Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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XIV.

Der Morgenstern stand noch funkelnd über dem Niederrhein, als Leo Nimis aus dem Nachtschnellzug stieg. Er hatte seine Ankunft in Lütthahn nicht gemeldet. Sein Wagen war nicht da. Er ging zu Fuß den wohlbekannten Weg. Es war alles wie sonst. Das Nebelheim der Arbeit, grau in grau, zuweilen fern ein zorniges, blutrotes Aufzucken aus der Tiefe. Die Straße war leer. Langsam stieg wieder ein neuer bleicher Tag herauf. Als sich der Generaldirektor Nimis seinem Reich näherte, ragten die Schornsteine schon bis oben sichtbar in der fahlen Luft. Noch war alles still. Die Arbeit hatte noch nicht begonnen. Er trat durch die kleine Seitenpforte, zu der nur er einen Schlüssel hatte, in die Fabrik. Schritt durch die leeren Säle. Stumm standen da in langen Reihen die Maschinen. Jetzt, wo sie nicht nach dem Willen des Menschen unter dem Peitschenhieb des Dampfes keuchten, schienen sie ihm fremd, plump, unheimlich, wie Ungeheuer der Vorzeit. Er blieb stehen und betrachtete die schlafenden Drehbänke, die Niet- und Fräs- und Lochmaschinen, den dumpf harrenden Dampfhammer, die Kuppeln der Tiegelöfen. Er kannte in diesem Rattenkönig von Rädern und Riemen jede Schraube, jedes Ventil, jede Steuerung. Er selbst hatte seinen Witz daran abgemüht, dem toten Stahl immer neue lebendige Kräfte zu erpressen. Er hatte selbst in blauer Bluse, den Hammer in der Faust, an der Werkbank gestanden. Er konnte seinen Formern und Gießern jeden Handgriff vormachen. Er legte seine Rechte auf das nächste geölte Stahlstück. Die Berührung war eisig kalt wie die einer Leiche. Und dies Frösteln, dieser Schauer des Widerstrebens, kroch ihm durch die Fingerspitzen und den Arm bis in das Herz und bis in die Seele. Er sah um sich eine Welt ohne Seele. Eine Welt ohne Liebe. Ihn dünkte es auf einmal: eine Welt ohne Sinn.

Er betrachtete kopfschüttelnd seine anvertrauten, mächtigen, stumpf glotzenden Maschinen. In dieser Stille und Einsamkeit schienen sie ihm nicht Gebilde von Menschenhand, sondern Menschenfresser. Der Dampf, auf den sie warteten, dieser heiße, weiße Dampf, war nicht mehr der Diener. Er war der Herr des Hauses.

Wehe dem Haus, in dem das Gesinde den Herrn haßt und ihm nur gezwungen dient! In dem die Arbeit nicht mehr der Sinn des Seins ist, sondern sein Widerspruch in unwilligen Seelen! Leo Nimis stand vor einem mächtigen Compoundkessel. Das Ungetüm thronte finster wie ein Götze auf seinem Altar. Er dachte sich: In der Welt, aus der ich eben komme, da spricht der Bauer vom lieben Vieh. Könnte man sich vorstellen, daß ein Fabrikarbeiter von den lieben Maschinen spricht? Hier klafft eine Kluft! hier ist keine Brücke zwischen gestern und heute. Hier fehlt etwas. Hier schiebt sich ein Nichts zwischen das Erz hier und das Herz dort. Die Welt glüht und ist doch kalt. Diese Welt donnert und ist doch tot.

Seine Schritte hallten in den verräucherten Riesenwölbungen. Er trat wieder auf die Höfe hinaus. Ein Fabrikwächter stand, den Hund neben sich, an der Stoppuhr und legte stumm, als alter Soldat stramm stehend, die Hand an den dunkelroten Mützenrand. Leo Nimis dankte und ging weiter. Am Boden lag etwas Schwarzes. Ein Brocken Kohle. Er hob das kleine Stück versteinerter Urwelt auf und wog es in der Rechten. Seine Handfläche schien von der leichten Last zu brennen, als strahlten unterirdische, unheimliche Kräfte von der Kohle aus, und wieder ging es ihm durch den Kopf: Ich halte dich. Aber eigentlich hältst du mich. Jeden hältst du hier im Umkreis. Alles hältst du, was lebt. Wir haben deinen ewigen Schlaf im Erdinnern gestört. Wir haben die schwarze Unterwelt gerufen. Die Kohle ist emporgestiegen und zur Oberwelt gekommen. Das Bild des Erdballs ist verrußt. Schwarzer Staub färbt die Seelen. Die Welt ist grau. Der Blick nach oben durch Qualm getrübt.

