Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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XII.

Am Royal Pier von Southampton lag ein aus Südamerika eingelaufener Dampfer des »Norddeutschen Lloyd« vertaut, bereit, in wenigen Stunden die Heimfahrt nach Bremen fortzusetzen. Am Lande, auf dem Kai neben dem Schiffsriesen, war an diesem trüben Winternachmittag des Januars 1896 das gewohnte Ameisengewimmel über die Laufplanken hin und her, das Rasseln des Dampfkrans, Koffergeschleppe. Unter der schwarzen Menschenmenge, die am Ufer stand, blinkten weiße Flecke auf. Wuchsen reißend zu Hunderten. Leuchteten nun auch schon überall auf den Verdecken des Steamers. Die Londoner Zeitungen waren gekommen. Man riß sie den von der Eisenbahnstation heranstürmenden Jungen aus den Händen. Man steckte die Köpfe zusammen. Auf den Gesichtern malte sich maßlose, stirnrunzelnde Verblüffung. Ungläubiges, entrüstetes Geraune über den auseinandergefalteten Blättern. Die Zeitungsverkäufer brachten im Laufschritt immer neue Ladungen und wurden sie los wie die warmen Semmeln. Sie rannten atemlos, schreiend den Hafen entlang, eine Nummer ihres Blattes vorn am Leib befestigt, so daß man schon von weitem die fettgedruckten Alarmüberschriften lesen konnte:

»Glückwunschdepesche aus Berlin an den Präsidenten Krüger!«

»Glückwünsche zur Gefangennahme Mr. Jamesons durch die Buren!«

»Pro-Buren in Potsdam!«

»Deutschland auf Seite der Buren gegen das britische Reich!«

Oben an Bord des Dampfers stand eine besorgte Gruppe deutscher Auslandkaufleute. Daneben, von ihnen mit Ehrerbietung behandelt, ein wohlbeleibter Herr zu Mitte der Fünfzig, in dickem Schiffsmantel und Reisemütze, das funkelnde Einglas in dem gönnerhaft schneidigen Gesicht mit der zu kleinen Nase und den zu kleinen Augen und den feinschmeckerigen Lippen. Dr. Alfons von Spängler-Colosimo war gealtert während der fünf Jahre im Reichsdienst über See, aus dem er jetzt nach Deutschland zurückkehrte. Das Schnurrbärtchen und die letzten Haare an den Schlafen schimmerten grau. Eigentlich stand ihm das Alter nicht übel. Es gab seiner äußeren Rundung eine gewisse, durch seine vergnügliche Beweglichkeit gemilderte Würde. Auch er hielt eine Zeitungsnummer in der Hand. Er sagte nichts, sondern schwieg diplomatisch. Aber er schaute verzweifelt zum Himmel, während die schrillem Kinderstimmen unten ihre Zeitungen ausschrien.

»Der Eindruck in Indien!«

»Die Stimmung in Australien!«

»Neu-Seeland unruhig! ...«

»Kanada fragt: Was beabsichtigt Deutschland?«

»Was Japan sagt ...«

Der halbe Erdkreis schien in den gellen Rufen mitzuzittern. Herr von Spängler warf wieder einen Blick nach oben und murmelte für sich: »Gerechter Strohsack! Ist so was denn menschenmöglich?« Und dann laut zu seinem herangetretenen Kammerdiener: »Packen Sie sofort für drei Tage London! Evening dreß! Keine Ridingbreeches und Topboots!«

»Exzellenz wollen an Land?«

»Ja. Ich habe mich plötzlich entschlossen. Ich muß mich von Ihnen verabschieden, meine Herren«, sagte Dr. von Spängler leutselig. Vorhin kam die Mail an Bord! Ein Brief darunter, der mich zu einem Zusammentreffen mit einem alten Freund am Grosvenor Square ruft.«

Die Gesichter der Auslanddeutschen um ihn schienen ungläubig.

»Und das Telegramm an Ohm Krüger, Exzellenz?«

»Mußten mir denn in dieses Wespennest stechen?«

»Wir kriegen ja Krach mit der ganzen britischen Welt!«

»Ruhe, Ruhe, meine Herren! Es wird schon seine Gründe haben! ... Die Geschichte klärt sich über kurz oder lang! Ich kann Ihnen natürlich auch nicht alles sagen, was ich weiß ...«

In Wirklichkeit wußte Herr von Spängler nichts. Er wahrte nur das Gesicht des Metiers. Er beschwichtigte pflichtgemäß den beschränkten Untertanenverstand. Aber schon während er die Treppe zu den Kabinen hinabstieg, verfinsterte sich das Lächeln majestätischen Wohlwollens auf seinen Zügen zu einem sarkastischen Hohn, und als er in sein Kojenzimmer eintrat, war sein blasiertes, weltfrohes Antlitz rot vor Ärger.

»Du ... Thilde ...«

Seine Frau saß am Tisch und schrieb. Das trübe Winterlicht vergoldete durch das kleine Fenster von oben ihr reich gewelltes, kupferbraunes Haar und gab dem Schattenriß ihres ernst über das Papier gebeugten Hauptes die strengen Linien eines klassischen Profils. Er blieb stehen und bewunderte im stillen die weiße Wölbung ihres Nackens. Sie wandte sich nicht zu ihm um Er fragte gereizt: »Was machst denn du da?«

»Du siehst es ja: Ich schreibe!«

»Muß das jetzt gerade sein?«

»Die ganze letzte Woche konnte man doch bei dem ewigen Geschunkel nicht schreiben. Nun liegt der Kasten gottlob einmal ein paar Stunden still.«

Es war über ihnen ein solches Getrampel an Deck, daß er beinahe schreien mußte. »Klothilde ...« Sie schlug eine Seite ihres Briefes um und fing eine neue an.

»Du mußt jetzt aufhören, Klothilde, und dich und den Jungen fertigmachen!«

Die junge Frau schrieb ruhig weiter.

»Wir müssen gleich an Land.«

»Wir sind doch noch nicht in Bremen, Alfons!«

»Nein. Aber es ist eben eine tolle Geschichte passiert... ein Telegramm aus Berlin ... England steht Kopf ... ich stände am liebsten mit!... Ich muß sehen, was man in London im Klub-Land dazu sagt!«

Die Feder glitt eilig auf dem Papier. Herr von Spängler stampfte mit dem Fuß. »Jetzt aber bitte vorwärts! Der Dampfer wartet nicht!«

Nun hörte sie zu schreiben auf und schaute ihn gelassen an, den Federhalter noch in der schmalen, nervösen Hand.

»Ja – dann geh eben an Land. Alfons!«

»Und ihr natürlich mit – du und der Junge! Sieh, wo die Anna steckt, daß sie ihn fix ankleidet!«

»Fahre nur allein nach London, Alfons.«

Herr von Spängler zog ungeduldig die Augenbrauen hoch. Die gereizten Falten verliefen sich bis in die Elfenbeinkugel der Glatze.

»Klothilde: Der Trip nach London ist keine plötzliche Kateridee von mir! Ich bin zufällig in der Nähe! Ich muß das Unheil, das angerichtet ist, an Ort und Stelle sehen ...«

»Ich halte dich ja nicht!«

»Aber es ist selbstverständlich, daß eine Frau ihren Mann begleitet!«

»Warum? Ich bin hier am Bord glänzend aufgehoben.«

»Klothilde ...«

»Mir und dem Jungen passiert nichts auf der kurzen Fahrt durch die Nordsee! Da kannst du unbesorgt sein!«

»Aber ich wünsche, daß du mit mir kommst!«

»Und ich wünsche endlich heim! Ich will nach Deutschland. Ich zähle die Stunden, bis ich in Bremen bin!«

»... und da sollen wir auf diese Art getrennt in Deutschland ankommen?«

Klothilde von Spängler blickte ihrem Mann mit einer sonderbaren Ruhe in das ältliche, von vernarbten Göttinger Schmissen durchzogene, von blühendem Selbstbewußtsein gesättigte Gesicht.

»Das wäre ja ganz gut!« sagte sie.

Auf den gerundeten Backen drüben verschwand die Röte zugleich mit dem bandlosen Einglas, das stracks wie eine reife Pflaume aus der Stirnwölbung in die Hohlhand und von da in die Westentasche fiel. Dr. von Spängler wurde blaß. Er stand verblüfft. Es war ihm unheimlich zumut unter dem Blick, mit dem ihn die strahlende Jugend drüben musterte.

»Und was sollen die Leute denken, wenn du plötzlich ohne mich angesegelt kommst?«

»Ach, mein Lieber: Die Leute denken und reden über uns schon mehr als genug. Und nicht erst seit heute!«

»Gerade deswegen ...«

»Die wundern sich höchstens, daß es bisher immer noch zwischen uns in den letzten Jahren so weit mit Ach und Krach gegangen ist ...«

»Sie sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern!«

»... weil sie nicht wissen, wie schwer es ist, etwas daran zu ändern, solange man fern da draußen in der Fremde sitzt.«

»Es hat sich nichts zu ändern ... zum Kuckuck –.«

»Aber jetzt, wenn man endlich heimkommt ... Anna ... lassen Sie das nur mit dem Koffer ... Es ist nicht nötig zu packen! Ich fahre nach Bremerhaven weiter!«

Die eingetretene Jungfer entfernte sich wieder. Herr von Spängler rang nach Luft.

»Ich mache meine Fahrt nach London nicht rückgängig, Klothilde! Das sag ich dir gleich!«

»Das verlangt ja auch kein Mensch von dir, Alfons!«

»Ich hab es auch schon den Herren oben erzählt...«

»Ich finde es ja auch sehr richtig ...«

»... daß wir uns trennen?«

Die Wimpern auf der weißen Stirn drüben waren dicht und dunkel. Sie überschatteten die hellen, braunen Augen. In denen lag eine seltsame Kaltblütigkeit. Es war, als sprächen diese Augen und nicht die Lippen das ruhige: »Ja.«

»Ich meine, daß wir uns zeitweise ... hier ... trennen ... und uns dann in Deutschland wieder ...«

»Darüber können wir ja in Deutschland weiter reden, Alfons!«

»Was verstehst du unter Trennung?«

»Ich hab es schon lange vor, das mit dir zu besprechen. Jetzt, hier in der Unruhe, können wir das nicht. Du mußt ja auch gleich an Land!«

Über ihnen brüllte das Nebelhorn das erste Zeichen zur Abfahrt. Er sah auf die Uhr.

