uns, mit dem Schwert zu erobern und mit dem Jus Lubecense zu rejieren! In dieser Weltanschauung bin ich noch aufjewachsen. Man ist ja das Jeschöpf seiner Ahnen. Man lebte mit den Toten. Sie hatten jejen die Lebenden recht.«

»Die Zeiten sind vorbei.«

»Das ist es!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Und darum trieb es mich jetzt zu Ihnen. Ich habe zu Ihren Füßen im Hörsaal in Dorpat jesessen. Sie sind einer der wenigen lebenden Menschen, die meinen hochmütijen Jeist beeinflußt haben. Sie haben mir den ersten Blick in die deutsche Weite jejeben. Ich war durch Sie ein Deutscher, ehe ich es wußte ... Übrijens: Seien Sie unbesorjt. Noch ahnt kein Russe, daß ich im Lande bin.«

Der Professor erwiderte nichts. Aber er zog doch der Vorsicht halber die Vorhänge vor. Dann wurde das Zimmer hell von Licht. Waldemar Kerkhuß fuhr fort:

»Was ich Ihnen damit verdanke, habe ich erst später jemerkt! Ich war vor dem Krieg in Amerika! Ich jing im Krieg wie ein Jeisterseher durch Europa! Ich war überall. Ich sah die Menschen hüben und drüben. Ich habe bejriffen, daß dies Morden der Körper ein Kampf um die Seelen der Menschen ist!«

»Alles Jroße ist schließlich immer nur ein Kampf um die Seele!«

»... Niemals hat der Russe eine Seele jewonnen! Das kann er nicht! Er legte nur seine Tatze auf uns wie auf alle Randvölker von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Er bedrückte unsere wache Seele und ebenso die schlafende esthnische. Die beiden waren durch Jahrhunderte jetrennt. Wir hielten uns hochmütig fern, statt deutschen Jeist in die Nacht um uns zu senden. Wir müssen es nachholen. Vielleicht waren wir zu schwach an Zahl. Jetzt wird eine deutsche Welle kommen und uns helfen. Deutsch und Undeutsch müssen künftig Schulter an Schulter nebeneinanderstehen auf Vorposten jejen Osten.«

Waldemar Kerkhuß lachte und zündete sich eine neue Zigarette an:

»Ich möchte, wenn ich das ausspreche, nicht in der Ahnenjruft in Kerreküll sein! Verschiedene meiner Vorfahren drehen sich da augenblicklich jedenfalls im Jrabe herum. Ich kann ihnen nicht helfen. Diese Zeit wäscht zu viel mit ihrem blutigen Schwamm ab. Als ich ein junger Mensch war, saß ich tagelang, den Kopf in den Händen, und las in der Familienchronik. Aber vorläufig habe ich das Buch zujeklappt. Es ist in ihm nicht mehr alles zeitjemäß!«

»Was an ihm gut ist, haben Sie in sich!« sagte der Professor von Silverharnisch, »... wenn es der rechte Weg ist, daß Sie, ein einzelner, falls ich Sie janz verstehe, wie ein David jejen den Joliath, in Ihrer Heimat den Kampf jejen Rußland aufnehmen wollen ...«

»Wie sollte ich nicht – jetzt, wo es auf den Sommer zujeht? ... Im Winter kann man unsere Häuser, die Jesinde und die Krüge durchsuchen, die Ställe, selbst mit der Jabel in den Mist stechen. Aber wie will man im Sommer jemanden bei uns im Birkensumpf finden? ... Ich jlaube nicht, daß mich die Russen je in ihre Jewalt bekommen! Und wenn – nun, man kämpft. Man stirbt. Das wäre doch jetzt meine Aufjabe als Edelmann, wenn ich nicht das störende lahme Bein hätte!«

Auf einmal wurde der blonde junge Mann im russischen Offiziersmantel erregt. Er sprang auf. Er trat auf den andern zu.