Er warf das Stückchen Kohle weg. Er sagte sich: Da liegst du im Schmutz. Ich trete dich unter meinen Fuß. Und doch bist du stärker als ich, stärker als alles. Du bist die Kohle. Du bist der König der Zeit ...

Um die Ecke klangen die Stimmen einer Frau und eines Mannes. Sie tönten sonderbar laut in der Morgenstille. Sie schienen sich zu streiten. Leo Nimis runzelte die Stirn. In dieser Stunde hatte überhaupt niemand außer den Wächtern und dem Feuerpikett etwas in der Fabrik zu suchen.

»Ich hatte Sie wirklich für vernünftiger gehalten. Schon als den Vetter meines Mannes ...«

»Mei liebe Frau Nimis, auf das Leoche pfeif ich! ... Den Schote kenn ich! .. Für den gibt's nix als Geld verdiene ... Geld verdiene ... Geld verdiene!«

»Das ist seine Pflicht!«

»Aber das macht den Mann verhaßt! Seller Fuchs im Schafpelz kann mich lang uze! Der kann sich heimgeige lasse wege mir ...«

Leo Nimis erkonnte an der Mundart von der Bergstraße, die hier am Niederrhein fremdartig klang, den Vetter Robert, den Herausgeber der »Freien Stimme«. Er ging um das Gebäude herum. Eine Trümmerwelt von verrostetem Alteisen, verbogenen Schienen, mißglückten und verschlackten Gußstücken, ausgebrannten Kesseln füllte in abenteuerlichen Hügeln den Hinterhof. Auf dem höchsten dieser Abfallhaufen der Arbeit standen, wie zwei Feldherren, seine Frau und der Vetter, sie ärgerlich, er seelenruhig, breitbeinig, die Hände in den Taschen des abgetragenen Überziehers, den Schlapphut in die Stirn gedrückt. Er hatte sich einen Vollbart wachsen lassen und sah viel älter aus. Das verwegene, draufgängerische Lächeln seiner Jugend hatte sich in zwei bittere Falten verwandelt, die von den Mundwinkeln abwärts liefen.

Ottonie Nimis wunderte sich weiter nicht, ihren Mann plötzlich vor sich zu sehen. Er kam oft unerwartet von Geschäftsreisen zurück. Sie war auch immer viel zu beschäftigt und von der Sorge um das Nächste erfüllt, um sich andern Eindrücken hinzugeben. Ihre hohe, ebenmäßige Gestalt war immer überschlank gewesen. Aber in letzter Zeit wirkte sie beinahe hager. Das regelmäßige Antlitz schien abgemagert, verzehrt von der Leidenschaft ratloser Tätigkeit, die in den tiefliegenden, fanatisch blauen Augen brannte.

»Vom Leo kommt nix Gutes! Da sind Sie letzt, Frau Nimis, wenn Sie mich mit dem Oberprieschter vom goldenen Kalb einfange wolle ...«

»Und was kommt von dir, du Simpel – he?« Leo Nimis klomm den klirrenden Hügel hinauf und schlug dem Vetter von hinten kräftig auf die Schulter. »Die Leute verhetzen! Unruhe stiften! Die Arbeit stören, wenn sie einem gerade auf den Nägeln brennt – das sind deine Kunststücke!«