»Glaube ja nicht, daß ich im letzten Augenblick nachgebe«, sagte er unsicher.

»Das sollst du ja auch gar nicht!«

Er war schon halb entschlossen, zu bleiben.

»Ich fahre nach London, hast du verstanden?«

»Ich sage dir ja: Ich bin dir dankbar, wenn sich alles auf diese Weise von selber einleitet!«

Ihre Sanftmut jagte ihm eine Gänsehaut über den Leib. Er wurde vor Schreck zornig. Ich verbitte mir die Faxen! Hörst du?«

»Alfons: Alle diese Sachen haben wir uns schon bis zur Ermüdung hundertmal in soundso viel Szenen, seit wir verheiratet sind, gesagt!«

»Eben! Beinahe ein Jahrzehnt sind wir mit Gottes Hilfe Mann und Frau. Das sind alles bei dir nur Launen! Ich nehme das nicht ernst! Ich lasse mich nicht unterducken!«

»Schrei doch nicht so! Es klopft!«

»Exzellenz! Es ist hohe Zeit!«

Herr von Spängler warf dem Diener wild die vergessene Plaidrolle nach. Er lief in die Kabine nebenan an das Bett seines Söhnchens, das friedlich in all dem Schiffslärm schlief, kam wieder, rief seiner Frau etwas zu. Sie verstand es in dem erneuten Heulen der Sirene oben nicht. Sie sah nur auf seinen Lippen die gekränkte und zornige Gottähnlichkeit: Mich läßt man doch nicht unterwegs auf der Reise stehen wie einen Regenschirm! Warte nur, wenn mir erst in Deutschland sind! Sie wollte sich erheben und ihm die Hand reichen. Aber die Kabinentür fiel schon zu. Er war weg. Draußen gab die Dampfpfeife das dritte Zeichen, und vom Towerkai trompeteten die Knabenkehlen den Alarmruf der Erde: »Das Krügertelegramm! ... Was die Vereinigten Staaten dazu sagen!«

Und ebenso gellte es in London, als Herr von Spängler mißmutig und erregt auf der Charing-Croß-Station ausstieg, durch den abendlichen Trubel.

»Deutschland will die Kontrolle über die Welt!«

Jenseit des Trafalgarplatzes, im Westen der Weltstadt, war vornehme Ruhe. Leuchteten die Klubpaläste in das Dunkel von Piccadilly und Pall-Mall und St. James Street. In jedem großen Saal im Innern standen Hunderte von Klubsesseln. In jedem Klubsessel knäulte sich eine Gestalt im Frack und weißer Binde. In jeder Hand knisterte noch druckfeucht »Westminster Gazette«, »Star« und »Globe« oder sonst ein Abendblatt. Um die Kaminfeuer herum sahen schwarze Halbkränze von Briten wie die Fliegen um die Zuckerschüssel und rösteten mit langgestreckten Beinen die Sohlen der Lackschuhe an der Glut. Der Warren-Hastings-Klub diente den Zielen des Greater-Britain, des Allbritannien. Männer aller Weltteile waren außer seinen eigenen zweitausend Mitgliedern in seinem Fremdenbuch als Gäste eingeschrieben, kamen und gingen als Zugvogel über See.

»Was ist Deutschland für ein Platz?« fragte der zimtbraune, europäisch gekleidete Sir Rao Sing die weißen Gentlemen seiner Umgebung. Man belehrte seine Hoheit, daß es sich um ein Land handle. Aber nun hielt es der indische Fürst wieder für eine britische Kolonie, die mit einer anderen in Streit geraten. So teilte auch Mr. Roger von der gesetzgebenden Versammlung von Manitoba den Irrtum des Asiaten.

»Das Mutterland sollte schlichten! Die britische Reichskonferenz sollte Deutschland die Selbstverwaltung entziehen!« Der Kanadier war erstaunt, als er hörte, daß Deutschland kein Dominion sei.

»Wahrlich nicht, Mr. Roger!« belehrte der alte Colonel Crabb von der anglo-indischen Armee, der sein ganzes Leben zwischen Bombay und Kalkutta verbracht hatte. »Deutschland ist ein selbständiger Staat. Mindestens so bedeutsam wie Spanien!«

»Liegt es in Rußland, Sir?« fragte Mr. Blandham, der Kapbrite.

»Nein, Sir! In Europa. Ich fuhr selbst einmal vor dreißig Jahren, als ich von Indien kam, den Rhein entlang. Deutschland ist nicht groß. Man durchmißt es in der gleichen Zeit wie Holland!«

»Danke, Colonel!« sprach der Südafrikaner. Neben ihm meinte der junge Mac Dun, noch vor kurzem ein Meisterruderer von Christ-Church in Oxford: »Man muß ein ernstes Wort mit Wien sprechen!«

»Es würde nicht viel helfen, Charley! Wien ist die Hauptstadt Österreichs!«

»Wohl! Österreich ist ein Teil Deutschlands! Es sind die südlichen Grafschaften, ...«

»Ich fürchte sagen zu müssen, daß Sie sich irren!«

Nun mischte sich der schweigsame Mr. Grower hinein.

»Niemand kann mehr Recht haben als Mac Dun! Ich habe diese Gegenden bereist. Ich habe festgestellt, daß man den Kaiser bald in Berlin und bald in Wien sieht. Er bewohnt beide Plätze!«

»Seht da! ... Eben tritt ein deutscher Gentleman ein!«

»Geh zur Hölle!« brummte der alte Colonel.

»Der viel zu dicke Ausländer dort, mit der Glatze und dem Augenglas?«

»Kein anderer! Es ist ein hochpolitischer deutscher Charakter! Ich sah ihn ein paarmal in den letzten Jahren, wenn ich auf einen Sprung nach Südamerika kam. Er hat eine liebliche Frau!«

»Blutiger Cote ...«, knurrte der Kapbrite, gereizt wie eine Bulldogge durch das Krügertelegramm.

»Oh – ich entsinne mich seiner. Er war schon vielfach Gast des Klubs. Hartland führte ihn ein!«

»Leider geht er mit Sir George und seiner Partie in das Nebenzimmer.«

Der Kanadier aus Winnipeg wunderte sich. Er kannte aus den englischen Witzblättern nur zwei Sorten Deutsche: die eine lächerlich, plump, schulmeisterlich verwildert, mit verwahrlostem Vollbart und großer Brille, die andere fürchterlich, menschenfresserähnlich, ein blutdürstiger Kinderschreck mit Knollennase, tierischem Maul, wilden Augen und einem winzigen Helm mit scharfer Spitze auf dem Zottelhaupt. Beides paßte hier nicht. Dieser Baron von Spängler, wie ihn Mac Dun nannte, war zu fett für einen Engländer. Aber sonst konnte er, nach seinem Äußern, für einen beliebigen Gentleman auf der Welt gelten.

Der Baronet Hartland und seine Freunde, mit denen sich Herr von Spängler im Nebengemach am Kamin niederließ, waren Mitglieder des Unterhauses. Er und die Politiker um ihn wußten über deutsche Dinge besser Bescheid als das ahnungslose Stockbritentum draußen. Er sagte: »Nun stillen Sie unsere ängstliche Neugier, Exzellenz: Was ist denn in euch gefahren?«

»Wenn ich es wüßte, Sir George ...«

»Sie erzählten mir einst, als ich die Ehre hatte, mit Ihnen in diesen Räumen ein Glas Wein zu trinken: Sie waren zufällig in Kronstadt anwesend, als dort vor fünf Jahren der Zar und der Präsident Frankreichs sich unter Kanonendonner umarmten und ein Bündnis gegen Deutschland schlossen ...«

»In der Tat: Ich sah es!«

»Ja –in aller Welt: Weil Frankreich und Rußland euch bedrohen, macht ihr euch England zum Feind? Ich suche nach dem Gedankengang, Exzellenz ...«

Ich auch ... dachte sich Herr von Spängler kummervoll.

»Verzeihen Sie meine ernstliche Neugier: Welcher Mann mit heilem Hirn sucht sich selber zu zwei starken Gegnern den dritten? Ich frage nur, um mich zu unterrichten...«

Herr von Spängler schwieg diplomatisch. Aber sein Gesicht sagte genug.

»Und – lassen Sie mich offen sein – wenn ich preisboxen will, so frage ich doch vorher: ›Welche Form bringt der andere Bursche drüben in den Ring?‹ Deutschland besitzt wenige, unbeträchtliche und veraltete Kriegsschiffe. Britannien ist unbeschränkter Herr zur See!«

Einer der Engländer zog die eben über den Kanal gekommene Nummer einer weitverbreiteten Berliner Witzblattes aus der Fracktasche. Ein Bild darin zeigte den siegestrunkenen Indianertanz Berliner Börsenjobber und Freudenmädchen in der nächtlichen Friedrichstraße bei der Nachricht von der Einnahme Londons durch deutsche Truppen. Die Engländer lasen es schweigend und verzogen keine Miene.

»Wäre Ihnen eine Frage unbequem?« erkundigte sich ein älterer Gentleman bei der deutschen Exzellenz. »Glauben Sie, daß Bismarck bei dem Ding die Hand im Spiel hat?«

»Niemand weniger als er!« sagte Herr von Spängler abweisend. »Fürst Bismarck wird seit sechs Jahren in keiner Frage, mag sie groß oder klein sein, zu Rate gezogen! Wir steuern unseren eigenen Kurs!«

»Oh – in der Tat ...«

»Hm ...«

Ein Schweigen.

