Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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XVI.

An der Brandstwiete zu Hamburg spiegelte sich der neue Lüdinghof, der Sitz der Reederfirma Henry Lüdingworth, in der trüben Flut der Fleete. Vier Stockwerke hoch ragte der im Vorjahr 1897 erst vollendete wuchtige Elbsandsteinbau über die spitzen Giebel der Altstadt. Vier bärtige Bronzeriesen, die handelsbefahrenen Meere der Welt darstellend, stützten als Säulenträger die Eingangswölbung. Das Wappen des Hauses Lüdingworth, die vier Sterne des südlichen Kreuzes, prangte über dem Tor. Darunter flutete vom Morgen bis zum Nachmittag der Strom der Kaufleute und Makler, der Depeschenträger und Bankboten, der Seeleute und Agenten und Börsenfreunde und Ausländer aus und ein. Gleich drüben, am anderen Elbufer, bei Steinwärder, lagen die Dampfer der Gesellschaft. Viele Häfen der Erde kannten die grauen Rümpfe mit den zwei weißen und zwei blauen Ringen an den grellgelben Schornsteinen und dem blauen Viergestirn im weißen Feld der Hausflagge. Auf der großen Wandkarte, die im Privatkontor hing, schossen wie lange, gekrümmte Wasserschlangen die Lüdingworthschen Schifffahrtslinien von Cuxhaven aus in die Nordsee und verteilten sich nach Indien und dem fernen Osten und umringelten Südamerika.

Die meisten dieser Linien waren dick und schwarz gezeichnet. Sie standen in Betrieb. Kleine, mit Nadeln befestigte Fähnchen zeigten auf ihnen den Punkt an, den die einzelnen Dampfer heute, am 29. Juli 1898, mittags 12 Uhr, nach menschlichem Ermessen erreicht hatten. Ein paar andere Linien waren nur rot gestrichelt. Sie lebten vorderhand noch erst im Hirn und Willen Henry Lüdingworths und in den Tafeln mit Schiffsbaurissen und Kostenanschlägen, die vor ihm auf dem Tisch lagen.

Er war jetzt ein Mann in den besten Jahren, zu Anfang der vierzig, groß, breitschulterig, stattlich, mit kleinem Schnurrbart. Er sprach kühl und bedächtig, mit einer unbeirrbaren Gelassenheit. Er lächelte gemütlich, manchmal sogar mit einem schalkhaften Schimmer in den Augen. Es gab aber keine Sekunde in seinem Leben, in der er nicht genau wußte, was er wollte, und alles konnte, was er wollte, und nichts wollte, was er nicht konnte.

Er setzte in langsamen, starken Zügen seinen Namen unter einen Vertrag. Der hieß: Über Jahr und Tag gleiten zwei neue Achttausend-Tonnen-Steamer von der Helling der Schiffswerft Fock und Noster drüben von den rauchenden Stapelplätzen hinab unter Musiktusch in das hochaufspritzende Wasser der Elbe.

Herr Fock, der Chef der Schiffbaufirma, saß ihm gegenüber. Sie schüttelten sich die Hand. Sie machten nach Hanseatenart nicht mehr viel Worte. Die Sache war erledigt. Deutschland griff über die Welt. Der Hamburger Hafen kam kaum mehr mit, mit Händen und Hämmern, um immer neue Wasserbecken und Werften, Trockendocks und Schwimmdocks, Baggerrinnen, Kais, Krane, Lagerhäuser für den stürmisch wachsenden Wogenschlag des Welthandels aus dem engen Uferraum der Elbe zu gewinnen. Mehr als hundert Dampferlinien umspannten von Hamburg aus die Weltkugel. Mächtige andere Adern strahlten von Bremen aus. Auf allen Meeren wehte die schwarzweißrote Flagge.

»Wir können's beim besten Willen nicht billiger machen«, sagte Herr Fock, der leitende Mann der Fock & Noster-A. G. »Alle Werften sind überlastet seit Ende November vorigen Jahres ...«

»Tja ... Seitdem verdient ihr ja wohl nicht zu knapp an den men of war und die am Niederrhein an den Panzerplatten auch! ...«

»Man muß sich nur klarmachen, was das heißt, daß das Reich auf einmal im letzten Herbst als derart riesiger Auftraggeber auftritt. Innerhalb von einer Handvoll Jahren eine Schlachtflotte ersten Ranges zu bauen, wie wir das ja nun wohl vorhaben ...«

Die beiden königlichen Kaufleute schwiegen nachdenklich. Sie wußten, daß sie beide dasselbe dachten, und Henry Lüdingworth sprach es aus: »England ... England ...«

»Seefahrt tut not! Wir sind schon fast allen Nationen voraus! Wir nähern uns schon der Spitze, wo der Engländer segelt.«

»Und eben darum ist's ein Welthandel auf Widerruf. Wir fahren über See und nehmen unterwegs englische Kohlen. Sonst kommen wir nicht weiter. Ich gebe meinen Kapitänen draußen meine Weisungen durch englische Kabel. Die englischen Leuchttürme zeigen meinen Schiffen im fernen Osten den Kurs. Wenn es den Engländern heute einfiele, den Suezkanal oder die Straße von Gibraltar zu sperren, könnte keiner von meinen Steamern zurück.«

»Ja. Lüdingworth ... Das soll wohl so sein ...«

»Wir haben unsere gewaltigen, schützenden Zollmauern gegen England. England gibt uns überall auf der Welt in seinen Kolonien und Dominions den Handel frei.«

»Tja ... Wir haben viele Pferdelängen im Rennen um den Weltmarkt vor ihm gut!«

»Wie lange noch, Fock?«

»Sie fangen schon sachte an, ungemütlich zu werden ... dort drüben ...«

»England kann uns eines schönen Tags sein Haustor vor der Nase zuschlagen, und sein Haus ist die halbe Welt. Dann stehen wir da!«

»... oder es kann uns hintenrum von den Meeren vertreiben, indem es uns seine Kohlen und Kabel und Docks und Lotsen draußen sperrt!«

»Wohl möglich, Lüdingworth!«

»Und dann?«

»Auf einen Seeräuber anderthalb! Deswegen bauen wir ja die zweitgrößte Kriegsflotte der Welt!«

»Ja. Wir müssen sie bauen ... Aber England führt seit Jahrhunderten grundsätzlich Krieg gegen den Festlandstaat, der die zweitgrößte Kriegsflotte hat!«

»Das ist ja die Zwickmühle, in die wir so sachte kommen! Umkehren wollen wir nicht. Können wir gar nicht! Der deutsche Handel läßt sich so wenig stoppen, wie ich bei Flutzeit die Elbe abwärts laufen lassen kann. Und wo bliebe da wohl auch unser Geschäft?«

»Was wollen wir also tun?«

»Lavieren ... lavieren ...«, sagte der Werftherr von Fock & Noster. »Vorsicht ... Vorsicht... Ein guter Kapitän muß es bei der Winterpassage nach den States in der Nase haben, ob ein Eisberg heranschwimmt, und ausweichen ... Nur nicht die drüben immer noch mit der Nase auf alles stoßen... Nur nicht ewig soviel Lärm mit allem machen, was in Deutschland geschieht ...«

Er stand auf und nahm seinen Hut.