Die junge Frau sah auf den Vetter Robert und zuckte erbittert die Schultern unter dem Mantel, der lose um sie hing. Dieser Mantel war grau, ihr Hut schwarz und schmucklos, ihr ganzer äußerer Mensch klösterlich schlicht, als dürfe sie sich durch nichts von der fahlen Welt der Arbeit um sie herum abheben. Es dünkte ihren Mann, in einem leisen, fremdartigen Schauer, wie er sie vor sich auf dem Trümmerhaufen stehen sah, als sei ihre Erscheinung aus diesen Scherben der Arbeit selber grau in grau emporgewachsen und Fleisch und Bein geworden. Das zwanzigste Jahrhundert am Niederrhein. Er fragte: »Was macht ihr denn eigentlich hier wie zwei Verschwörer in aller Gottesfrühe, Ottonie?«

»Wenn erst die Arbeit losgeht und die Leute das Alteisen abladen, versteht man vor Lärm sein eigenes Wort nicht! Das Eisen kann auch draußen auf das Feld abgefahren werden. Das hast du selbst neulich gesagt!«

»Wenn es sein muß – in Gottes Namen ...«

»Es muß sein, Leo! Kein Platz eignet sich so gut für das große Volksbad wie der verlorene Hof hier. Das Volksbad muß jetzt endlich zustande kommen! Es läßt mir keine Ruhe! Und statt, daß dein Vetter vernünftig ist und mir hilft ... Das Bad ist doch eine Wohltat für die Leute alle!«

»Wir brauche keine Wohltate! Wir verlange unser Recht! Da soll m'r womöglich noch hinterher 'nen Kratzfuß mache und danke! Fällt mir gar net ein!«

»Robert ... Sei nicht so grob!«

»Vor so wohltätige Dame graust mir's! Woher hat denn deine Frau das Geld für selles Bad? Von unserer Arbeit! Von der Dividende abgezwackt! Aber da hapert's halt bei dir, Alterle! Du bischt für die Bäuch' von den Aktionären auf der Welt! ... Sonst kreische die dir ja die Ohre voll!«

»Gebaut wird das Bad doch«, sagte Ottonie Nimis hartnäckig, raffte ihren Rock, stieg über das Gerümpel hinunter und ging mit langen, flüchtigen Schritten davon. Sie hatte eine Fabrikpflegerin gesehen, die, ein Papier in der Hand, sie suchend, an der Ecke stand. Sie war immer in Tätigkeit. Ihr Tag drehte sich so rastlos und selbstverständlich im Kreise wie drinnen die schweren Schwungräder der Maschinen.

Die beiden Männer waren langsam hinter ihr her ebenfalls auf den festen Boden geklettert. Sie standen beisammen. Das Fabriktor hatte sich inzwischen geöffnet. In einem nicht endenden, dunklen Strom quollen die Arbeiter und Arbeiterinnen von Lütthahn herein, zeigten am Eingang dem im Schalterfenster sitzenden Pförtner ihre Ausweiskarte und versickerten in die Säle. Die meisten grüßten im Vorbeigehen. Man wußte nicht, den Betriebsleiter oder den Volksführer. Jedenfalls dankten immer beide. Endlich sagte Leo Nimis: »Wie soll denn das nun schließlich werden?«

»Hier in Lütthahn?«

»Nein, in ganz Deutschland. Auf die Dauer geht das doch nicht so: Zwei Seelen in einer Brust. Zwei Staaten in einem. Nach außen das mächtige Land in Waffen mit der Kaiserkrone darüber und drinnen euer unsichtbares rotes Reich!«

»Unser Reich ist größer als Deutschland! Unser Reich is die Welt!«

»Ich kenn die Welt, Robert! Ich kenn sie wahrhaftig! Ich hab sie leidenschaftlos angesehen, wie sie ist. Ich bin in Amerika geboren. Ich habe meine Wanderjahre im Dienst der Angelsachsen verbracht. Es gibt keinen Erdteil, den ich nicht mehr als einmal betreten hab, bis ich zu meiner Lebensarbeit in Deutschland selbst gekommen bin ..«

»Kunststück, wenn einer das Fräule Buschbeck heiratet ...«

»Glaub mir, die Welt ist anders, als du denkst!«

»Ah bah! Aber anders, als du meinst, der überall rund um die Erde als mit den nämliche Kapitalischte zusammegehockt is! Das Volk – das hat dir feinem Herrn draußen nit verrate, was es denkt!«