»Bitte, mischen Sie sich Ihr Soda, Exzellenz! Lieben Sie den Parlamentswhisky?«

»Danke, Sir George!« Herr von Spängler war beklommen zumut unter den eisig erstaunten, mißtrauisch feindseligen Blicken, die von allen Seiten in seiner Brust die Geheimnisse Deutschlands zu ergründen suchten. Er dachte sich verzweifelt: Wir haben ja gar keine! Das ist ja bei uns nur so, wie man achtlos ein brennendes Streichholz wegwirft und, ohne sich umzudrehen, weitergeht! Aber das darf ich doch nicht laut sagen! Und etwas sagen muß ich! Schweigen heißt ja Eingeständnis. Er versetzte, sein Glas hinstellend, mit einem Lächeln der Versöhnung unter vernünftigen Menschen: »Wären wir doch in allem so einig, als daß dieser Whisky in der Tat vorzüglich ist, Sir George! Wohl: Und dieses kleine Mißverständnis zwischen unseren Ländern wird rasch seine Klärung finden. Darum keine Feindschaft!«

Aber die glattrasierten, hageren angelsächsischen Köpfe um ihn herum blieben eiskalt in ihrer trockenen und schweigsamen Nüchternheit. Allerlei Gedanken schienen sich hinter diesen Stirnen zu spinnen. Sir Hartland versetzte: »Nichts ist sicherer, als daß solch ein verächtlicher Bur die Sorgen eines Streits nicht lohnt. Aber es fiel in Berlin ein Schuß. Die Welt wurde rings um den Äquator alarmiert.«

In diesem Klub der Weltfahrer und Taubenschlag von Überseeseglern, der seinen Namen nach dem gewaltigen, langverstorbenen Abenteurer und Eroberer Ostindiens führte, konnte man die elektrische Spannung der Luft über allen fünf Erdteilen allabendlich im gelassenen, halblauten Meinungsaustausch vor dem Kamin wie an wissenschaftlichen Werkzeugen ablesen. Und zum erstenmal in seinem Leben, dessen fünfeinhalb Jahrzehnte er unter Briten zugebracht, hatte Herr von Spängler den Eindruck wie sonst auf einer seiner Seefahrten, wenn plötzlich die Magnetnadel des Schiffskompasses unruhig wurde, zitterte und sich seitlings schwang, sobald der Mann am Steuer das Ruder in eine neue Richtung umlegte. So, schien es ihm jetzt, rückte die geheimnisvolle kleine Spitze, die bisher zwischen Paris und Petersburg gebebt hatte, und richtete sich langsam und sicher wie ein Pfeil gegen Berlin.

Es war Zurückhaltung an diesem Abend zwischen Dr. von Spängler und seinen guten englischen Freunden. Und dabei liebte er doch Old England so, bewunderte es, hatte es so oft als einen besonderen Naturfehler Bismarcks gerügt, daß dieser ausgesprochene Sohn des Plattlandes niemals ein rechtes Verhältnis zu dem Inselreich gewonnen hatte. Aber als er jetzt durch den brütenden Nachtnebel, der sich hustenreizend auf die Lunge legte, von dem Warren-Hastings-Klub heimging, sah er um sich Gespenster im Dunkeln. Es war ihm unheimlich zumut. Vielleicht wäre Bismarcks Rat doch ganz nützlich gewesen ... wenigstens zuweilen ... das heißt, höchstens bei ganz besonderen Gelegenheiten ... ach was ... überhaupt ... Jetzt war er auch schon zu alt... Es ging natürlich auch ohne ihn ... ging sogar glänzend ...

In seinem Hotel traf er durch Zufall den alten Reeder Lüdingworth aus Hamburg, mit dem er durch einen Scheffel Erbsen versippt war. Denn dessen Frau und die alte Gräfin Pritzig, Klothildes Tante, waren Schwestern. Der greise, königliche Kaufmann stand nüchtern und bedächtig, den Zwicker vor den kühlen Augen, in der Halle und studierte die Abendblätter. Seine Schiffe schwammen auf allen Meeren. Er war an der Themse, wohin er wegen eines brasilianischen Frachtratenpools gekommen war, ebenso zu Hause wie an der Elbe.

»Lüdingworth! Was denken sich denn um Gottes willen die Leute in Deutschland? Wegen eines schmutzig-stumpfsinnigen kleinen Hirtenvolks irgendwo da hinten im Pfefferland, das uns den Kuckuck was angeht, mit Großbritannien anzubinden! ... Mit Groß ... bri... tannien!«

Adolphus Lüdingworth lächelte, als sei von Kindern die Rede. Er war schon über die siebzig hinaus. Von niedersächsischem Blut. Hier, unter den Angelsachsen, hätte der lange, magere alte Herr mit dem von tausend Krähenfüßen gefältelten bartlosen Kopf ebensogut auch für einen greisen Peer und Fuchsjäger des Vereinigten Königreichs gelten können.

»Ich war jetzt in Berlin«, sprach er. »Ja – da darf man ja wohl kein Wörtchen gegen die Buren sagen. Sonst wird man von aller Welt gesteinigt! Die paar Leute, die draußen gewesen sind und die Welt kennen – die klappen den Rockkragen hoch und schweigen still!«

»Man möchte die Wände hochgehen!«

»Wir an der Waterkant wissen, was der Englishman ist! Drinnen im Reich halten die Leute den Engländer für einen komischen, großkarierten Kerl, der mit dem Baedeker in der Hand dasteht und das Maul offenhält und › oh yes,‹ dazu sagt ...«

»Es ist zum Stiefelausziehen, lieber Lüdingworth!«

»Im Sachsenwald ist man auch sehr besorgt. Ich hörte es aus der Umgebung von S. D.«

Schon wieder Bismarck ... Nun schon ein Achtziger ... seit vielen Jahren beim alten Eisen ... Und immer noch lebendig ... immer noch eine mahnende Macht... Herr von Spängler saß finster und einsam oben in seinem Hotelzimmer. Das schien ihm immer noch leise unter seinen Füßen zu schaukeln nach der langen Seefahrt. Und ebenso dünkte ihn, schwankte Deutschland wie ein Schiff ohne Steuer. Und er sah wohlgefällig drüben ein verwöhntes Weltmannsgesicht, dessen geistige Bedeutung die gewölbte Glatze noch hervorhob und dessen gerundeter Weichlichkeit das funkelnde Einglas einen wohltuenden Schuß schneidender Schärfe verlieh, und sagte sich hoffnungsvoll: Höchste Eisenbahn, daß ich heimkomme und helfe! Jetzt brauchen sie Leute wie mich, Anhänger Old Englands, nachdem die Juchtenfreunde die Karre wieder in den Graben geworfen haben!

Dann verdüsterte sich seine überlegen lächelnde Miene. Der wohlbeleibte deutsche Gentleman im Spiegel drüben rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Zu dumm: Dies verdammte Sitting-Room schunkelte immer noch! Jetzt war es nicht das Deutsche Reich, das leise um Herrn von Spängler zu schwanken schien, sondern sein eigenes Haus und seine eigene Ehre...

Pah ... Unsinn ... Aber immerhin ... Er entwarf eine Depesche an den Grafen Louis Ferdinand von Pritzig in Berlin. Es wurde, nach seiner diplomatischen Gewohnheit, ein kleiner Brief in Telegrammform. Er schrieb: »Bin übermorgen in Berlin. Bitte setzt dort inzwischen Klothilde den Kopf zurecht. Sie hat wieder einmal ihre whims. Ich nehme das nicht tragisch. Dazu kenne ich sie zu gut. Alter Philosoph wie ich. Aber ich habe in Berlin wichtigere Dinge vor. Also please arrange it! Zeige Deine berühmte leichte Hand, lieber Onkel, und lege mich der Tante zu Füßen. Euer getreuer Alfons.«

Nachschrift: »Barometer hier Windstärke 8! Haltet um Gottes willen unsere tollgewordenen Oberlehrer und Professoren im Zaum! Wir neuen Deutschen müssen bei den Engländern in die Schule gehen und nicht unserm Mentor einen Esel nach dem andern bohren.«

Exzellenz von Pritzig empfing die Depesche während eines der Empfangsnachmittage seiner Frau in Berlin. Es waren viel Menschen in den altmodischen Räumen am Königsplatz. Ausschließlich stiftsfähiges, preußisches Blaublut. Die Gräfin, die immer noch schlank und in der Haltung der großen Dame ebenso aufrecht auf dem Kanapee saß wie vor einem halben Jahrhundert als junges Mädchen, fragte zu ihm herüber: »Was macht Alfons in London?«

»Was alle Leute dort tun«, sagte ihr Mann und steckte das Telegramm ein. »Er läßt sich von den Engländern einseifen!«

»Hol der Kuckuck die Engländer!« schrie der alte Postitz auf Beerwinkel. Der alte von Kühl auf Klein-Latzke nickte.

»Schweine können die Kerle züchten. Aber sonst nischt«

»Mir sind sie gräßlich«, sprach Frau Amette von Luch.

»Das war mir die Gesellschaft von jeher«, sagte der Bruder des Hausherrn, der strenge, hochgewachsene Generalleutnant z. D. von Pritzig. »Und dabei ein Dünkel ...«

»Ich möchte nur wissen, worauf ...«, meinte Graf Giesebitz, der alte Oberst a. D. aus Potsdam. Der stattliche, blonde Generalstäbler von Pommerich zuckte die breiten Schultern. »Militärisch sind sie jedenfalls minderwertig!«

»Na eben,« sprach Malte von Pritzig, der an Göttinger Narben reiche zweite Sohn des Hauses, Landrat und Mitglied der preußischen Zweiten Kammer, »... mal ein fester Tritt auf die Hühneraugen! ... Etwas mehr Bescheidenheit drüben!«

»Bei uns haben die hohen Herrschaften viel für England übrig«, flüsterte die schon ältelnde kleinstaatliche Hofdame Luise von Pritzig, die Tochter des Generals. Die andern Damen fielen über sie her.

»Liebste – wie können Sie so etwas sagen?«

Die blonde schwere Frau Oberst von Pommerich bekam förmlich einen roten Kopf. »Luischen ... Du bist doch wirklich manchmal zu komisch!«

Frau Frieda von Pritzig, die Gattin des Landrats, die geborene Hänichen aus Mecklenburg, Tochter eines bürgerlichen dreifachen Rittergutsbesitzers, pflichtete ihr bei.