»Letzten Monat war ich in Berlin. Neue Zehnjahrfeier. Öffentlicher Dankgottesdienst zum fünfzigjährigen Bestehen der Berliner Schutzmannschaft. In den nächsten Wochen feierliche Eröffnung des neuen Hafens in Stettin, Ständefest in Westfalen. Feldgottesdienst auf dem Waterlooplatz in Hannover. Festtafel im Kurhaus von Oeynhausen. Große Feste im Elsaß. Bei jedem solchen Hurra spitzten sie überm Rhein und dem Kanal die Ohren, und draußen auf dem Meer pfeift der Wind immer steifer, und ich schätze ihn ja wohl bald auf zwanzig Meter in der Sekunde ...«

»Und trotzdem müssen wir hinaus!« sagte der große Reeder entschlossen. »Laßt die Berliner ihre Feste feiern. Wir Hanseaten wissen unsern Weg. Bismarck hat ihn uns gewiesen.«

»Tja – der Mann hat uns zu unserem Glück gezwungen ...«

»Ich war seinerzeit auch schwankend, ob sein Zollschutz für uns ein Segen sei! Nun blüht Hamburg wie noch niemals in all den Hunderten von Jahren ...«

Unwillkürlich blickten die beiden Männer durch das offene Fenster in der Richtung nach Hammerbrook und Horn, wo in unsichtbarer Ferne der Sachsenwald rauschte. Der Schiffbauer fragte halblaut: »Sie wissen ...?«

»Ja ... Ich hörte es schon gestern abend ...«

»Es steht ernst draußen in Friedrichsruh ...«

»Mehr als ernst.«

Ein Schweigen.

»Beinahe acht Jahre haben wir ihn noch hier gehabt«, sagte der Reeder Lüdingworth endlich. »Acht Jahre hätten wir seinen Rat und seine Weisheit für Deutschland noch nützen können. Acht Jahre lang ließ man den größten Mann, der uns nie wiederkommt, wie einen abgedankten Feldwebel in seiner Einsamkeit. Nun ist's zu spät!«

»Der Fürst phantasiert bereits. Ich hörte es aus seiner nächsten Umgebung!«

Der andere Hanseate dämpfte die Stimme, als handelte es sich um ein Geheimnis:

»Denken Sie sich: er nennt in seinen Fieberträumen immer wieder Serbien!«

»Serbien?«

»Ja. Die Ohrenzeugen sagen es!«

»Seltsam! Was soll das kleine Land?«

»Serbien! ... Und dann ruft er wieder mit lauter Stimme: England! ... Rußland ...«

»Das erzählt man Ihnen, Fock?«

»Wörtlich! ... Und dann angstvoll, immer wieder: Aber ach ... Deutschland! Dabei reißt er in seiner Benommenheit an der dicken Schnurquaste über seinem Bett, die ihm sonst zum Aufrichten dient ... so, als wollte er noch einmal aufstehen und warnen.«

Es war draußen ein rechter Sommertag, wie er an der Wasserkante sein sollte. Blaßblauer Küstenhimmel mit der milchigen Trübung weißer Wölkchen, das Salz von kühler Seebrise in der warmen Luft, tausendfache Goldschuppen von Sonnengeflimmer auf dem leise zitternden, tiefblauen Spiegel der Alsterbecken. Aber über die Fülle deutschen Lebens und deutscher Arbeit an ihren Ufern wehten unsichtbare schwarze Flügel. Der größte Deutsche ging wegmüde, gramgebeugt aus dem Lande lachender, um die Zukunft unbesorgter Erben.

In ernsten Gedanken schritt Henry Lüdingworth am Jungfernstieg hin. Er, der Hanseate, kannte die Welt draußen besser als die im Binnenland. Er trug nicht die rosigen Brillen, mit denen Hans im Glück da innen sorglos den ewigen Kampf der Menschen auf den Meeren ansah. Er wußte, daß der Dreizehnte bei Tisch in keinem Hafen und keinem Handelsplatz und keinem Erdteil willkommen war, mochte er noch so herzlich und unbefangen ringsum kalte Hände schütteln und sich an der für andere gedeckten Tafel niederlassen. Der Reeder Lüdingworth war zu nüchtern dazu. Er schied den Schein daheim vom Sein draußen. Er wußte: Die große Seeschlange war kein Ammenmärchen, sondern hauste zu London an der Themse. Er schaute den schon beginnenden lautlosen Weltkrieg über See, der sich um Frachtraten und Handelsbilanzen, Wechseldevisen und Konzessionen, Lloydregister und öffentliche Meinungen drehte, und seine Stirn umwölkte sich. Dann blieb er stehen und winkte: »Herr Brookers ... Herr Brookers ...«

Ein Hamburger Rechtsanwalt aus senatorenfähigem Geschlecht wie Dr. Brookers war ein Mann in hohem Amt und Würden. Bei den großen Handelsgeschäften, die langsam und bedächtig, stundenlang in seinem Bureau besprochen und bestritten wurden, ging es um Millionen. Es war nur eine Gefälligkeit, daß er die Ehescheidungssache übernommen hatte. Er trat zu dem Reeder heran.

»Ich habe gerade vorhin die Ausfertigung des Gerichtsurteils bekommen«, sagte er. »Bitte, wollen Sie Frau von Spängler ausrichten, daß sie es morgen früh von mir durch die Post erhält!«

»Ich werd' es bestellen! Ich sehe sie jetzt gleich. Danke Ihnen, Herr Brookers!«

»Bitte, bitte! Die Sache ist nun also erledigt. Bleibt eigentlich Ihre Frau Nichte bei Ihnen wohnen?«

»Ich weiß noch gar nichts!«

Das kleine Dampfboot, auf das Herr Lüdingworth wartete, hatte angelegt. Er fragte halblaut den andern: »Neues aus Friedrichsruh?«

Ein vielsagendes Achselzucken.

»Der Fürst wird diese Nacht kaum überleben.«

»Nun heißt es, ohne ihn weitersegeln!«

»Das tun wir ja schon die ganze Zeit ... Morgen. Herr Lüdingworth ...«

»... Morgen, Herr Brookers!«

Henry Lüdingworth betrat den Dampfer. An der Rabenstraße stieg er aus und ließ die Außenalster hinter sich. Um ihn war der stille, schwere Reichtum von Harvestehude wie gegenüber von Uhlenhorst. Die Sitze der königlichen Kaufleute ragten freistehend, von Teppichbeeten und Wiesengrün umgeben, aus den Parkschatten. So lag auch sein Haus. Er legte ab, stieg die Treppe empor und näherte sich einer Tür im ersten Stock. Er wollte an ihr klopfen. Aber er ließ die Hand wieder sinken. Trat ein paar Schritte zurück. Stand erstaunt. Mißbilligend. Diese laute Sprache da drinnen, in seinem ruhigen Hause. Dies Ungestüm unter seinem Dach, in dem das Leben sich in gemessenen Bahnen bewegte. Die stürmische, atemlose Stimme eines Mannes, der fast ununterbrochen, leidenschaftlich redete. Was, das hörte Henry Lüdingworth draußen nicht. Auch nur ein-, zweimal spärlich, undeutlich, wie von einem Gießbach der Rede des andern weggeschwemmt, ein paar Worte aus dem Munde seiner Nichte Klothilde.

Er wandte sich zu seiner Frau, der Lübeckerin, die die Treppe heraufkam, gleich ihm strengen Tadel in den hochgezogenen Augenbrauen.

»Annemarie ... Was geht hier vor?«

Ihr hübsches, kühles Gesicht war blaß und so erregt, als es ihre angeborene Ruhe zuließ.