»Jeder Mensch, Robert, denkt schließlich zuerst an sich und seine Familie. Dann an sein Land und an sein Volk und zuallerletzt – wenn überhaupt – an die anderen Menschen draußen. Nur wir Deutschen denken immer zuerst an die andern und ganz zuletzt an uns selber! Aber bilde dir nicht ein, daß die andern uns das jemals irgendwie danken werden! Im Gegenteil!«

»Es geht auch nit um Dank, sondern um die Gerechtigkeit! Das sind dir freilich böhmische Dörfer!«

»Nur der deutsche Michel geht in seinen Träumen als Weltbeglücker wie ein Nachtwandler mit allen Menschen Arm in Arm und stürzt im Vollmondschein von der Dachrinne, weil er die Gefahr ringsum nicht sieht: den Haß. Den allgemeinen Völkerhaß gegen Deutschland!«

»Ach geh ...«

»Haß in Rußland! Haß in England! Haß in Frankreich. Haß überall ...«

»Gelt – das könnt euch so passe, mit den Redensarte die Mensche untereinander verhetze?«

»Ich hab den Haß seit fünfzehn Jahren steigen sehen ...«

»Du möchtest wohl auch gar zu gern Kanone und Panzerplatte fabriziere, du Schote – gelt? Dir läßt der Krupp kei Ruh!«

»... so langsam und unerbittlich steigen wie das Meer um eine Insel zur Flutzeit ...«

»... noch emol zwanzig Prozent Dividende mehr ...«

»Robert, wir Deutschen ahnen ja von diesem Haß nichts! Wir sind alle blind, ohne Ausnahme! Wir feiern Feste und reden zuviel und rühmen uns zu laut und strecken gleichzeitig die Hände nach allen vier Windrichtungen aus, um uns mit allen Menschen zu verbrüdern, und überschütten die Welt mit unseren Freundschaftsbeteuerungen und halten die Welt hinterher ganz ehrlich für deutschfreundlich. Im Ausland begreift man's kaum. Bei uns der Bruderkuß und drüben die brennende Lunte. Wehe, wenn sich einmal diese Pulverkammer von Haß der Völker gegen uns entladet!«

»Dabei giltst du noch für klüger als die andern, Leoche, und bischt doch einfältig wie e Heupferd!«

»Dann ist's zu spät, sich die Augen zu reiben! In Frankreich lernen schon die kleinen Kinder in den Volksschulen den Haß gegen die Deutschen. In Rußland ist er eine Art Glaubensbekenntnis geworden, überall im britischen Weltreich fängt er zu gären an! Um Gottes willen, schaut die Menschen außerhalb Deutschlands so an, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen! Sonst gibt es einmal eine furchtbare Enttäuschung ...«

»Die Redensart« kennt m'r! Damit bist bei mir letz! Und jetzt hat's ein End mit der Schlechtschwätzerei! Gute Morge, Leoche!«

Der Vetter schritt davon, die Hände im Mantel, den Kopf gesenkt, in einem Gang, dessen langsames Wiegen, noch von rückwärts gesehen, etwas Unbeirrbares, einem fernen Wolkenziel Zustrebendes an sich hatte. Leo Nimis stieg den Parkhügel zu seinem Haus empor. Er fand seine Frau nicht vor. Sie war irgendwo draußen in irgendeiner Sorge um das Wohl irgendeines Mitmenschen. Auch auf ihn senkten sich aus Stößen von Briefen und Depeschen, aus dem rasch mit Menschen sich füllenden Vorzimmer, aus dem Krankenbett des Schwiegervaters die Sorgen und Ärger der laufenden Geschäfte. Es genügte, daß er ein paar Tage weg gewesen war, um ihm selber und allen andern zu zeigen, wie unentbehrlich er hier war. Der Tag verstrich in Hetze und eben doch wie ein Traum. Ottonie und er sahen sich kaum in Eile eine halbe Stunde bei Tisch. Abends Aufsichtsratssitzung in der Stadt. Bis zum Ende der Woche ging das so im alten Geschäftsgalopp von Lütthahn. Keinen ruhigen Augenblick. Und auch kein Bedürfnis danach bei seiner Frau.