»Deine Durchläuchting, Luise, kann ja nach England umziehen, wenn's dort so viel schöner ist!«

Neben dem Hausherrn stand dessen einstiger Amtsgenosse aus der Wilhelmstraße, der Geheimrat von Kanzleben. Der riesenhaft gebaute, leberleidende Bureaukrat fragte gedämpft zwischen zwei Havannawolken: »Belehren Sie mich doch einmal aus dem Born Ihrer allbekannten Weisheit, Pritzig! Ich hab mir oft schon, wenn ich wegen meiner seit Bismarck kaputten Nerven nicht schlafen konnte, den Kopf zerbrochen: Wir haben doch niemals mit den Engländern im Bösen zu tun gehabt...«

»Nein. Nur im Guten! Waterloo ... Subsidien an den Alten Fritz ...«

»Woher kommt dann also dieser Haß, der, ich möchte mich ausdrücken, instinktiv in unserem inneren Adam gegen den Engländer sitzt und sich nun auf einmal in dem Burenrummel austobt?«

Exzellenz von Pritzig überlegte eine Welle und versetzte dann ruhig: »Es ist unser Stolz!«

»Stolz?«

»Wir Preußen sind gewohnt, gehaßt zu werden! Vor allem von den Franzosen! Das verschlägt uns nichts. Das ist uns eine Ehre. Aber der Engländer haßt nicht! Der Kerl verachtet! Der verachtet uns wie alles, was nicht englisch ist! Verachtet uns ganz phlegmatisch, mit einem freundlichen Lächeln. Das fühlen wir! Das reizt uns bis aufs Blut. Das haben wir Preußen und wir Deutschen seit 1870 nicht verdient. Wir spüren, daß uns damit ein Unrecht geschieht!«

»Aber dabei – das wissen wir beiden kundigen Thebaner doch! – taxieren wir selber den Engländer viel zu gering ein!«

»Eben deswegen erbittert es uns ja doppelt, daß uns der Kerl verachtet!«

»Hm ...«

»... uns verachtet, ohne uns zu kennen! Daraufhin hassen mir ihn, ohne ihn zu kennen. Das müssen wir als Antwort. Wir können nicht aus unserer alten preußischen Haut, mag sie auch eng sein! Wir beide nicht und niemand hier im Saal!«

Das Gespräch um sie herum war längst von dem Flug in die weite Welt hinaus zurückgekehrt. Man war wieder daheim, aus märkischem Sand, unter sich, im Ring der vielköpfigen Clans, von denen Wohl und Wehe des alten Preußen anhing.

»Der Gustav? ... Ein tadelloser Landrat! ... Als Regierungspräsident mäßig! ... Oberpräsidium? ... Ausgeschlossen!«

»Der gute Triglitz war auch ein ganz netter Brigadekommandeur, und wie er nachher eine Division kriegte... na ... Schwamm über den Wurschtkessel im ersten Manöver!«

»Doch, Graf Ringsburg, die C.-C.-Meldung ist ganz richtig! ›Normannia‹ baut sich ein eigenes Korpshaus. Die alten Herren haben eine G.m.b.H. gegründet!«

»Nee ... wissen Sie ... sich noch mal auf seine alten Tage in den Reichstag wählen lassen ... Zu sagen hat die Blase ja schließlich doch nischt!«

»Lieber Postitz ... die positive Richtung in der pommerschen Provinzialsynode ...«

»Also ... unter uns: S. M. hat gestern ...«

»Aber längst ist er für einen Halsorden reif, Verehrtester! Ich an seiner Stelle würde dem Minister mal gründlich aufs Dach steigen ...«

»Hans Joachim sagt auch: Mit diesen Roggenpreisen ...«

»Aber, Liebste. Ulrike braucht doch nicht im Stift zu wohnen! Sie kriegt ihre Pfründe in bar ...«

»Sag mal: Was ziehst du zum Familientag an? Das Essen ist um vier Uhr nachmittags. Da weiß man gar nicht ...«

»Zwölftausend Mark Zulage braucht er bei der Botschaft!«

»Ja... glaubst du, in Potsdam lebt er von der Luft?«

»Sie müssen zugeben, Klütz: Ein Gaul wie die ›Wellgunde‹ kommt eben nur alle Jubeljahre ...«

Der alte Graf Louis Ferdinand von Pritzig hörte stumm, seine Zigarre rauchend, zu. Seine großen, grauen Augen wurden mit dem zunehmenden Alter immer fernsichtiger. Er sah die menschlichen Dinge immer mehr aus der Weite. Er war heute froh, als sich die letzten Nachmittagsgäste verabschiedeten. Der greise Potsdamer Graf Giesebitz, dessen wie ein Winterapfel eingeschrumpftes Gesicht an den seligen Papa Wrangel erinnerte, tänzelte zur Tür und warf auf der Schwelle noch ein Kußfingerchen in der Richtung nach der rückwärtigen Flucht der Gemächer.

»Bitte untertänigsten Handkuß der Schönsten der Schönen! Und es sei hartherzig von der hohen Frau, daß sie uns heute ihren Anblick vorenthielt!«

»Mein Gott – Klothilde ist müde von der wochenlangen Seefahrt. Sie ist doch erst seit gestern in Berlin!«

Der uralte Damenmann lächelte süßlich. »Entzückende Frau ... eure Nichte!«

»Das wissen wir, Gustav ...«

»Warum ist sie denn ohne ihren dicken Mann angekommen?«

»Der kommt morgen aus London nach!«

Das zierliche Herrchen summte: »Immer langsam voran, daß der Krähwinkler Landsturm nachkommen kann!« ... Dann fragte er harmlos: »Und weshalb ist sie bei euch abgestiegen statt im Hotel?«

»Herrgott – weil sie bei uns Kind im Hause ist!« Die alte Gräfin wurde etwas ungeduldig. »Sie bewohnt bei uns mit ihrem Bub dieselben Zimmer wie einst als Mädchen!«

»Ich möchte nur wissen, was dich das interessiert, du neugierige Elster!«

»Mich? Nicht im geringsten«, sprach Gustchen, wie der greise Giesebitz seit Menschengedenken in der Potsdamer Gesellschaft genannt wurde. »Aber es gibt böse Jungen auf der Welt! Hähä!« Der alte Süßholzraspler kicherte vergnügt: » Soit dit entre nous! Beurlaube mich jehorsamst! Hähä ...«

Die Gräfin Gesine Pritzig schüttelte hinter dem Abschwebenden den majestätischen weißen Kopf.

»Was meint das kindische alte Geschöpf nur, Louis?«

»Da! Lies mal die Depesche aus London und dann gehe hinüber zu Klothilde und sprich mit ihr ein vernünftiges Wort!«

Als seine Frau aus dem Zimmer war, saß Exzellenz von Pritzig in dem nachdenklichen Ernst, der immer stärker von ihm Besitz ergriff, je mehr seine erfolgreichen Lebenstage sich der Ahnengruft von Jackenzin zuneigten, und schaute vor sich in den leeren, stillen Raum. In dem lebte noch ein Hauch des alten Preußentums von vorhin und webte hinter der Stirn des alten Herrn...Du meine Mark ... Sand und See ... Luch und Bruch ... Kiefern und Kasernen ... Du mein Preußen ... Preußen ... Geist von der Windmühle von Poscherun bis zur Windmühle von Sanssouci – Preußen – du bist nicht nur Kartoffeln auf kargem Boden und Kanonen und Kasematten – du bist ein Geist. Du bist der König und bist Königsberg und bist Kant und bist harte Pflicht und kühler Kopf und klare Kenntnis deiner Kraft und ihrer Grenzen. Preußen – bleibe deinem Geist getreu! Was kümmern dich die Buren? Was willst du auf dem Wasser? ... Die märkischen Roggenfelder tragen dich seit Jahrhunderten ... Die Meereswellen nicht! Preußen, bleibe daheim bei Pflug und Schwert!

Dann strich sich der weißköpfige Junker über die Augen und sagte sich: Ich bin alt. Zu alt wahrscheinlich für die neue Zeit. Ich habe kein Recht mehr, zu raten. Ich schau lieber zu ... Er hob gespannt das Haupt. Die Gräfin war zurückgekommen und setzte sich. Die alte, selbstsichere Weltdame war blaß vor Erregung.

»Das ist eine schöne Geschichte, Louis!«

»Was ist denn mit der Thilde?«

»Sie will sich also richtig scheiden lassen!«

Graf Pritzig sprang auf. »Nanu ...«

»Ja ... stell dir vor! ... und dabei gar nichts von Tränen und so ... Einfach: Ich lasse mich scheiden! ... Als ob sie von einem Kochrezept spräche!«

»Ja ... und die Gründe?«

»Kriegst du nicht aus ihr heraus! Ein Achselzucken: Ich lasse mich eben scheiden!«

»Toll!«

»Ein Gemütsmensch war die Klothilde ja nie! Aber diese krasse Art ... Ich versichere dich: Man erschrickt geradezu! ... Dabei hat sie den Jungen auf dem Schoß sitzen und liest mit ihm Märchen!«

»Das ist 'ne schöne Geschichte, Gesche!«

»Ja – nicht wahr, Louis? Mir zittern noch die Knie!«

»Und wir sind schuld!«

»Aber, Mann!«

»Wir haben die Thilde aus unserem Hause an einen Mann gegeben, der ein Vierteljahrhundert mehr auf dem Buckel hatte! Das war nicht gut!«

»Ja ... nun ist's aber doch geschehen!«

»Wir waren beide zu alt, Gesche, um die Jugend zu verstehn!«

»Was hilft das jetzt, Louis? Ich bin einfach außer mir!«

»Ich kann's dir nicht verdenken!«

»Und keine Möglichkeit, von ihr zu erfahren, warum eigentlich ... Irgend etwas muß doch ... Wir beide, Louis Ferdinand, sehen so was offenbar nicht! Wir leben gottlob in so glücklicher Ehe, wenn du auch manchmal unausstehlich bist... Na ... ich bin dann eben die Klügere und gebe in Gottesnamen nach ...«

»Nee ... nee, Gesche! ... Ich!... Du bist immer das Karnickel, Altchen!«

»Also, Mann, ich streite nicht! Ich sag nur: Irgend etwas muß da doch in Klothildes Ehe... Aber was?«

»Geschehen muß jedenfalls etwas, ehe der Alfons ankommt!«

»Ich bin am Ende, Louis! Versuche du dein Glück bei ihr!«

Graf Louis Ferdinand von Pritzig legte seine Zigarre in den Aschenbecher und ging hinüber in das Zimmer seiner Nichte.

Sie nickte ihm unbefangen zu: »... Tag, Onkel! Die Gäste weg?«

»Erst mal den Jungen raus! ... Den hältst du nämlich so als Bollwerk auf dem Schoß, meine alte Thilde! Ich kenne meine Pappenheimer!«

»Ich brauche keine Bollwerke!« sagte Klothilde von Spängler, küßte ihr Söhnchen und überantwortete es der Pflegerin.