»Jetzt haben wir es, Henry! Er ist da!«

»Wer?«

»Wer soll es wohl sein! Du kennst ihn doch besser als ich. Du hast gestern erst davon gesprochen, daß ihr euch schon vor fünfzehn Jahren in Göttingen getroffen habt ...«

»Herr Nimis ist oben?«

»Dem Diener fiel schon seine Aufregung auf. Dem gab er seine Karte. Er möge ihn bei Klothilde melden! Ich hörte den Wortwechsel und kam hinaus. Er stellte sich mir nur flüchtig mit einer Verbeugung vor und gleich in seiner Ungeduld die Treppe hinauf. Eigentlich dem Diener auf dem Fuß ...«

»Und nun ist er drinnen bei Klothilde?«

»Du hörst es ja! Schon seit gut einer Viertelstunde!«

»Was soll man da machen?«

»Wir können gar nichts machen, als hinuntergehen und uns zum Lunch setzen, hier oben stehen, als ob man horchte, schickt sich nicht!«

»Nein. Das schickt sich wohl gewiß nicht! Komm, Annemarie! Nun muß man sehen, was wird!«

»Komm, Annemarie!« –

Es war still auf dem Flur. Der Strahl der Mittagsonne vergoldete schläfrig das verschnörkelte Schnitzwerk der schweren friesischen Schränke. Drinnen in dem Zimmer dämpfte sich die Stimme. Da lag einer auf den Knien und hatte sein Haupt im Schoß der Frau geborgen, die bleich, mit fliegendem Atem, vor ihm saß und mit den Händen seine Schläfen umfing, und er schaute zwischen ihren Händen mit brennenden Augen zu ihr auf und sagte es noch einmal ... immer wieder ... immer dasselbe ...

»Da bin ich ... da bin ich ...«

Er küßte ihre Hände. Sie ließ es willenlos geschehen. Sie beugte sich zu ihm herab. Er küßte ihren Mund. Es war ein heißes, langes Schweigen. Dann wurden seine Züge wieder ergriffen, feierlich, als ob er zu ihr betete, während er zu ihr emporsah.

Die Leidenschaft lohte wie blaue Fackeln aus seinen Augen. Seine Stimme war ein Stammeln. Erstickte Worte überstürzten sich.

»Da bin ich! Ich hab mich losgerissen! Ich bin bei Nacht und Nebel spornstreichs davon! Ich bin ein Flüchtling aus meinem eigenen Haus ...«

»Leo ... weißt du, was du tust ...?«

»Ich hab's schon gewußt, wie ich aus Lütthahn wegging. Ich sollte ja gleich wieder dorthin zurück. Ich hab' alles dort stehen und liegen lassen. Meine Geschäftsbücher fahren frei herum. Aber ich komme nicht mehr zurück ...«

»Leo... hast du an die andern gedacht?«

»Ich denke an niemand mehr als an dich! Ich habe meine Frau nicht mehr gesehen! Ich habe meine Kinder nicht mehr geküßt! Ich hab' mich nicht umgedreht und bin hinaus und in den Wagen gestiegen ... Mir ahnte es: Ich bekomme in Berlin die Nachricht, daß du frei bist ...«

»Ja. Ich bin frei.«

»Da war meine Kraft zu Ende! Wie ich das hörte, da war sie auf einmal zu Ende! Da bin ich! Ich will nur zu dir ... zu dir ...«

Klothildes Lippen sprachen nicht mehr. Sie ruhten auf den seinen. Aus ihren Augen rannen Tränen. Sie bog sich plötzlich angstvoll zurück. Er umklammerte ihre Hände. Er hielt sie fest. Er bat. Er bettelte.

»Nimm mich! Stoß mich nicht von dir ...«

»Ich sollt's ja ... Ich vermag's ja nicht ...«

»Du bist frei! Ich mach mich frei! Draußen ist die Welt! Menschen, die uns nicht kennen. Länder für ein neues Leben! Die Welt ist groß. Wir finden leicht unsern Platz ...«

Ein leises:

»Leicht ist es nicht. Leo ...«

»Da draußen wollen wir leben. Da wollen wir glücklich sein! Da gibt es keine Pflichten mehr! Da schlägt keine Uhr! Da bimmelt keine verfluchte Fabrikglocke mehr. Da stehen einem nicht ewig Leute vor der Tür. Da sind keine Maschinen ... Der Himmel ist blau ... Das Meer ist blau ... Du bist bei mir ... Wirst du bei mir sein? Sag ja ... sag ja ...«

»Ich hab keinen Willen mehr! Nur du hast ihn! Du mußt entscheiden!«

»Ich hab entschieden! Was liegt mir am Beruf... an der Heimat ... an der Familie? ... Nur du ... Nur du ...«

Er ließ sie mit einem letzten Kuß aus den Armen, sprang auf die Füße, reckte sich zornig in den Schultern. Lachte. Wiederholte: »Du hast dich freigemacht. Ich mache mich auch frei. Was du kannst, das kann ich auch!«

»Für dich ist es schwerer, viel schwerer, Leo!«

Er schaute um sich, als wären da Feinde im Zimmer.

»Kommt nur! Kommt nur alle! Ich nehme es mit euch allen auf! Ich war immer stärker als alle andern. Ich werde es diesmal erst recht sein!«

»Leo ... den Kampf mußt du mit dir selbst ausfechten, nicht gegen andere!«

Er riß sie wieder an sich. Er lachte. Es klang wild. Es war etwas jungenhaft Ungestümes in der Bewegung. Zorn in den blauen Augen:

»Ich hab noch alles im Leben durchgesetzt, was ich wollte. Am Größten werd ich nicht scheitern: sei unbesorgt. Ich zerreiße das Netz von Lütthahn. Ich schone mich selbst nicht und kann die andern nicht schonen. Ich hab ihnen meine Seele verkauft und hole sie mir jetzt wieder zurück ...«

Er ging stürmisch auf und ab, blieb vor ihr stehen, breitete die Arme aus:

» ... und bringe meine Seele dir, die sie versteht! Die andern werden sie nie verstehen ... Sie vor allem nicht ... Sie, auf die es ankommt ... Schau nicht weg, Klothilde!«

»Nein ... schau du mich nicht fragend an! Ich kann nichts sagen ... ich darf nichts sagen ... Alles steht bei dir ...«

»... und ich komm zu dir ... Ich bin ja schon bei dir ... bei dir ... komm ... komm leg deinen Kopf an meine Brust ... so ... so ... ganz nahe ... ganz geborgen ... weine nicht ... o bitte ... weine nicht ...«

»Ich fürchte mich ... vor dem, was kommt ...«

»Es kommt nur Gutes ... Bleib in meinen Armen ... laß mich dich halten ... heute ist der erste Tag, an dem ich lebe ... Du bist das Leben ... Du bist das Glück ... Du bist das Licht ... Du sollst mich erlösen ... Laß sie doch reden ... Was liegt daran ...?«

»Ich will ja nur dein Glück, Leo ... Unser Glück ... Aber es muß auch wirklich Glück sein ...«

»Wenn das nicht Glück ist ...«

»Der Tag, an dem du mir später jemals einen Vorwurf machen würdest, der wäre mein Tod ...«

Er schob lachend, mit einer Handbewegung durch die Luft, Welt und Menschheit weit von sich. Er wurde unruhig, fieberig geschäftig. Er überlegte. Eine wilde Jagd von Gedanken flog schattenhaft über seine Stirn.