Aber dann kam am Sonntag morgen eine fremdartige Stunde, nicht der Ruhe, mehr des Stillstandes. Des Atemholens von der Arbeit. Sonnenlicht in dem Salon. Kinderlachen aus dem Nebenzimmer. Blauer Himmel und erstes Knospengrün vor den Fenstern. Ferne Feiertagsglocken aus der Tiefe.

»Nun laß einmal deine Grundrisse zu dem Volksbad, Ottonie!«

Sie hob den schwarzgescheitelten Kopf von den Plänen, in die sich ihre dunkelblauen Augen mit stiller Hartnäckigkeit verbohrt hatten.

»Warum bist du so ernst, Leo?«

Er zündete sich eine Zigarre an und setzte sich neben sie. »Ich weiß nicht, Ottonie, nehmen wir das Leben zu ernst oder zu leicht?« sagte er. »Aber das weiß ich immer mehr: Wir nehmen es nicht richtig!«

... Ausschachtungsarbeilen ... Portlandzement... Das Kubikmeter Erdbewegung ... Er schob die Voranschläge zum Volksbad über die Tischplatte aus dem Gesichtskreis seiner Frau und fuhr fort: »In mir ist in letzter Zeit eine Umkehr, Ottonie! Das alles um uns ist nicht richtig. Kann nicht richtig sein. Diese Welt ist ein Widerspruch in sich!«

Er sah, daß seine Frau Mühe hatte, sich aus den Massen des Schwimmbeckens plötzlich in einen luftigen Gedankenbau zu versetzen, in dem ihre rein praktische, unmittelbar auf das Nützliche und Nötige jedes Tages gerichtete Sinnesart keine Handhaben fand. Er sagte: »Heute ist Sonntag. Ich zahle meine Kirchensteuern. Weiter weiß ich von der Kirche nichts. Ich gehe nie in die Kirche. Du auch nicht. Wir haben kein Bedürfnis, etwas über uns zu wissen! Warum?«

Sie machte große Augen.

»Morgen ist Werktag. Meine Leute arbeiten zehn Stunden täglich. Sie sind Arbeiter. Ich arbeite sechzehn Stunden täglich und bin kein Arbeiter. Warum?«

Ein Kopfschütteln drüben.

»Die Arbeiter arbeiten für mich. Ich arbeite für andere. Ich fülle Leuten, die nicht arbeiten, deinem Bruder, deinem Schwager, täglich das Bankkonto neu. Das, was ich für mich und die Meinen zum Leben brauche, könnte ich leicht in einer Stunde täglich verdienen. Warum arbeite ich denn den ganzen Tag? Warum denke ich nicht mehr an mich und an euch?«

»Was hast du denn nur, Leo?«

»Warum mache ich mein Leben so arm? Da hängen Bilder ... Da stehen Statuen... Sie haben viel Geld gekostet. Das weiß ich, denn sonst wären sie nicht da. Aber sie sagen mir nichts, wenn ich sie ansehe! Ich bin ein geldverdienender Barbar.«

»Ja, aber Mann ...«

»In den gotischen Schränken nebenan stehen Hunderte von Büchern. Sie wurden gekauft, weil sich das so schickt. Aufgeschlagen wurden sie nie. Die Blätter kleben noch zusammen. Ich weiß nicht, was allerhand Gutes und Schönes darin steht. Ich würde es auch wahrscheinlich nicht gleich begreifen. Ich habe seit vielen Jahren nichts gelesen, was nicht von Kohle und Eisen handelt. Ich war bisher noch stolz darauf, wie die meisten Männer meiner Kreise, daß wir uns nicht zersplitterten, sondern unseren Beruf ernst nahmen. Ich habe ja niemals Zeit zu etwas anderem gehabt. Ich werde nur einmal in meinem Leben Zeit haben: zum Sterben...«

»Das ist doch ...«, sagte Ottonie Nimis befremdet, aber ruhig.