»So! Das Nebenzimmer leer? Die Schlüssellöcher rein?«

»Rauchst du, Onkel?«

»Nein, und du wirst auch nicht rauchen. Das sind alles Finten!«

»Gott. Onkel – du denkst wohl, ich will dir hier große Geschichten vormachen! So ist mir gar nicht zumut...«

»Die sollst du machen! Dazu sitze ich hier!«

»Soll ich Komödie spielen, Onkel?«

»Nein, du sollst damit aufhören!«

Exzellenz von Pritzigs Auge ruhte väterlich ernst auf der blassen Schönheit vor ihm. Sie schien sehr gelassen. Aber unter dem Saum ihres Kleides wippte die linke Fußspitze nervös wie im Takt eines hämmernden Herzschlags auf dem Teppich auf und nieder. Als sie sah, daß er das mit einem scheinbar unabsichtlichen Streifblick bemerkte, wurde sie noch bleicher und zwang sich zur Ruhe. Ein aufgeregter Trotz entgeisterte plötzlich ihr bis dahin kühles, schmales Antlitz. Er fuhr fort: »Warum sollen wir jetzt nicht einmal große Worte brauchen, Thilde? Große Worte sind für die großen Gelegenheiten. Die größte Begebenheit des Lebens ist, wenn es gut geht, die Ehe!«

Sie lachte heftig auf. »Es geht aber nicht gut. Onkel, gar nicht! Schon lange nicht!«

»... und wenn es nicht gut geht. Thilde – ist die größte Begebenheit das, was diese Ehe löst ...«

»Onkel – ich bin heute sehr angegriffen ...«

»Kein Wunder!«

»Wenn es dir recht ist, wollen wir morgen weiterreden.«

»Es ist mir nicht recht, und wir reden weiter!«

»Willst du mich quälen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich muß, mein Kind!«

Klothilde von Spängler verstummte und sah hartnackig an ihm vorbei ins Leere.

»Das, was eine Ehe löst, Klothilde, kann ebenso gewaltig und kann auch ebenso hoch und heilig sein wie das, was eine Ehe bindet. Das können andere Menschen nicht wissen. Das weiß nur der, der es erlebt ...«

Die junge Frau schwieg.

»Und das was er erlebt, das kann so viel stärker sein als er selbst, daß er es eben erleben muß! Darin liegt der Schlüssel zu vielen Dingen, die wir im Leben um uns herum geschehen sehen und nicht begreifen. So würde die Welt auch deinen Schritt nicht verstehen!«

»Das kann sie ja!«

»Aber möchtest du ihn nicht wenigstens den paar Menschen erklären, die dir nahestehen und dich herzlich liebhaben?«

»Wenn ihr mich wirklich liebgehabt hättet, dann hättet ihr mich damals mit Gewalt von dieser Ehe zurückgehalten!«

»Deine Tante hat es gut mit dir gemeint. Sie wußte, daß du sehr für das Äußerliche veranlagt warst, und dachte, da sei dein Glück. Und ich – es ist ein Fehler, Thilde! Je älter ich werde, desto mehr lasse ich die Dinge gehen und gebe allen Menschen recht, weil ich mein Leben lang zu sehr versucht habe, alle Menschen zu verstehen. Du hattest dir selbst diese glänzende Partie in den Kopf gesetzt. Nun ist es geschehen!«

»Aber ich mach es ungeschehen!«

Klothilde von Spängler sprang auf und schritt heftig lm Zimmer auf und ab. Die Falten des Rocks fegten um ihre schlanke Gestalt. Der Luftzug traf den alten Herrn drüben zugleich mit ihrem verächtlichen Auflachen: »Alfons ist ja so erschreckend ahnungslos. Ein anderer Mann hätte seit Jahr und Tag merken müssen, was in mir vorging... Aber er... Ach du lieber Gott!«

»Was hast du eigentlich gegen ihn?«

Ihr Gesicht wurde leichtsinnig leer. Es krauste sich geringschätzig. Sie sagte obenhin: »Er ist so egoistisch!«

»Das ist doch keine Antwort!«

»Dicke Leute sind immer egoistisch. Er wird auch noch immer dicker, so sehr ich auch gegen das viele Essen predige!«

»Thilde – das sind alles Dummheiten!«

Sie stand am Fenster und trommelte erbittert an den Scheiben. »Ich haß ihn!« jagte sie zwischen den Zähnen in das Dunkel hinaus. »Ich haß ihn. Ich haß ihn ...«

Dann drehte sie sich plötzlich um und lachte, »I wo. Ich haß ihn nicht. Dazu ist er zu komisch anzusehen!«

»Thilde – lasse diese Äußerlichkeiten! Weil ein Mann ein paar Pfund zu viel wiegt und zu wenig Haare hat, deswegen läßt sich keine Frau von ihm scheiden, wenn's nicht bei ihr rappelt!«

»Aber davon kommt seine gräßliche Gemütsruhe, wenn bei mir alles bibbert! Ich hab ihm oft Szenen gemacht, aus reiner Laune, nur um ihn aus seinem Klubsessel aufzuscheuchen!«

»Alles Fisematenten, mein Kind! So leicht speisest du mich nicht ab! Die Ehe ist keine Schönheitsversicherung auf Gegenseitigkeit. Du wirst auch nicht immer so schön sein wie heute. Die Ehe ist ein geistiges Band!«

»Ja, glaubst du denn, du hörst je etwas Vernünftiges von ihm? Du hörst nichts!«

»Vielleicht, weil du nicht willst...«

»Seine Politik ist mir langweilig. Sie machen ja auch alle nur Dummheiten, seitdem Bismarck sie nicht mehr an der Strippe hat!«

»Da kann ich dir leider nicht widersprechen!«

»Na also!«

»Ich spreche auch nicht von Staatsgeschäften, sondern von seelischen Dingen in der Ehe.«

Klothilde von Spängler trat auf ihren Oheim zu. Jetzt leuchtete ein leidendes und leidenschaftliches Licht in ihren haselnußhellen Augen. »Hat er sich denn jemals um mein Inneres gekümmert? Ich war doch fünfundzwanzig Jahre jünger als er! Ich war ein Kind gegen ihn. Da hätte er mich doch emporziehen und zu einem vernünftigen Menschen machen sollen!«

»Freilich!«

»Nichts davon! Immer nur mit mir renommieren! Mich herausputzen und zur Schau stellen! Herrgott, mir macht es ja auch Spaß, daß ich hübsch bin! Aber das ist doch nicht alles! Man will doch mehr sein als eine Puppe! Zu der hast du mich doch auch nicht erzogen!«

»Gewiß nicht!«

»Er hat das alles verwahrlosen lassen! Er hat mit mir gespielt wie mit einem Kind. Da bleibt man ein großes Kind. Wenigstens eine Zeitlang! Bis man allmählich mit Schrecken merkt, daß man von ihm um seine Seele geprellt wird, weil er selber keine hat ...«

Exzellenz von Pritzig erwiderte nichts. In seinem weißen Kopf klang das Sorgenlied seiner schlaflosen Nächte – das Lied von der satten, selbstgefälligen Entseelung der neuen deutschen Zeit ...

»Glaub mir, Onkel Louis, er hat viel an mir gesündigt. Ich hab ihn eine Zeitlang so liebgehabt. Ich hab so viel von ihm erwartet. Er hätte alles aus mir machen können ...«

»Rede nur weiter, Thilde!«

»Gerade weil ich äußerlich war, wie du sagst, hätte er dem entgegenarbeiten müssen! Er hat es mit allen Kräften befördert, weil er es selbst noch mehr ist! Alles ist bei ihm auf die Wirkung nach außen gestellt!«

»Es ist der Fehler unserer Zeit.«

»Immer nur die andern unterkriegen! Sich über ihnen dünken! Immer nur Blasiertheit. Schlechte Witze. Man sitzt da und belächelt alles – auch die eigene Frau. Man ist ein Halbgott ...«

»Ach, Kind, du sprichst vom neuen Deutschland – leider – wenigstens von einem gewissen neuen Deutschland...«

»Da entdeckt man eines Tages mit Schrecken, daß man eine Seele hat, und sagt sich: Das kann nicht das Rechte sein – das glaub ich nie und nimmer! Diese Kälte und Leere ...«

»Jedenfalls ist sie nicht deutsch!«

»Diese Leere ist Lieblosigkeit – auch gegen mich! Daran bin ich gescheitert. Er hat mich nicht lieb, soviel Wesens er auch um mich macht! Seine Liebe zu mir ist nur Eitelkeit und Eifersucht! Er und seine Leute haben nichts lieb! Damit würden sie sich ja etwas vergeben! Der moderne Mensch, wie sie sich ihn vorstellen, der muß kalt sein wie eine Hundeschnauze! Herz: das ist etwas für die kleinen Leute! Und jahrelang habe ich mich so danach gesehnt!«

»Viele sehnen sich nach mehr Wärme in Deutschland!«

»Aber bei dem Alfons muß ja alles englisch sein! Diese Kühle und Ironie auch, über die ich eine Zeitlang, wenn mein Herz voll war und ich zutraulich damit zu ihm kam, oft bitter geweint hab! Ich fürchte nur, sie mißverstehen auch diese englische Kühle ...«

»Ich glaub es auch, mein Kind! Dadurch wird man noch nicht ein Engländer, daß man seine deutsche Seele stillegt!«

»Aber so sind sie alle, die er von Deutschen seines Umgangs würdigt! Wenn er irgend kann, verkehrt er ja nur mit Ausländern. Nur keine Unbefangenheit! Kein herzliches Sichhingeben! Keine harmlose Freude! Eine Weile hab ich mich ihm und seiner Art gutgläubig angepaßt. Dann hab ich zu fühlen angefangen: Das geht mir wider die Natur! Da verliere ich meine Natur! Da zerrinnt mir das Leben und die Jugend unter den Händen.«

»Und er?«

»Ich hab's ihm begreiflich zu machen gesucht. Antwort: Volle Verständnislosigkeit! Ein paar schlechte Witze! Ein Schmuck! Hab dich nicht. Kindchen! Wir sind wir! Da hab ich angefangen, das große Sehnen zu kriegen ... immer mehr ... immer mehr ...«

»Seltsam, daß das alles jetzt erst bei dir herauskommt!«

»Daran bist du schuld, Onkel.«

»Ich?«

»Du hast hier im Hause den Ernst in meine Seele gepflanzt. Ich war noch zu jung, um es klar zu begreifen. Ich hab es unbewußt in mich aufgenommen. Jetzt ist es aufgegangen und hat mich meinem Mann entfremdet. Wenn er sich so gar nichts aus mir macht, dann mache ich mir auch nichts mehr aus ihm. Vielleicht denke ich später, wenn mir erst auseinander sind, ruhiger über ihn ...«

»Gerechter!«

»Ach – ich bin eine Frau. – Ich brauche nicht gerecht zu sein.«

»Also vorläufig siehst du nur Schatten an ihm?«

»Nur Schatten! Ich kann mir nicht helfen!«

»Und wo Schatten ist, da ist auch Licht ...«

»Was heißt das, Onkel Louis?«

»Denn irgendein Licht wirft eben seinen Schatten über deine Ehe! Thilde, was ist das Licht in deinem Herzen?«

Klothilde von Spängler wurde geisterbleich. Sie erwiderte nicht.