»Nur das eine möchte ich von Ihnen wissen, ob mich diese janze Hoffnung, auf die ich alles, was ich bin und habe, jebaut habe, nicht trügt! Wenn ich jetzt in meinem Feldbraun unentdeckt zwischen den Moskowitern saß, wenn ich dies Asien auf dem Marsch um mich sah, wenn ich ihre Jesichter bis in den Hindukusch hinein sah, ihre Jespräche aus zwei Weltteilen hörte ...«

»... nun ...«

»... manchmal kam mir doch der Kleinmut: Kann man eine solche Sintflut überhaupt bannen? Wenn man die Russen da vorn zu Millionen jefangenimmt und totschießt, sind da nicht längst schon wieder neue Millionen unterwegs? Wimmelt es nicht immer wieder aus dem halben Asien heran, kribbelt es nicht in janz Europa vom Ural bis Polen? ... Kommt nicht am Ende doch wieder die jroße russische Nacht?«

Waldemar Kerkhuß hatte sich in den Sessel am Fenster geworfen und sah durch den Seitenspalt im Vorhang in das Dunkel hinaus. Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter. Der Dorpater Professor stand neben ihm.

»Wenn Sie an den Kampf um die Seelen jlauben,« sagte er, »dann müssen Sie auch an die Jesetze jlauben, die über dieser Jeisterschlacht schweben! Diese Jesetze erfüllen sich nach einem höheren Willen. Die Schöpfung jreift immer zur rechten Zeit ein. Sie hat immer im letzten Augenblick Europa vor Asien bewahrt! Alle Hunnenstürme sind schließlich am Westen zerschellt, von Attila bis zum Jroßfürsten Nikolai! Deutschland hat immer diese Stürme aufjefangen, von Heinrich dem Städtebauer bis zu Hindenburg. Deutschland wird auch dieses Mal das Werk vollenden, das es bejonnen hat ... Deutschland wird nach dem Osten kommen! Denn für Deutschland kommt das Licht aus dem Osten!«

Waldemar Kerkhuß drückte dem Älteren die Hand.

»Ich danke Ihnen!« sagte er. »Sie haben mich jestärkt. Ihr Jlaube hat auch mir jeholfen. Ich bin wieder der alte! Nun mit Gott! Ich habe Sie jesehen. Ich muß nun weiter!«

Er wollte zur Tür. Rufe hallten draußen in der dunklen Nacht. Laute Stimmen auf den Straßen. In Lettisch. In Esthnisch. In aufgeregtem Russisch. Der Professor löschte das Licht, so daß man von außen seinen Besucher nicht sah. Dann riß er ein Fenster auf. Kalte Märzluft strömte herein. Mit ihr von unten ein Gespräch in raschem Vorbeigehen.

»Auf dem Weg nach Pskow?«

»Ja doch. In Bologoje!«

»Alle Minister sind gefangengesetzt!«

Der Professor beugte sich aus dem Fenster vor. Er hörte aus dem Dunkel der Straße gegenüber hastiges, gedämpftes Russisch:

»Zehntausende stehen in Petrograd vor dem Taurischen Palast!«

»Vor der englischen Botschaft singt man die englische Nationalhymne!«

Dunkle Uniformen blinkten auf. Studenten kamen im Laufschritt vorbei. Slawische Gesichter. Ihre Augen flackerten. Ihr Atem rauchte zwischen den offenen Lippen. Sie erkannten den Professor oben. Sie hörten seine Frage:

»Was geschah in Petrograd?«

»Nicht in Petrograd! In Rußland!«

»Rußland ist frei!«

»Was heißt das?«

»Der Bürger Nikolai Romanow hat abgedankt!«

»Es gibt keinen Zaren mehr!«

»Es wird nie wieder einen geben!«

Die Studenten rannten weiter. Offiziere rasselten in kleinen Einspännern vorbei. Baltische Landarbeiter zogen im Trupp mitten auf der Straße. An der Schirmmütze des Vordersten flatterte etwas, was man seit dem blutigen Sonntag vor einem Jahrzehnt in Petersburg und dem Aufruhr hinterher nicht mehr gesehen – ein Fetzchen rotes Tuch.

Der baltische Professor wandte sich zu seinem Besucher zurück. Auf seinem Antlitz lag der Ernst der Schicksalsstunde.

»Die Zeit erfüllt sich!« sagte er. »Der Osten stürzt ein. Die Welt wird neu.«


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