»Draußen ist der Frühling. Das heißt für mich, daß die Kohlenfrachtraten wegen der Aufnahme der Wassertransporte sinken, und daß am ersten Mai die Kartellverhandlungen mit der Luxemburger Konkurrenz wieder aufgenommen werden müssen ...«

»Komisch bist du heute ...«

»Unten gehen Menschen. Ich frage mich: Wird der mit Müh und Not neugeleimte Arbeitsvertrag bis auf weiteres halten, oder gibt es bald wieder Lohnkämpfe? Die Sonne scheint. Siehst du das Prisma da in den Glasrosetten des Kronleuchters? Dabei fällt mir das Patent für das neue elektrolytische Verfahren ein.«

»Aber Leo ...«

»Da liegt mein Notizbuch. Das ist mein heimlicher Kerkermeister. In dem sind für die ganze kommende Woche schon Tag für Tag Besprechungen und Konferenzen vorgemerkt. Jede Stunde ist im Voraus besetzt. Jede Minute. Alle Menschen empfange ich. Nur mich selber nicht. Für alle habe ich Zeit. Nur für den Generaldirektor Nimis bin ich nicht zu sprechen.«

»So hab ich dich noch nie gesehen!«

»Da ist der Spiegel an der Wand! Ich schau in den hinein und frage mich: Wer ist denn eigentlich der Mensch da drinnen? Ich kenne ihn gar nicht! Ottonie, was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht, daß ich mir selber so fremd bin ... daß ich mich suche und nicht finde ... bisher wenigstens nicht?«

Ottonie Nimis hatte eine Wollstrickerei hervorgeholt. Es war ihr unmöglich, untätig dazusitzen.

»Ich kenne mich selber nicht, Ottonie! Du kennst dich auch nicht! Wir leben außerhalb von uns. Wir wohnen in fremden Menschen.«

»Man soll auch für die andern leben!«

»Aber wir tun es nicht aus Menschenliebe – denn dann müßte es tief aus unserm Innern kommen, wie meinetwegen bei dir –, sondern um die anderen Menschen, soweit wir nur irgend können, zu beherrschen und zu benutzen! Dem Ehrgeiz, stärker zu sein als die anderen, opfern wir uns selbst! Das geht nicht nur mir so! Auch deinem Vater! Vielen, die ich kenne! Wir alle sind entseelt! Wir sind arm wie die Bettler, unwissend wie die Kinder und dabei stolz auf uns!«

Ottonie Nimis lächelte still, während sie strickte. »Es bekommt euch aber ganz gut!«

»...solange man nicht merkt, daß man dabei die Hauptsache verloren hat ... daß einem das, worauf es eigentlich im Leben ankommt, vorenthalten geblieben ist... Dann bekommt man plötzlich einen Schrecken ... eine Unruhe ... Man möchte sich befreien ...«

Er sprang ungestüm auf und trat ans Fenster.

»Da draußen liegt die weite Welt! Ich kenne sie und weiß doch nichts von ihr, weil ich nichts von mir weiß! Es ist noch nicht zu spät, Ottonie! Wir beide sind noch jung. Wir können noch unser Leben ändern!«

Seine Frau ließ das Strickjäckchen für arme Kinder sinken. »Ja aber wie denn?«

»Sieh mal, wir wollen offen sprechen: Die Tage deines Vaters sind gezählt. Er kämpft so zäh gegen den Tod, wie er gegen alles auf der Welt kämpfte. Aber er wird das Frühjahr nicht überleben.«

Sie nickte schicksalergeben.

»Ja, Leo ... die Arzte sagen es wenigstens übereinstimmend!«

»Dann tritt an mich die Entscheidung heran: Soll ich diese ganze ungeheure Last hier allein und dauernd auf mich nehmen?«

»Ja – das mußt du doch!«

»Wer hat denn das Müssen erfunden? Überall in Deutschland dieser ewige Gott: ›Muß‹! ‹Zwang‹! ... ›Gehorsam‹! ... ›Dienst‹! ... ›Pflicht‹! ... Wenn nicht von außen, dann von innen aus einem selbst! Wenn ich erst in diese Tretmühle hineingehe, Ottonie, dann ist meine Seele endgültig verschachert. Dann bin ich für die nächsten dreißig Jahre kein Mensch mehr, sondern eine Arbeitsmaschine der Lütthahnwerke A.-G. Darum ringt und stürmt das in mir: Soll ich die Zeit bis zum Frühjahr und zur Entscheidung nutzen, um meine Tätigkeit hier für andere abzubauen und meinem Nachfolger zu überlassen? Mögen sie sich dann suchen, wen sie wollen! Für uns, Ottonie, bleibt Geld genug. Wir sind reich genug, um sorgenlos zu leben.«

Sie erhob sich.