»Wer hat dies Licht bei dir angezündet?«

»Niemand!«

»Thilde, ob's nun recht oder unrecht ist – Segen oder Sünde – ich hab's dir schon vorhin gesagt: Solch ein Licht ist heilig. Das verleugnet man nicht!«

»Dazu müßte ich es doch erst selber sehen!«

»Du siehst es und willst ihm in Zukunft folgen ...«

»Nein ... Nein ... Nein ...«

»Thilde, in solcher Stunde spricht man die Wahrheit!«

»Es ist die Wahrheit!«

»Du hast keinen andern Mann im Herzen?«

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Also ...«

»Aber wir haben uns seit fünf Jahren nicht mehr gesehen und gesprochen und einander kein Lebenszeichen mehr gegeben!«

»Warum nicht?«

»Damals wollte ich noch brav sein! Ich hab noch gedacht, ich halt es bei dem Alfons aus! Ich will ganz ehrlich sein: Ich hab damals auch noch sehr an meiner Stellung und dem Luxus und der großen Zukunft gehangen...«

»Und dann?«

»Ach Gott, Onkel! Inzwischen hat er natürlich auch geheiratet. Schon lange. Sie haben schon zwei Kinder. Es geht alles gut. Das heißt: Es geht alles nicht gut. Bei mir. Mein Leben ist aus!«

»Warum willst du dich trotzdem scheiden lassen?«

»... weil er eben in meine Ehe getreten ist und meinen Mann in mir ausgelöscht hat wie ein Licht und wieder weggegangen ist!«

»Und wenn du ihn jetzt wieder triffst ...«

»Es hat keine Not. Er wohnt fern von hier. Er ist nicht aus unseren Kreisen.«

»Kenne ich ihn?«

»Ich habe ihn ja hier bei dir zuerst gesehen ...«

»Bei mir? Obwohl er nicht aus unseren Kreisen ist?«

»Ach, du warst ja immer so väterlich zu ihm! Du hältst viel von ihm! Alle Leute! Das ist ein Mann! Anders wie der gute Alfons ... Ein Mann aus eigener Kraft ...«

Im Kopf des Grafen Pritzig glitten Hunderte von Schattenbildern von Menschen vorbei, näherten sich, verdichteten sich zu einer einzigen Gestalt.

»Kenne ich seinen Vater, Thilde?«

»Das ist ja dein bester Jugendfreund!«

»In Darmstadt?«

»Ja.«

Exzellenz von Pritzig war aufgestanden. Klothilde weinte hell an seiner Brust. Der Duft ihres braunroten Haares stieg zu ihm empor. Er fühlte ihre eiskalten Hände schutzsuchend um seinen Nacken geschlungen.

»Nun weißt du's! Ich muß von meinem Manne weg und kann doch nicht zu ihm und hab nichts mehr auf der Welt als den Jungen und euch! Bitte, verstoßt mich nicht!«

»Du bist mir eine Tochter, Thilde.«

»Ich hab nichts Böses getan. Ich habe überhaupt nichts getan. Das ist alles so gekommen. Das ist wohl das Leben. Das weißt du besser als ich. Du kennst das Leben länger.«

»Ich bin fünfundsiebzig Jahre, Kind! Mich wundert nichts mehr auf dieser Welt!«

»Du hast vorhin gesagt, du hättest dich immer bemüht zu verstehen! Verstehst du mich?«

»Ja.«

»Verzeihst du mir?«

»Ja.«

Er beugte sich und küßte ihre weiße Stirn. Sie lächelte dankbar aus weichen, tränenvollen Augen zu ihm empor.

»Wollt ihr mir helfen?«

»Ja.«

»Gott sei Dank!«

Sie atmete tief auf.

»Ach – nun bin ich's los! Wenn ich weiß, daß du bei mir bist, Onkel Louis, dann bin ich gleich ruhiger!«

»Sei nur jetzt ruhig, Thilde, und warte, bis dein Mann aus London kommt! Dann werde ich zunächst einmal mit ihm sprechen.« –

Im Salon drüben, in den er allein hinüberging, saß die Gräfin Pritzig, mit großen, fragenden Augen. Ihr Mann zündete sich vor allem, um seine Erregung zu dämpfen, seine geliebte Upman an. Dann sagte er: »Was mit Thilde ist? Die Ärmste ist arm geworden. Ihr Mann hat sie arm gemacht. Und ich fürchte, es werden noch viele, die nach uns kommen, an diesem neuen deutschen Reichtum verarmen!«

Dieser Reichtum trug in der Umwelt des Dr. von Spängler-Colosimo einen streng englischen Stempel. Die mächtigen Transatlantiks, die sich ein paar Stunden nach seiner Ankunft aus London an diesem Januarmorgen in seinem Berliner Hotelzimmer türmten, diese Gladstones, die modischen Handkoffer, diese Wardrobe Trunks, die aufrechtstehenden Reisekleiderschränke, dies umfangreiche Dressing-Case, dessen zahlreiche Büchsen und Flaschen das Spänglersche Wappen auf den Silberköpfen trugen, diese zusammengeschnallten, schottisch gemusterten Rugs und neben den Reisedecken die Bündel von Umbrellas und Walking-Sticks hätten das Auge des strengsten Mitglieds des Traveller-Klubs in Pall-Mall befriedigt. Er selbst lief, frisch dem Bad entstiegen, zwischen dieser ledernen und wollenen Ausstattung in einem buntseidenen, verschnürten indischen Pyjama-Schlafanzug auf und ab, in dem er einigermaßen einem sehr dicken ältlichen Husaren glich. Er war außer sich. Tee und Toasts, Jam und Ham warteten unberührt auf dem Frühstückstisch.

»Nee – nee – nee!« sagte er zu dem alten Grafen Pritzig, der sehr ernst dasaß und nach dem schon eine Stunde dauernden Hin und Her ihres Gespräches schwieg. »Nee – nee ... das geht mir doch übers Bohnenlied ... So mir nichts, dir nichts ... Kaum aus der Eisenbahn ... noch nicht mal rasiert ... hör mal: mich rührt ja der Schlag ...«

»Ja, schön ist es freilich nicht!«

»Einfach zum Willkomm: La bourse ou la vie! Ja ... seid ihr denn alle verrückt geworden? Die Thilde an der Spitze?«

»Ich habe dir alles gesagt!«

»Sich scheiden lassen. Einfach sich scheiden lassen! Großartig! ... Das wäre so ein Fressen für die guten Berliner! Danke!... Danke gehorsamst... Da hätten sie Klatsch genug für den ganzen Rest des Winters!«

»Denke an Klothilde und dich!« versetzte Exzellenz von Pritzig ungeduldig. »Und nicht immer an die anderen Leute.«

»Ich könnte mich ja hier nirgends mehr sehen lassen! – Gerade jetzt, wo ich vor allem hier meine alten Beziehungen aufnehmen muß ...«

»Es handelt sich um deine Frau!«

»... und dann hinter einem, wo man geht und steht, das schöne Wort ›divorcé‹! Mein teurer Onkel, ich habe in meiner Stellung vor allem nach außen hin zu repräsentieren! Hat sich denn das die gute Klothilde zum Donnerwetter nicht klargemacht?«

»Sie faßt das tiefer auf als du!«

»Hast du ihr denn nicht den Kopf gewaschen? – Ich denk immer noch, ich träume! – Eine Ehescheidung! Netter Knacks ... mitten in der schönsten Karriere ...«

»Ist es dir denn nicht möglich, Alfons, das anders als vom Salon und Klub aus anzusehen?«

»Herrgott! Darin leben wir ja doch!«

»Ja – leider!«

»Und da verbitte ich mir, daß mir die Klothilde derart in die Quere kommt und mich durch ihre dummen Launen halbwegs unmöglich macht!«

»Du hast noch nicht ein einziges Mal in dieser ernsten Stunde versucht, Alfons, dich einen Augenblick in ihre Seele zu zersetzen!«

»Ach was! Sie hat alles, was sie braucht!«

»Weiter läßt du ihr nichts sagen?«

»Doch: daß sie verrückt ist! Also, Onkel, ich will mal offen zu dir reden!«

»Endlich kommen mir also auf euch beide, statt auf alles mögliche äußerliche Drum und Dran ...«

»Es ist ja noch ein großes Geheimnis. Klothild weiß selber noch nichts davon. Ich habe einen großartigen neuen Posten hier in Europa schon so gut wie in der Tasche. Du, in Europa! ... Du weißt, wie man sich um diese Stellen schlägt! Solch einen Stein hab ich in der Wilhelmstraße im Brett ...«

»Ist es dir denn unmöglich, euer Schicksal einmal einfach menschlich zu betrachten?«

»Ich hab dort den kolossalen Vorteil, ständig in persönlicher Fühlung mit der Wilhelmstraße zu bleiben! Da kann man sich sofort ranschlängeln, wenn sich irgendwo eine neue Aussicht bietet, ehe es die andern überhaupt noch merken ...«

»Es ist entsetzlich!« sagte Exzellenz von Pritzig vor sich hin.