»Es wird keine Schwierigkeiten geben ... ich weiß es ... Ich kann bald frei sein ... Wir könnten in England heiraten ... Da geht es schneller ... Ich fahre voraus, wenn es soweit ist ... ich ordne alles ...«

Die Ungeduld trieb ihn mit langen Schritten durch das Zimmer hin und her. Zwischen dem Baumgrün des Parks blauten draußen glitzernde Flächenstücke der Außenalster. Man konnte sich einbilden, das sei schon das Meer. Das weite Meer. Man führe hinaus in die Ferne. Er stand neben Klothilde, er streichelte zärtlich ihre Schultern er fuhr ihr mit sanfter Hand über das reiche, kupferbraune Gewelle des Haars, er küßte ihre blassen Wangen, er liebkoste sie wie ein Kind.

»Nur Mut! Nur Mut! Fürchte dich nicht vor dem Leben! Man muß es nur tüchtig anpacken! Dann gibt es sich ... übers Jahr sieht die Welt für uns beide schon anders aus! Da haben wir das Schwerste hinter uns ...«

»Ich hab es schon ... Aber du ...«

»Um mich sorge dich nicht!... Ich breche mir rücksichtslos meine Bahn ...«

In diesem Augenblick klang ihm seine eigene Stimme sonderbar fremd im Ohr. Es war, als hätte ein anderer gesprochen. Es war eine unheimliche Sekunde. Sie wehte vorüber. Klothilde schaute aus ihren heißen, hellbraunen, feuchten Augen zu ihm auf. Sie sagte wieder:

»Ich habe keine Pflicht mehr. Ich habe keine Familie. Ich habe auch kein Vaterland mehr, wenn du willst. Ich bin nur noch ein Mensch, der liebt! ... Aber du ...«

Immer dies: Aber du ... Er zuckte zusammen. Wurde fast ungeduldig.

»Laß das: ›Aber du‹! Ich kann es nicht mehr hören ...«

»Ich muß es aber sagen ...«

»Nimm mir nicht den Mut! Ich brauch ihn! Ich brauche ihn wahrhaftig. Ich habe ihn auch! Pah ... Was ist denn das Leben? Ich hab früher, in fremden Erdteilen, mein Leben als junger Kerl oft genug zum Spaß aufs Spiel gesetzt, bis sie mich in Lütthahn eingefangen haben! Mit dem bißchen Leben wird man doch weiß Gott noch fertig ...«

Dabei ging es ihm durch den Kopf: Aber sie haben dich eingefangen. Du bist hinter Schloß und Riegel. Vorläufig. Du spottest der Ketten, die noch gar nicht zerbrochen sind ...

»Ich bin bei dir ... ich bin bei dir ...«

Er wollte sie leidenschaftlich in seine Arme, vom Stuhl empor und an seine Brust, reißen. Aber sie sprang jäh von selber auf. Entzog sich ihm mit einer angstvollen Bewegung. Trat schwer atmend zwei Schritte von ihm zurück. Er starrte sie erschrocken an. Es schien ihm wie eine düstere Vorbedeutung. Dann erst begriff er. Die Tür hatte sich geöffnet. Ein Hamburger Häubchen erschien in ihrem Spalt. Das Kleinmädchen wollte in dem Zimmer abstäuben, das sonst um diese Zeit immer leer war. Sie war selbst betroffen.

»Oh ... Verzeihung! ... Ich hab geglaubt, gnädige Frau sei unten beim Frühstück ...«

Die beiden waren allein. Aber der Hauch aus fremdem Munde hatte den heißen, farbigen Schmelz dieser Stunde abgestreift. Man hörte wieder draußen das Läuten der Pferdebahn, das Kläffen von Hunden, sogar von unten, durch die offenen Fenster, die nüchterne, langsame Stimme Henry Lüdingworths, der sich beim Essen mit seiner Frau und seiner Mutter unterhielt. Klothilde streckte mit einem schmerzlichen Lächeln ihre Hände aus.

»Ich muß jetzt hinunter ...«, sagte sie.

»Bleib ... bleib!«

»Es fällt sonst sogar den Dienstboten auf! Es wird so schon genug über mich geredet seit Jahr und Tag.«

Er küßte ihre zitternden Fingerspitzen. Ihren blassen Mund. Er ging nach der Türe.

»Heute nachmittag komme ich wieder, Klothilde.«

Sie erwiderte nichts. Jetzt hielt sie noch einmal auf der Schwelle seine Hände fest. Es war wie eine Angst beim Abschied, als wollte sie ihm jetzt sagen: Bleib ... bleib ... Aber es war nur in ihren Augen zu lesen. Ihre Lippen blieben stumm. Unten hörte man den Diener kramen und mit Geschirr klirren. Leo Nimis ging an ihm vorbei auf die Straße.

Und es war ihm in dieser prallen, brennenden Hundstagshitze, in diesen Wellen der Menschen über die Lombardsbrücke und auf dem Jungfernstieg, in denen schwarze und bräunliche Gesichter des Welthafens auftauchten und englische Worte und unverständliche Sprachbrocken da und dort ans Ohr schlugen – es war ihm wie eine ferne Erinnerung an Indien, wo der Mensch, wenn er wollte. spurlos, wesenlos, namenlos in der Masse untertauchte, nur noch ein Sandkorn der Schöpfung mehr war und seinem eigenen früheren Ich fremd, und er sagte sich hoffnungstrunken: So werde ich auch aus meinem Leben verschwinden und hinausgehen als ein Mensch ohne Schatten und Vergangenheit und als ein neuer Mensch ein neues, glückliches Leben beginnen.

Diese Vorstellung erfüllte ihn mit tiefer Ruhe. Er dachte sich, schon wieder im Rausch der Zukunft: Ich bin ja hier schon halb in der Zukunft darin. Ich gehe hier durch eine fremde Stadt und fremde Welt. Ich kenne kein Menschengesicht unter den Tausenden, die mir begegnen. Ich brauche niemand zu grüßen. Niemand weiß, wer ich bin. Selbst im Gasthof habe ich mich unter fremdem Namen als Mr. Walter aus den Vereinigten Staaten eingeschrieben...

Er betrat das Hotel. Ging achtlos an der Portierloge vorbei. Aber der Mann griff an die goldbetreßte Mütze:

»Ihre Briefe ... bitte ...«

Leo Nimis blieb unwillig stehen.