»Du willst fort von hier?«

Er nickte.

»Mit dir, Otte, und den Kindern.«

»Und wohin?«

»Irgendwohin, wo man Mensch ist!'

»Und dann dasitzen und nichts tun?«

»Im Gegenteil. Mehr tun. Ich habe so viel nachzuholen. Du auch. Du weißt es nur nicht. Aber du wirst es merken. Nur einmal aus dieser Atmosphäre von Dampf und Haß und Feuer und finsteren Blicken heraus! Reine Luft. Ruhe. Selbsterkenntnis. Schönheit des Lebens ...«

»Um Gottes willen ...«

»Was wissen wir von Schönheit, wir armen Nützlichkeitsmenschen? Wir sind ja wie unsere Bergleute unten. Wir leben im Dunkeln und fahren unsere Schicht bis zum Tod. Und droben lacht die Sonne. Ich habe Sehnsucht nach der Sonne, Ottonie! Nach Glanz. Nach Farben. Nach Licht ... Nach Lachen ... Ich kann das nicht so sagen ... Es ist ein Drang. Er kommt einem aus dem tiefsten Selbst!«

»Das ist ja ganz neu ...«, sagte sie mit großen Augen. Ein fassungsloses, erschrockenes Erstaunen zitterte in ihrer Stimme. Er machte eine heftige Schulterbewegung, als würfe er eine wuchtende Last von sich. Er sagte zwischen den Zähnen: »Ich muß hier hinaus ... hinaus ... hinaus ...«

»Und dann? Das Leben ist lang, Leo ...«

»Ich will es nützen. Ich will nicht faulenzen. Dazu ist ein Mensch wie ich ja gar nicht imstande. Ich will gerade das, was ich kann und bin, veredeln. Auch in meinem Beruf. Ich habe da allerhand Pläne, Verbesserungen, Erfindungen. Ich komme hier nicht dazu, mich damit zu beschäftigen, bei dem ewigen Geldscheffeln, eben weil das Fortschritte im großen sind, Versuche, mit denen man nicht gleich aufs Patentamt rennen und die Dividende erhöhen kann! Ich könnte da ein Bahnbrecher sein. Ein Mittler, ein ehrlicher Mittler zwischen den Gelehrten und Praktikern. Manches, was mir vorschwebt, wäre eine Wohltat für die Menschheit. Aber dazu muss der Kopf frei sein.« Es muß Ruhe um einen sein. Feiertag ...«

»Und ich?«

»Du hilfst mir!«

»Ich verstehe ja nichts davon!«

»Du hilfst mir durch deine Gegenwart. Wir kennen uns ja selber gegenseitig noch nicht genug, Ottonie! Wir sind ja niemals dazu gekommen in dem ewigen Drehrad hier!«

»Ich muß jeden Tag wissen, wozu ich auf der Welt bin, Leo!«

»Du hast die Kinder!«

»Die kommen auch hier in Lütthahn nicht zu kurz!«

»Nein. Aber ich ...«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum ...«

»Ich hab es dir gesagt. Ich komme zu dir, Ottonie, und geb dir meine Hand. Nimm sie. Wir wollen zusammen den neuen Weg gehen!«

Ottonie Nimis hatte sich, ehe er ihr seine Rechte hinhalten konnte, auf das Kanapee hinter dem Tisch zurückgezogen. Sie saß da. Ihr Gesicht war weicher als sonst. Ein tiefer, bittender Augenaufschlag unter den dunklen Brauen. Ein sanfter, unerschütterlicher Fanatismus hinten in seinem Grunde.