»... und da kommt das kindische Frauenzimmer und will mir die ganze Geschichte versalzen! Denn bei dem großen Coup, den ich im Auge habe, gerade dortigen Orts, denkt die betreffende hohe Frau, auf die es ankommt, sehr streng! Ehescheidung! Der bloße Gedanke macht mich dort unmöglich ...«

»Und was diese hohe Dame denkt, ist dir wichtiger, als was deine eigene Frau fühlt und leidet?«

»Von meiner Frau krieg ich kein Avancement! Von meiner Frau krieg ich nicht den Freiherrntitel, mit dem sie, unter uns, auch schon seit einiger Zeit bei mir liebäugeln! Von meiner Frau krieg ich nicht den rotweißen Kordon von der Schulter runter, für den ich mit der Zeit auch allmählich reif werde! Umgekehrt: Was gut und teuer ist, kriegt sie von mir ...«

»Klothilde hat ganz recht: Ihr sprecht zwei verschiedene Sprachen!«

Herr von Spängler blieb stehen und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Teetasse tanzte.

»Zum Kuckuck! Ich rede die Sprache der Vernunft. Ich bin ein moderner Mensch!«

»Das seh ich!«

»Für unklare Gefühlsduseleien hab ich nichts übrig! Wenn Klothilde irgendeinen vernünftigen Grund zur Klage hätte! Aber so ... Einen vor ganz Berlin bloßstellen! Sogar in London werden sie darüber reden... überall! Ich bin ja bekannt wie ein bunter Hund ...«

»Also auf dem Standpunkt bleibst du!«

»Nee! Nee! Da wird nichts daraus! Unüberwindliche gegenseitige Abneigung gibt's auf meiner Seite einfach nicht. Also, bitte, Schluß!«

»So einfach ist das nicht! Du kannst Klothtlde nicht zwingen, zu dir zurückzukehren!«

»Nee! Das kann ich nicht!« Herr von Spängler setzte sich und stützte kummervoll das schwammige Haupt in die Hände. »Aber deswegen klage ich noch lange nicht auf Scheidung! Den Gefallen tu ich ihr nicht! Sie wird schon wieder zur Vernunft kommen!«

»Das glaub ich nicht!«

»Kinder, nur jetzt keinen Skandal! Es steht alles für mich auf dem Spiel ...«

»Willigst du wenigstens in eine vorläufige Trennung ein?«

»Wozu denn immer die kolossalen Worte? Der Arzt kann ihr ja in Gottesnamen eine Erholung verordnen nach dem langen Aufenthalt drüben! Irgendein Bad! Das fällt keinem auf. Als Strohwitwer kann ich schon allenfalls auf meinen neuen Posten! Laßt mich nur erst um Himmels willen dort warm werden!«

»Und später?«

»Später kommt alles von selber in die Reihe!« sprach Herr von Spängler mit einer geringschätzigen Handbewegung. »Ich lasse mich von meiner teuren Gattin nicht bluffen! Ich danke für die Katzbalgereien! Jetzt hat sie sich in diese Stimmung verbiestert! In einem halben Jahr ist sie heilfroh, wenn sie wieder die Exzellenz spielen darf! Ich kenne die Welt und die Weiber!«

»Die Welt kenne ich länger als du, Alfons! Die Weiber Gott sei Dank weniger! Aber meine Nichte Klothilde kenne ich! Rechne nicht darauf, daß sie noch einmal zu dir zurückkehrt!«

»Pah!«

Graf Pritzig erhob sich und lächelte seltsam.

»Übrigens: Überlege dir das immerhin einmal für deine späteren Entschlüsse, Alfons! Es gibt schließlich doch auch einem Mann wie dir ein besonderes Cachet, wenn er sich plötzlich scheiden läßt!«

Herr von Spängler riß die Augen auf.

»Wer sich noch mit Frauen herumschlägt, der wirkt in gewissem Sinne noch jugendlich! Das kann dir bei deinen dreiundfünfzig Jahren für deine Karriere nicht schaden, Alfons ...«

»Na, hör mal ...«

»Derlei macht einen Mann für manche erst interessant. Er rückt in den Vordergrund. Man spricht von ihm! Das ist doch heutzutage bei uns die Hauptsache! Sein Name steht in allen Zeitungen. Prägt sich jedermann ein. Nach einiger Zelt hat man total vergessen, warum. Aber der Name bleibt ...«

»Glaube nur nicht, daß ich dich alten Mephisto nicht durchschaue!« sagte Herr von Spängler düster und bekümmert.

»Ich rede mit jedem in seiner Sprache! Also vorläufig bist du einverstanden, daß Klothilde mit dem Kleinen nach Meran oder sonstwohin geht?«

»In Gottesnamen! Was soll ich denn machen?«

»Und über das Weitere sprechen wir später.« –

Der Staatsminister a. D. Graf Louis Ferdinand von Pritzig ging langsam zu Fuß seine geliebten Linden entlang, die hohe, immer noch schlanke, aber vom Alter gebeugte Gestalt in einen Biberpelz gehüllt, den Zylinder auf dem strengen, weißen Junkerkopf.

Es war ein kalter Wintertag. Er spürte den Frost durch das Rauchwerk des Mantels. Es war ihm, als sei das eisige Gefühl nicht in ihm und eine Begleiterscheinung seines Patriarchenalters, und als sei es auch nicht der Nordost, der schneidend vom Schloß her nach dem Brandenburger Tor fegte. Diese Kälte schien ihm aus den Häusern und Menschen einer neuen Zeit umherzuströmen. Die Vorüberkommenden schritten eiliger als in anderen Städten, die Gesichtszüge zeigten die Linien eines härteren Willens. Die Stimmen klangen schärfer als anderswo. Die Ordnungsrufe der Schutzleute gellten an Kranzlers Ecke wie auf dem Exerzierplatz. Börsenleute, die nach der Burgstraße gingen, erzählten sich leidenschaftslos allerhand schlechte Witze. Die neuen Bauten, die an Stelle des zopfigen Alt-Berlin emporwuchsen, ragten in abweisendem, unbeseeltem Prunk.

Aber es schien dabei dem Grafen Pritzig, als stünden inmitten dieser halb amerikanischen Hochburgen der Nützlichkeit und des Geldes unsichtbar die ewigen deutschen Luftschlösser, als wölbte sich über den Wolkenkratzern das Wolkenkuckucksheim. Die riesengroßen Überschriften der Morgenblätter in den Zeitungskiosken loderten: »Jamesons Raubzug in Transvaal!« »Helft unsern Brüdern, den Buren!« An den Litfaßsäulen waren flammende Volksversammlungen wider das schnöde Albion angekündigt. Aus den Bildern in den Schaufenstern blinzelte bauernschlau Ohm Krügers grobgeformter Schädel. Da war wieder das alte Deutschland. Da war wieder der Ritt hinter dem Regenbogen her ins Nirgendwo.

Und da stand vor Exzellenz von Pritzig Hans der Träumer leibhaftig mitten im Weg und leuchtete ihn aus zwei kindlichen, warmen, dunklen Augen an, und ein kleiner, zierlicher Herr mit weißem Vollbart und weißem Krauskopf und seinem, rosigem Gesicht, nur wenige Jahre jünger als der pommersche Grande, streckte ihm herzlich beide Hände entgegen.

»Reinhold ... Nanu – du in Berlin!«

»Ich hab's daheim nicht mehr ausgehalten!« sagte Reinhold Nimis, der alte Achtundvierziger aus Darmstadt. »Ich hab nicht mehr schlafen können vor Herzklopfen wegen der Buren ...«

»Da bist du hier vor der rechten Schmiede! Ganz Berlin überschlägt sich im Burenkoller ...«

Reinhold Nimis überhörte es glücklicherweise.

»Ja – nicht wahr: das ist schön! Das ist groß!« sprach er still begeistert. »Ein ganzes Volk, das sich für seine Freiheit gegen diese elenden englischen Krämer erhebt! Ich bin froh, daß ich hierher gefahren bin! Ich bin froh, daß ich das auf meine alten Tage noch erlebe! So war in unseren frühesten Kinderjahren, Louis Ferdinand, die herrliche Zeit der Schwärmerei für die edlen Polen!«

»Ich war damals, in den dreißiger Jahren, schon zehn Jahre oder so was! Ich erinnere mich an den Rummel noch ganz genau!«

»Was damals die hochsinnigen Polen, das sind jetzt die heldenmütigen Buren! Herolde der Freiheit! Der Freiheit, Louis Ferdinand, meiner alten, ewigen Liebe ... der Freiheit! Hoch die Buren!« Dabei schwenkte Reinhold Nimis wirklich sein Hütchen und fuhr begeistert fort: »Eben hab ich eine reine Herzensfreude gehabt! Ich hab, wie ich ankam, rasch in irgendeiner Kneipe am Bahnhof was gegessen. Ich setze mich immer gern unter das, was ihr das Volk nennt! Denk dir, Louis Ferdinand, über dem Stammtisch hingen in dem Lokal die Bilder der Burenhelden. Ganz einfache Leute waren eben dabei, aus Deutschland eine Glückwunschkarte an den Ohm Krüger zu schreiben. Ich durfte sie mitunterzeichnen. Ein Herr Krause schickte sie ab. Ein Strumpfwarenhändler. Du – das ist ein prachtvoller Mensch! Den solltest du kennenlernen!«

Exzellenz von Pritzig sagte nichts.

»In dem Ecklädchen, wo ich meine Zigaretten kaufte, stand ein Opferkasten für die Buren. Die einfachsten Leute kamen in einem fort von der Straße, warfen ihr Scherflein hinein und gingen weiter, als sei nichts geschehen! Da soll einem nicht das Wasser in die Augen treten!«

»Dabei haben sie vor acht Tagen nicht geahnt, daß es Buren auf der Welt gibt!«

»Ich wollte mir hier in Berlin ein paar Kistchen extra guter Zigarren spendieren und mit nach Hause nehmen. Aber dann hab ich mir gedacht: Was braucht ein alter, unnützer Kerl wie du noch solch üppiges Kraut! Denke du lieber jeden Sonntagmorgen, statt zu rauchen, an die Buren! Da hab ich die hundert Mark eben an den Ohm Krüger geschickt! Er kann es brauchen!«

»Du lieber, alter Esel!« sprach Herr von Pritzig gemütlich.