»Briefe? ... Ich erwarte keine Briefe...«

»Eben aus Berlin nachgeschickt ... Ein ganzer Haufen...«

»Ich habe im Berliner Hotel gar keine Adresse hinterlassen...«

»Dort haben sie sie auch einfach nach Hamburg, zu erfragen in einem der ersten Hotels, adressiert...«

»Die Post kann mich hier gar nicht finden...«

»Aber Mr. Walker«, sagte der hinzugetretene Hotelier, mit einem verständnisvollen Lächeln. »Sie kennt man doch überall auf der Welt...«

»Wieso?«

»Ich hab Sie doch schon vor zehn Jahren als Obersteward auf der ›Cumbria‹ zwischen New York und hier bedient. Vor zwölf Jahren war ich zweiter Manager im Royal Hawaiian Hotel, wo Sie sich damals wegen der Zuckerraffineriebauten in Honolulu aufhielten! Na – und dann in Japan ... da haben Sie doch damals monatelang im Klubhotel in Yokohama bei uns gewohnt... Sie kennt doch jedes Kind, Mr. Walter ...«

»Das ist eine Verwechslung, mein Bester ...«

»Ich hab dem Postboten gesagt: Geben Sie nur ruhig her! Ich nehm es auf meine Kappe! Herr Nimis wohnt zwar diesmal, jedenfalls aus Geschäftsrücksichten, hier in Hamburg unter einem andern Namen. Aber er ist es natürlich. So ... bitte ... Hier ist Ihre Post, Mr. Walker. An die vierzig Stück.«

Da war die verlassene Welt wieder. Da griff sie nach einem mit Dutzenden von Armen, wie ein Polyp mit seinen Saugnäpfen tastet. Leo Nimis dachte sich: Ich kann das, was mir andere Menschen schreiben und anvertrauen, doch nicht auf den Boden der Hotelhalle werfen. Ich muß es noch selbst hinauf in mein Zimmer tragen. Aber dort weg damit ... fort ... fort ... in die Ecke ... in Zorn und Grimm ... so ... Da stäubten die Briefe und blätterten sich und lagen stumm im Winkel auf dem Teppich.

Er saß und sah die verschlossenen Umschläge an. Aus denen strömte eine lähmende Macht. Der Zwang der Gewohnheit zog immer wieder seine Blicke auf sie. Er hatte gute Augen. Er las auf zehn Schritte, von der anderen Wand des Zimmers her, die einzelnen Aufdrucke der wohlbekannten Welthäuser, mit denen die Lütthahner Werke in Geschäftsverbindung standen. Er wußte, welche millionenschweren Offerten, Abschlüsse, Entscheidungen für Handel und Wandel, für Wohl und Wehe von Direktionen, Arbeitern, Aktionären, Erfindern sich unter der dünnen Papierhülle bargen. Ach was! Einmal mußte Schluß gemacht werden! Zurück damit nach Lütthahn! Möge sich mein Nachfolger dort mit dem verzögerten Krempel abfinden! Es geht in einem hin!

Aber da lagen noch andere Briefe achtlos auf dem Boden. Die trugen keinen Vordruck. Die Ausschrift: »Herrn Generaldirektor Leo Nimis« stand in Tintenzügen darauf. Er erkannte die Hand seiner Frau. Er biß die Lippen zusammen. Da war noch ganz seitwärts, einsam wie ein verirrtes Schäfchen, ein schmales Kärtchen, sorgfältig mit Bleistift liniiert, darauf mit großen, ungeübten und unsicheren Krakelfüßen sein Name. Also das war die große Überraschung, von der sie neulich geheimnisvoll bei Tisch gewispert hatten. Nun ja: der Älteste ging ja jetzt eben ins siebente Jahr. Er brachte zur Not schon die paar Worte fertig, und unten auf der Ansichtspostkarte vom Niederrhein: »Tausend Küsse von allen Dein Ottonie.«

Er fühlt ein bitteres Naß in den Augen. Er konnte die Briefe von Frau und Kind doch nicht auf dem Teppich herumfahren lassen. Er erhob sich, bückte sich nach ihnen, legte sie vorsichtig auf den Tisch. Setzte sich wieder.

Nach einer Weile erschien es ihm unrecht, sie nicht zu lesen. Man mußte doch wissen, was daheim geschehen war, solange man noch für diese kleine Welt dort verantwortlich war. Er stand von neuem auf. Öffnete den Brief Ottonies. Es war nichts Besonderes darin. Gott sei Dank. Der ahnungslose Tagesbericht eines mitten im Umtrieb befindlichen Pflichtmenschen, etwa so, als ob ein Beamter dem anderen Meldung erstattet. Der Alltag staubte grau wie immer aus den vier Blättern.

Aber der Alltag war nun da. Er hatte noch viele Zeichen in den wohlbekannten Handschriften da am Boden. Man konnte schließlich den Brief des Schwiegervaters da auch nicht liegen sehen. Auch nicht den des angeheirateten Schwagers Mettenberg. Und auch nicht den des Vetters Robert. Ebensowenig den des Max, des Bruders der eigenen Frau ...

Er nahm die Schreiben, riß sie wild auf, durchflog sie. Die ewige Leier ... das alte Lied ... Der alte Buschbeck vom Krankenbett: Puddelstahl ... neues Schweißverfahren ... saurer Bessemerprozeß ... Der fromme Graf Mettenberg aus Schloß Abdinghof: Mehr Rücksicht auf den christlichen Bergarbeiterverband ... Der rote Vetter Robert: Mehr Verständnis für die Forderungen des arbeitenden Volks. Der Landrat ... privatim ... ganz vertraulich: Bitte, im Interesse der Regierung, nur nicht die Karre zu sehr nach links! Der Schwager Max Buschbeck: Geld! ... das war noch das Einfachste: Geld ... Geld ...

Jeder wollte etwas von ihm. Kein Brief ohne eine Bitte, ein Drängen, einen versteckten Befehl. Er stieß den ganzen Stapel von sich. Starrte ihn feindselig an, die Stirn in die Hohlhand gestützt. Hinter dieser Stirn braute es: Eigentlich haben diese Leute ja alle recht. Es sind alles Shylocks. Sie fordern jeder sein Pfund von deiner Seele, kraft ihres Scheins, laut des Vertrags: Du mußt für sie arbeiten. Dafür gaben sie dir die Tochter des Hauses zur Frau. Die drüben haben den Vertrag erfüllt. Also mußt auch du ...

Pah ... weg damit ... weg ... in den Koffer ... So ... aber die Gedanken kann man nicht miteinpacken ... die drehen sich wieder langsam wie ein Mühlenrad, das das gewohnte Wasser empfängt, im Kreise. In der alten Angst um die andern. Herrgott, was mag alles in den Geschäftsbriefen da am Boden stehen? Was wird da versäumt? Was für Dummheiten geschehen da infolgedessen womöglich zu Hause? Wieviel Geld kann da verlorengehen? ...

Er sagte sich mit Schrecken: Es ist nicht dein Geld! Es ist fremdes Hab und Gut. Man hat es dir anvertraut. Du bist doch ein anständiger Mensch. Du darfst die Firma nicht in den Dreck reiten. Auch nicht einen Zoll weit. Es ist ja nur noch heute ... nur noch ein paar Tage ... dann bist du abgelöst ... Nun las er auch noch die Geschäftsbriefe durch, machte Randbemerkungen, schrieb sich Notizen in sein Taschenbuch ... warf alles in die Mappe .. Die Mappe in den Schreibtisch ... den Schlüssel herum ... so ... Jetzt war man frei ...

Nein ... das Zimmer dämmerte grau vom Rauch und Nebel von Lütthahn, so hell auch draußen die Sonne schien. Ein Summen und Brummen war im Ohr wie von den fernen Riemen und Rädern der Fabriksäle ... Menschenlaute ... unbestimmt ... massenhaft wie von Tausenden, die ihren Herrn suchten ... ein verwaister, ratloser Stock von Arbeitsbienen ... Dann, scheinbar ganz nahe, die ruhige, selbstverständliche Stimme einer Frau ... seiner Frau ... helles Kinderlachen ..., Kamillchen ... heul nicht ... sie dürfen dir nichts tun ... Ihr sollt euch nicht immer wie die Indianer mit Kopfkissen schmeißen. Otto und Peterli! Der Papa wird euch schon zwiebeln, wenn er wiederkommt! ...