»Ich lieb dich, Leo! Ich lieb dich wirklich!«

»Ich weiß es.«

»Aber von meiner Pflicht bringst du mich nicht ab!«

»Pflicht gegen dich und mich!«

»Wo wir auch wären, müßten wir mit unserer Rente von der fernen Arbeit anderer leben! Ich kann nicht sitzen und die Hände in den Schoß legen, während andere ihre Hände für mich regen. Das hat mich schon als Kind gequält.«

»Du nimmst das viel zu schwer.«

»Der Mensch ist, wie er ist! ... Und damit hab ich als Mädchen gerungen. Und davon hab ich mich befreit, indem ich einen Mann nahm, der mir helfen sollte, mit ihm zusammen und unter seiner Führung mein unverdientes Glückslos im Leben abzuarbeiten. Ich kann mein Leben nicht umstoßen ...«

»Du brauchst nur zu wollen.«

»Ich kann es nicht, und ich will es auch nicht. Denn es geht mir gegen die Natur. Ich würde tief unglücklich werden und dich mit unglücklich machen! Ich vertrage das Nichtstun nicht ...«

»Begreifst du denn nicht, daß es etwas gibt, was zugleich über der Fronarbeit und über dem Müßiggang steht – etwas Höheres?«

»Das weiß ich nicht. Ich sehe meine Pflicht hier in Lütthahn, in die ich hineingeboren bin, ganz klar vor mir. Die muß ich erfüllen. Sonst würde ich ein zerrissener Mensch und dir ganz fremd!«

»Ja – du hast recht! Wir beide sind durch die Arbeit verbunden. Du und ich.«

»Und gibt es etwas Höheres als diese Arbeit, wie wir sie hier tun, Leo?«

»Nun, dann ist es mir zu hoch. Sei mir nicht böse. Es tut mir so weh, dich zu kränken. Aber es ist bei dir ja auch nur eine Stimmung, Du bist ganz verändert gegen sonst ...«

»Das bin ich.«

»... und das wird vorübergehen. Es hat ja keinen rechten Grund ...«

»Meinst du – –?«

»Ich sehe wenigstens keinen! Kopf hoch! Sei tapfer, Leo! Du bist ein Mann! Ich will dir helfen, auszuhalten...«

»So kannst du mir nicht helfen ...«

»Es wird schon gehen, wenn nur erst diese Anwandlung vorbei ist. Ich will mir alle Mühe geben, es dir zu erleichtern! Ich danke dir, daß du mir einen Einblick in dein Inneres gegeben hast!«

»Es war meine Pflicht, dich zu fragen, ob du einen neuen Weg mit mir gehen würdest!« sagte Leo Nimis. Er verließ den Salon. Drüben in seinem Arbeitszimmer legte eben, als er eintrat, der Diener einen Stoß Briefe der zweiten Sonntagsvormittagspost auf den Schreibtisch. Fast auf allen Umschlägen, die er geistesabwesend durchblätterte, stand ein Firmendruck, und jede dieser Aktiengesellschaften und Bankhäuser war eine Macht im Reich des Geldes. Aber dazwischen duftete ein länglicher, zart blaßblauer Brief. Die Aufschrift groß und steil, aber sichtbar von Damenhand, der Stempel ›Hamburg‹ auf der Marke.

Er wandte sich scheu, beinahe schuldbewußt um, ob der Diener das Gemach verlassen. Es ging ihm, während er hastig das Schreiben aufriß, durch den Kopf: Ich kenne ja nicht einmal ihre Handschrift ... doch ... das ist sie ... Er sah am Schluß der wenigen Zeilen das ›Klothide von Spängler‹. Er las:

... Ich habe hinterher mein Versprechen bereut, das ich Ihnen in Zackenzin gab, Ihnen zu schreiben. Aber nun muß ich es halten. Also es ist entschieden: Mein Mann willigt endgültig ein. Die nötigen Schritte sind bereits eingeleitet und werden, wenn auch bei den vielen Formalitäten erst über Jahr und Tag, zu der gerichtlichen Trennung führen...«

Seine Hand, die den Brief hielt, sank schwer und zitternd auf das grüne Tuch des Schreibtisches. Er setzte sich und starrte vor sich hin.


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