»Bei uns in Darmstadt sammeln die Schulkinder für die Buren. Ich hab ein Hilfskomitee gegründet. Deswegen bin ich in Berlin!«

»Und was haben wir Deutschen davon?«

»Lieber Louis Ferdinand, wenn wir Deutschen einmal irgendwo in Not sind und Hilfe brauchen, dann werden die wackeren Buren die ersten sein, die ohne Menschenfurcht kommen und uns helfen. Da bin ich unbesorgt, wenn auch wir beide es vielleicht nicht mehr erleben! Aber es geht nicht um Dank! Es geht um Gotteslohn! Es geht um die Freiheit! Um die Freiheit, Louis Ferdinand, um die Freiheit!«

»Und dafür sollen wir die tollsten Händel mit England kriegen?«

»Ja, gewiß!« sagte Reinhold Nimis ganz erstaunt.

»Mit allem auf der Welt, was britisch ist?«

»Ja, hoffentlich!«

»Du großes Kind, weißt du, was das für Deutschland heißt, sich blindlings, nach Rußland und Frankreich, auch noch mit der dritten Großmacht zu verfeinden?«

»Weh dem Tag, Louis Ferdinand, wo wir nicht mehr Bekenner sind! Ich glaube an die Menschheit! Ich glaube an die Freiheit! Ich glaube an Zeichen und Wunder in der weiten, weiten Welt! Ich bin ein Deutscher!«

Es war ein trüber, grauer Wintertag. Trotzdem war es dem alten Grafen, als schiene plötzlich die Sonne durch das bleiche Gewölk über Berlin und vergoldete den unscheinbaren kleinen Herrn an seiner Seite mit einem Weihnachtsglanz. Der wiederholte: »Ich bin ein Deutscher! Du bist ein Preuße, Louis Ferdinand! 's ist eben doch ein Unterschied!«

»Ja. Du hast dein Herz auf der Zunge, und ich hab Haare auf den Zähnen! Das braucht's nämlich auch im Leben! Und zwar sehr, mein alter, guter Reinhold!«

Der alte Achtundvierziger verstummte etwas gedrückt und verschüchtert bei den schroffen Worten des langen, greisen Junkers an seiner Seite. Er ging mit ihm nach dem Hause am Königsplatz und betrat dessen Wohnung.

»Nu mach es dir mal bequem!« sagte Graf Pritzig zu dem Jugendfreund, ließ ihn in seinem Arbeitszimmer sitzen und begab sich hinüber zu seiner Nichte. Ein Herr erhob sich da bei seinem Eintritt, raffte Papiere in eine Mappe und verschwand mit höflicher Verbeugung.

»Ich hab mir den Rechtsanwalt kommen lassen, Onkel! Er meint, an sich sei so eine Ehescheidung furchtbar einfach ...«

»Zunächst sind wir erst bei der Trennung! Hör mal zu, Kind!«

Sie folgte ruhig seinem Bericht über die Unterredung mit ihrem Mann. Er schloß: »Das Weitere werden wir ja nun sehen! Du ... Klothilde ...«

»Ja.«

»Wenn du heute lieber auf deinem Zimmer essen willst...«

»Warum?«

»Ja. Der alte Nimis ist mir unversehens ins Haus geschneit ... der Vater ... du weißt... Er ist, wenn er nach Berlin kommt, ein für allemal mein Gast ... Ich kann ihn nicht gut ausladen!«

Aber zu seinem Erstaunen erschien Klothilde von Spängler trotzdem zur Mittagstafel. Blaß und schweigsam war sie schon bisher gewesen. Das fiel den anderen nicht auf. Und Reinhold Nimis selber war viel zu unbefangen und lebhaft, um irgend etwas zu merken. Sein freundliches, altes Gesicht lag im Sonnenschein, während er auf ihr Söhnchen zeigte, das neben ihm saß.

»Der kleine Mann und ich sind schon seit einer Stunde dicke Freunde! Er hat mir schon von seinen Bilderbüchern erzählt und seinen Schönschreibheften! Die zeigst du mir nachher, Bubi – gelt? Ich bin für ihn auch schon ein Opapa! Es ist ja auch jetzt meine Hauptbeschäftigung, Großpapa zu sein!«

»Warst du jetzt in Wien bei deiner Tochter, Reinhold?«

»Ach ... Wien ...« Die Schatten, die über Reinhold Nimis' weißumkraustes, feingefälteltes Gesicht gestrichen waren, wichen einem warmen Licht in den jugendlich glänzenden, dunklen Augen. »Nein, Louis Ferdinand. Ich denke jetzt hauptsächlich an meinen Sohn in Lütthahn und die Seinen! Der Leo hat ja auch schon zwei Jungen ... ein paar Jahre jünger als das Kerlchen da... Ach ja, da geht mir das Herz auf, wenn ich meinen Leo schau, und wie weit er es mit seinen knapp fünfunddreißig Jahren im Leben gebracht hat!«

»Man kann ja nicht sagen: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!«, wandte er sich wieder an Exzellenz von Pritzig. »Der Apfel ist sehr weit vom Stamm gefallen! Der ist ein neuer Deutscher nach eurem Sinn! Natürlich: Er ist unter den Amerikanern geboren und bei ihnen und den Engländern in die Schule gegangen. Jetzt baut er das Lütthahnwerk da unten am Rhein aus! Ich bin ja ein altes, unpraktisches Geschöpf. Ich hab es nie verstanden, Schätze zu sammeln. Aber mir geht doch immer das Herz auf, wenn ich so sehe, wie da der Wille eines einzigen Mannes immer neue Fabriken aus dem Boden stampft und Stollen von einer Tiefe in die Erde treibt, wie man es nie für möglich gehalten, und mit einem einzigen Wort die immer noch wachsenden Tausende von Arbeitern regiert ...«

»Wie ein Feldherr seine Truppen ...«

»Nein, nein, Louis Ferdinand! So denkt ihr Preußen, daß immer nur befohlen und gehorcht werden muß! Der Leo hat so eine merkwürdige Art, die Leute unabsichtlich, wie spielend, zu überzeugen. Er kennt jede Maschine und macht im Vorbeigehen jeden Handgriff vor. Jeder Arbeiter, der glaubt, er habe eine kleine Verbesserung gefunden, kann ohne weiteres zu ihm, und da sitzen sie dann beisammen und basteln wie zwei Kameraden! Er sagt: Ich bin der erste Arbeiter von Lütthahn, weiter nichts! Ich mach es besser als die andern! Das wissen sie alle. Da wären sie ja dumm, wenn sie mir nicht parierten!«

»Ja. Ein Mann wie er kann wohl so sprechen!«

»In der letzten Generalversammlung stand er, mit den Händen in den Taschen, und sagte, wie sich das Toben gelegt hatte: »Meine Herren! Wir fürchten uns doch nicht vor der Arbeit! Also wollen wir uns auch nicht vor den Arbeitern fürchten! Dem Arbeiter seine Arbeit näher zu bringen und liebzumachen – das ist das große Problem der Zukunft. Darin stecken auch Ihre Prozente, meine Herren!«

»Und die Prozente steigen von Jahr zu Jahr?«

»Reißend. Er arbeitet jeden Tag sechzehn, achtzehn Stunden. Einen Sonntag kennt er überhaupt nicht. Natürlich hilft ihm auch die Frau. Die steht hinter ihm. Sie treibt ihn sogar. Sie steht so gut wie ganz auf seiten der Arbeiter ...«

»Sag mal, Reinhold, um wieder auf die Buren zu kommen ...«

»Sie ist ja ein merkwürdiger, schwieriger Mensch. Aber darin finden der Leo und sie sich und ergänzen sich wundervoll. Es sind beides Menschen, deren Leben buchstäblich in dem für andere aufgeht!«

»Der gute Ohm Krüger, Reinhold ...«

Der alte Herr ließ sich nicht ablenken. Seine Gedanken waren bei seinem Sohn.

»Neulich hat der Leo mich, wie ich ihn besuchte, durch die ganzen Anlagen geführt. Man versteht sein eigenes Wort nicht. So ist der Lärm. In dem Durcheinander bewegt er sich Tag um Tag. Mir wird ganz schwindelig, wenn ich überall dies Gezappel von Stangen und Rädern seh! Und das ist nur die Hälfte seiner Tätigkeit. Die Stille in den Kontoren ist beinahe noch unheimlicher. Da sitzen sie, ein Zimmer voll neben dem andern, und rechnen und telegraphieren und kabeln um die Erde. Die Lütthahner Werke, sagt Leo, fangen schon an, überall auf der Welt bekannt zu werden. Gerade, wie ich da war, kamen riesige Aufträge aus Südamerika zum Abschluß. Fünf Minuten darauf gab er schon Befehl zu Konstruktionsberechnungen für einen neuen Fabrikbau!«

»Ein ganzer Kerl!«

»Ja – nicht wahr? Wenn man denkt, ein einziger Mann macht das alles! Ohne ihn fehlte der lebendige Atem. Alles kreist um ihn. Alles um ihn ist Arbeitsfreude, Kampf ... Erfolg ... Donnerwetter ja, Kinder.«

»Ja, ja, Reinhold, du kannst schon stolz sein!«

»Und das ist nun das Unerklärliche bei meinem lieben Leo: diese Anfälle von Schwermut, die plötzlich mitten im vollen Schaffen, im Kreis der Seinen, auf der Höhe des Lebens über ihn kommen! Früher hat er das nie gehabt. Er zeigt es auch jetzt niemand. Aber vor seinem alten Vater kann er es nicht verbergen. Ich kenne ihn zu genau ...«

Reinhold Nimis brach ab und setzte dann hinzu: »Er leugnet es mir gegenüber auch nicht ab, wenn er in dieser rätselhaften, traurigen Stimmung ist! ... Aber warum diese traurige Stimmung immer wiederkehrt – bei einem Mann aus einem Guß und ohne Nerven wie ihm – das sagt er mir nicht ...«

Er schaute erstaunt auf den leeren Stuhl ihm gegenüber.

»Wo ist denn deine Frau Nichte hin, Louis Ferdinand?«

»Sie hat sich zurückgezogen!« sagte Graf Pritzig. »Du mußt sie entschuldigen. Sie ist noch angegriffen von der langen Reise.«


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