Er sprang auf, eilte aus dem Zimmer, in dem die Wände sprachen, lief durch die Straßen Hamburgs, stand am Hafen. Da war wieder Arbeit. Die Arbeit überall. Auf den Werften drüben, an den Kranen und im Bauch der Schiffe, in den Schuppen und Speichern. Durch die Fleete. In den Kontoren. Ein ungeheurer Ameisenhaufen wimmelt, verwirrend geschäftig, an den Ufern der Elbe. Unzählige Hämmer tönten im Takt: Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Alle die Leute umher, Arbeiter und Fuhrleute, Makler und Matrosen und Maschinisten, Bootführer und Bankboten, Kaufherren und Kapitäne, trugen auf ihren Gesichtern, hastig oder bedächtig, die Pflicht des Tages. Sie sprachen vom Geschäft und von der Arbeit und von sonst nichts. Und wenn heute, gerade heute, in tiefernst beisammenstehenden Gruppen ein paar andere halblaute Worte fielen, dann waren sie ein Widerhall aus dem Sachsenwald. Die Schatten von Friedrichsruh lagen auf besorgten Gesichtern: Bismarck im Sterben. Deutschland vielleicht schon morgen ohne Bismarck. Hamburg ohne den Mann der Vorsehung aus dem Binnenland, der es von neuem zur Königin der Meere gemacht ...

Leo Nimis stand vereinsamt in dem eintönigen Brausen. Zum erstenmal schien ihm seine eigene Welt fremd. Er sagte sich: Ich will ein Mann ohne Schatten sein. Nun bin ich es schon im Geiste.

Er atmete auf. Einer der Ozeanriesen, der im Strom lag, hatte sich fast geräuschlos von seiner Vertauung gelöst, trennte sich ohne Gruß, ohne Abschied von den Nachbarschiffen, schwamm langsam mit der Elbe abwärts, mächtig die niederen Bauten am Ufer überragend, dampfte dem Meer zu, irgendwohin, hinaus in die Weite.

Der Ostindien- oder Amerikafahrer gab einem Mut. Der wies mit flatternden Wimpeln den Weg. Die Welt war groß. Leo Nimis wurde ruhiger. Die alte Entschlossenheit kam zurück. Er drehte sich trotzig auf dem Absatz um. Ging, ohne rechts und links zu sehen, seines Wegs und sagte sich: Diese Anwandlung von Schwäche ist vorbei. Die muß jedesmal niedergekämpft werden, sobald sie sich regt. Wenn ich jetzt wieder in mein Zimmer trete, haben die Wände keine Zungen mehr und ich kein Ohr mehr für sie. Alles ist da still.

Aber mitten auf dem Tisch schimmerte weiß ein Brief. Wieder aus Berlin nachgeschickt. Ein Eilbrief aus Darmstadt. Die Handschrift des Vaters. Wenn der stille, alte Herr aus seinem Altenteil heraus mit Eilboten schrieb, dann hatte es etwas Besonderes zu bedeuten ...

Da griff es von neuem nach einem ... Hände ... überall Hände, die aus dem Boden wuchsen ... die aus den Wänden herauslangten ... Die einen haschen und halten wollten ... Leo Nimis biß die Zähne zusammen. Er öffnete:

»Lieber Leo! In höchster Eile: Wie ich Dir zugleich mit diesen Zeilen telegraphierte ...« Er stutzte. Hob die Augen. Überdachte: Nein – ich habe keine Depesche erhalten ... Las weiter:

»... telegraphierte, hat sich unser armer Camillo gestern erschossen. Den Anlaß ahne ich. Ich werde ihn in Wien erfahren, wohin ich in einer Stunde abreise.

Hadere nicht mit dem Ärmsten! Ein Mann von Deinem unerschütterlichen Verantwortlichkeitsgefühl und eisernen Pflichtbewußtsein wird es nicht begreifen, daß man sich, welches die Gründe auch sein mögen, aus freiem Entschluß mutlos den Prüfungen, den Lasten und den Leiden entziehen kann, die das Leben nun einmal keinem von uns erspart – daß man auf den weiten, herrlichen Wirkungskreis, für deutsche Art in Österreich einzutreten, verzichten kann, den er sich selbst geschaffen –, daß man sein Kind, sein eigen Fleisch und Blut, verlassen kann. Du würdest so etwas natürlich niemals können. Du könntest nicht einmal an so etwas denken! Aber es sind nicht alle so stark wie Du. Drum richte nicht!

Ich denke milder. Ich bin alt. Mir tut das Herz weh. Ich fürchte, ich habe nicht nur meinen Schwiegersohn, sondern für dies Leben auch meine Tochter verloren. Ich habe dann nur noch Dich. Du bist mein alles und mußt es mir in Zukunft erst recht sein. Wenn ich an Dich denke, dann habe ich eine tiefe Ruhe: Wer sich an Dich hält, der steht fest! Du bist so stark und treu und zuverlässig für alle, die sich Dir anvertrauen, wie keiner!

Ich schreibe Dir gleich aus Wien. Grüße Ottonie und die Kinder. Danke Gott, daß es bei Dir anders aussieht als in Wien und Deine Ehe so ungetrübt ist! Dein Dich zärtlich liebender Vater.«

Nun sah Leo Nimis noch einen zweiten, grauen Briefumschlag auf dem Tisch. Darin war eine Depesche, die ihm als Brief nachgesandt worden war. Er schob sie mit zitternder Hand, mechanisch, in die Rocktasche. Das Schreiben des Vaters hinterher.

Er hatte Scheu, es zu berühren. Es war, als brannte es ihm zwischen den Fingern. Er dachte nicht an Camillo Fronhofer, sondern an sich selbst. Er dachte sich: So ist jetzt noch mein Bild vor den Menschen ... vor meinem Vater ... jetzt noch ...

Und plötzlich drang ein langes Heer von Gedanken auf ihn ein. Umzingelte ihn. Umzischelte ihn. Blies ihm giftig, höhnisch ins Ohr: Der Camillo Fronhofer – das bist du ja selber! Heute noch nicht! Aber morgen.

Er warf zornig den Kopf zurück: Er widerlegte sich selbst: Ich hab' mit dem Camillo Fronhofer nie etwas gemein habt: Wir haben uns nicht verstanden. Mir war er immer zu weich. Ich mag die Träumer und Gedankenspinner nicht ...

Aber die Gedanken spannen sich, ohne das er es wollte, in seinem Kopf. Es war eine Stimme im Zimmer, die sagte ihm, und er hörte mit Schrecken seine eigene Stimme: Ihr beide seid doch einander gleich. Du und der Camillo. Einer wie der andere. Er ist in den Tod gegangen, aber man kann auch in das Leben gehen. Man kann nicht nur sterben, man kann auch leben, und es ist doch dasselbe: Es ist Angst vor dem Leben. Es ist für den, der Pflichten hat, Fahnenflucht vor der Pflicht ... Fahnenflucht vor der Pflicht ...

Leo Nimis war plötzlich ganz ruhig geworden, oder es schien ihm wenigstens so. Er rüstete sich zum Ausgehen. Sah aus die Uhr. Es war schon über die vierte Nachmittagstunde. Zeit für den neuen Besuch drüben in Harvestehude. Er tröstete sich im Treppenhinabsteigen selbst: Das sind nur die letzten Zuckungen und Zweifel, mit denen ich mich gewaltsam von dem Gewesenen losreiße. Das schmerzt. Aber es liegt bald alles hinter mir. Wenn ich erst drüben in Harvestehude sie wieder mit Augen sehe, dann bin ich wieder der, der ich seit gestern bin und in Zukunft sein will ...

Ein Kiesweg führte von dem Eisengitter des Einfahrttors durch den Gartenpark zum Hause des königlichen Kaufmanns. Leo Nimis schritt hastig, ohne rechts und links zu sehen, bleich vor fiebernder Ungeduld, dem Treppenaufgang zu. Da hörte er aus einer Baumgruppe neben sich seinen Namen in einem gastlichen, trocken gemütlichen Tonfall. Henry Lüdingworth saß da, eben nach Kontorschluß von seinem Geschäftshaus, dem Lüdinghof in der Brandstwiete, heimgekehrt, und nahm den Fünfuhrtee im Kreis der Seinen im Laubschatten, unter dem schon etwas Abendkühle wehte. Seine hochbetagte Mutter saß da, die verwitwete Frau Hyma Lüdingworth aus dem Welfenstamm der von der Venne, seine Frau aus Lübecker Patrizierhaus, und zwischen ihnen, in einem weißen Kleid, auf dem vereinzelte Sonnenlichter durch das Blätterdach herab spielten, Klothilde.

Es war ein friedliches Alltagsbild, wie man es überall sehen konnte. Es gab Leo Nimis einen Stich ins Herz. Er kam sich plötzlich als ein Eindringling vor. Aus einer Ecke des Gartens hörte er das helle Kreischen und Tollen von Kindern. Er trat mit verdüstertem Antlitz an den Tisch. Henry Lüdingworth war ein Weltmann. Er tat, als sei gar nichts Besonderes los. Er erhob sich und stellte den Gast vor. Seiner Frau. Dann seiner Mutter. Er mußte laut reden, um sich der tauben alten Dame verständlich zu machen.

»Herr Nimis und ich kennen uns schon von unserer Göttinger Studienzeit her. Ganz am Platz haben wir uns da ja wohl nie so recht gefühlt. Herr Nimis ... Sie als halber Deutschamerikaner und ich als Hamburger in dem Binnenstädtchen. Ich habe es Ihnen damals gleich angemerkt, wie Sie verdutzt zwischen den wilden Cimbern saßen. Ich hab aber stillgeschwiegen. Schweigen ist meist das Beste.«

Daß man auch mit Worten schweigen könne, zeigte er, indem er, als Leo Nimis sich gesetzt und stumm Klothilde die Hand gedrückt hatte, unbefangen bei der Zigarre und über die Teetasse hinweg, in seiner bedächtigen, langsamen Weise das Gespräch sofort ins Weite ablenkte: »Sie wissen, wie es in Friedrichsruh steht, Herr Nimis?«

»Ja ... Ich hörte es ...«

»Wir werden bald die Flagge auf halbstock setzen müssen. Nächstes Frühjahr haben wir hier mit großem Prunk ein Festmahl an Bord des Dampfers ›Fürst Bismarck‹. Aber der Fürst selber wird nicht mehr unter uns sein ... Wir haben ihn ja auch schon lange abgetakelt in Deutschland ...«

Der große Reeder streifte gedankenvoll die Havannaasche ab. »Vorher haben wir kommenden Juni feierliche Schiffstaufe in Kiel. Gleich darauf Festregatta in der Heimat meiner Frau, in Lübeck. Enthüllung einer Gedenktafel an den Großen Kurfürsten auf dem Sperenberg. Ein paar Wochen später feierliche Einweihung des Dortmund-Ems-Kanals. Im Herbst wieder hier in Hamburg festlicher Stapellauf des ›Kaiser Karl der Große‹. Feste über Feste! Den Engländern klingen die Ohren, statt daß wir mäuschenstill unsere Arbeit tun. Und das sind nur die großen nächsten Feiern hier an der Wasserkante. Aber so geht es das ganze Jahr hindurch rastlos rundum im ganzen Reich ...«

»Unsere Verwandten schreiben aus Hannover ...«, sagte seine Frau. »Da ist schon im Januar abermaliger feierlicher Einzug auf dem Waterlooplatz. Im Februar Denkmaleinweihung in Berlin. Guido muß als Kammerherr dabei sein. Er schickt eine Liste: Sängerfest in Kassel. Hundertjahrfeier in Charlottenburg. Denkmalenthüllung in St. Privat. Festmahl in Karlsruhe und Stuttgart. Feierlichkeiten in Straßburg. Es wird einem ganz schwummerig ...«

»Und Bismarck stirbt ...« Henry Lüdingworths kluges, nüchternes Kaufmannsgesicht schaute besorgt in die Weite und über See, »und inzwischen fressen die Engländer still weiter die Welt. Eben sind sie wieder dabei, ihr Hongkonggebiet zu verzehnfachen. Matabeleland, Uganda, das Aschantireich, Nigeria, ganze Brocken von Afrika haben sie allein in den letzten fünf Jahren geschluckt. Das Tschitralland in Asien so nebenbei auch. Jetzt gehen sie daran, den ganzen Sudan zu kapern! Aber ohne jede Festlichkeit, Kinnings! Ohne Denkmalsenthüllungen! Ohne dreimaliges Hurra! Mit nicht mehr Geräusch, als wenn ich meine fälligen Wechsel einziehe. Na ... Gott besser's!«

»Nun – und wie gehen die Geschäfte am Rhein, mein lieber Generaldirektor?« wandte er sich dann lebhaft an Leo Nimis. »Was meint Ihre Schwerindustrie zu dem amerikanischen Hochschutzzoll? Wie finden Sie sich denn mit der Dingleybill ab?«

Leo Nimis schaute ihn schweigend an. Er, der Großindustrielle, fand keine Antwort. Es ging ihm durch den Kopf: In welcher Welt lebe ich? In dieser hier? In meiner? In einer, die nicht ist? ... Nicht sein kann? Die ich mir erst aus dem Boden stampfen muß, um an sie zu glauben? ...

Er sagte ein paar Worte. Sie klangen ihm selber leer. Er fragte sich, in einem Schauer, in einer Einsamkeit wie in einem luftleeren Raum: Bin ich verrückt? Oder sind es diese Menschen hier, die Tee trinken und sticken und rauchen und von Geschäften sprechen wie jeden Tag? Und dabei geht doch die Welt unter. Wenigstens meine Welt ...

Er schaute angstvoll von der Seite auf Klothilde. Sie saß stumm da, mit starrem Gesicht, und rührte sich nicht.

Gott sei Dank ... da lärmte und lachte etwas um die Ecke in das schwere Schweigen. Kinderstimmen ... flatternde Röcke ... eine wilde Jagd hinter den Reifen her über den Rasen.

»Kommt mal her, ihr kleines Volk! Sagt dem Onkel schön guten Tag!«

Henry Lüdingworth strahlte väterlich und stellte seine Töchterchen vor, zwei richtige Hamburger Backfische mit offenem Haar und lustigen Augen. Dann war da noch ein Knabe, etwas jünger als die Gespielinnen, ein Kind von etwa zehn Jahren, mit einem schönen, beinahe südlichen Gesicht und großen, dunklen Augen.

Klothilde von Spängler strich ihrem Sohn über das Haar.

»Gib dem Onkel die Hand!« sagte sie.

Der Kleine machte wohlerzogen seinen Diener. Er stand zutraulich an Leo Nimis' Knie gelehnt. Er war erhitzt vom Laufen. Seine Wangen rot. Leo Nimis hielt seine kleine Hand und schaute ihn an. Und dachte sich: Er ist schön. Schön wie die Mutter. Viel schöner als mein Ottole mit seinem Stiftenkopf und den etwas abstehenden Ohren und auch als das kleine Mickerchen, der Peter ... Aber mir so fremd ... so fremd ...

Und ein ungläubiges, fröstelndes Widerstreben bei der Vorstellung: das soll künftig mein Sohn sein ... und meine Söhne nicht mehr die meinen ...

Henry Lüdingworth entließ den Jungen mit einem Klaps auf die Schulter.

»Na – Sie haben ja auch solch Kroppzeug daheim, Herr Nimis?«

»Ja.«

»Wie alt ist denn der Stammhalter?«

»Ein paar Jahre jünger ...«

Leo Nimis sagte es mit trockener Kehle und sah dem davonspringenden kleinen Märchenprinzen nach.

»Der einzige?«

»Nein. Ich hab zwei Jungen.«

»So verteilt sich's eben! Wir haben bloß zwei Mädel!«

»Ich hab auch noch ein Töchterchen ...«

»Ach ... wie heißt es denn?« erkundigte sich die junge Frau Lüdingworth freundlich.

»Camilla ...«. sagte Leo Nimis. »Nach meinem Schwager ... Und wollte hinzusetzen: Der sich eben erschossen hat ...« Er schwieg. Wieder grauten Schatten umher im hellen Abendsonnenlicht. Standen greifbar vor ihm auf dem grünen Rasen: das Kind, das in das Leben ging ... Der Mann, der aus dem Leben gegangen war ... Alles mahnte ... warnte ... wieder wuchsen die Hände aus der Erde ... haschten nach ihm .. hielten ihn fest ... Er ergänzte, zu Frau Lüdingworth gewandt:

»Camillchen ist unser Nesthäkchen! Noch nicht drei Jahre ...«

»Und die ganze kleine Gesellschaft wohlauf?«

»Ja. Danke. Gewiß!«

»Ihre Gattin ist gewiß eine recht gute Mutter?«

»Die ist überhaupt ein sehr pflichttreuer Mensch«, sagte Leo Nimis mühsam.

»Ja, das hört man immer von ihr.«

»Seien Sie froh!« versetzte der Herr des Hauses, und die paar gleichmütigen, über die Zigarre hinweggesprochenen Worte in freundlichem Hamburger Tonfall rollten in Leo Nimis wieder jäh eine Reihe von Gedanken auf: Ich habe eine pflichttreue Frau daheim, die mich liebt ... ich habe blühende Kinder ... ich darf ja gar nicht fort ...

Der weltkluge, wortkarge Reeder ihm gegenüber erschien ihm auf einmal unheimlich. Das klang so selbstverständlich und alltäglich, was der in seiner Gelassenheit beiläufig jetzt eben beim Tee zur Rede gebracht hatte ... Erkundigung nach den Geschäften ... nach Frau und Kindern ... Und in den beiden, scheinbar nichtssagenden, höflichen Fragen lag doch die ganze Welt. Lag das Menschenleben, Arbeit und Heim, Pflicht und Liebe. Und das wußte der drüben auch wohl, so unerschütterlich gelassen er sich auch die neue Havanna anzündete.

»Sie wollen schon gehen, Herr Nimis?«

Leo Nimis hatte sich jäh erhoben. Er verabschiedete sich von dem Reeder und den Damen. Er hielt Klothildes Hand und fühlte, daß sie eiskalt war, und schaute sie an und konnte nicht lesen, was in ihren Augen stand, und wandte sich ab und ging dem Gittertor zu.

Auf halbem Weg hörte er hinter sich leichte, schnelle Tritte und machte mit einem wilden Herzklopfen halt und blickte zurück. Sie war ihm gefolgt. Sie stand neben ihm. Noch im Garten, aber schon dicht an der Straße, lief längs des Eisenzaunes ein Weg zwischen Büschen und Beeten. In den bogen sie ein. Schritten ihn bis zum Ende und wieder zurück, hastig, die Augen vor sich auf dem feingeharkten Sand, schwer atmend, lange Sekunden stumm ...

»Heute nachmittag war nicht die rechte Stunde, Klothilde ... Ich komme morgen wieder ...«

»Du kannst nicht immer wieder hierherkommen ...«

»Ich muß ...«

»... oder du mußt dich Lüdingworth erklären, weshalb du kommst! Und dann wird er dich gerade bitten, nicht mehr zu kommen ... ehe nicht die Entscheidung gefallen ist ...«

»Die Entscheidung werde ich erzwingen ... bald ...«

Es war ihm entsetzlich: Er sah die Zweifel an der Möglichkeit, diese Zweifel, die er selbst immer wieder mit allen Kräften in sich niederkämpfte, gleich Schatten seiner eigenen Seele drüben, auf ihren blassen, starren Mienen.

»Ich mache mich frei, Klothilde ...«

Sie schwieg.

»Und du, Klothilde, kannst dich doch auch äußerlich ganz freimachen. Du brauchst doch nicht in diesem Haus zu bleiben. Du kannst doch hinziehen, wohin du willst. Wir können uns sehen, so oft wir wollen ...«

»Ich werde das Dach meiner Verwandten nicht verlassen. Ich darf es nicht. Gerade jetzt nicht. Unter ihm ist mein guter Ruf geborgen, den ich mir Gott sei Dank aus der Scheidung gerettet habe ...«

»Trotzdem ... du mußt das so auffassen wie ich ...«

»Dazu ist unsere Stellung zu verschieden! Ich bin eine geschiedene Frau. Du bist ein verheirateter Mann. Du bist noch verheiratet, Leo ...«

»Ja ... noch ...«

»... und mir können nicht eher irgendwie zusammenkommen, bis wir einander gleich sind ...«

»Das kann ein Jahr und länger dauern ...«

»Es muß getragen werden. Mein Sohn soll einmal jedem ins Auge sehen können, wenn von seiner Mutter die Rede ist ...«

Er schwieg. In seinem Kopf drehte sich ein Mühlrad: ein Jahr ... oder mehr ... und unterdessen Kämpfe in Lütthahn ... Zwiespalt in sich ... kein Boden unter den Füßen ... Die Welt im Nebel ... und Einsamkeit um einen ... Einsamkeit ...

»Denkst du denn gar nicht an mich, Klothilde?«

»Ich muß an mich denken ... so heiß ich dich liebe ... Gerade um deinetwillen ...«

»Haben dir das deine Verwandten hier eingeblasen?«

»Ich habe mit ihnen über nichts gesprochen. Überhaupt mit keinem Menschen. Sie denken sich nur ihr Teil, wie wohl bald jeder. Wenn jemand mir sagt, was ich tun muß, dann ist es mein Onkel Louis Ferdinand ...«

»Er ist ja seit einem Jahr schon tot.«

»Man kann tot sein und doch in anderen Menschen leben, Leo. Ich habe das unendliche Glück gehabt, noch als halbes Kind aus meinem halbverwaisten und zusammengebrochenen Elternhaus in sein Haus zu kommen. Ich fühle mich fast wie seine Tochter. Man kann mit einem Mann wie ihm nicht seine halbe Jugend zusammengewesen sein, ohne daß etwas von ihm auf einen überging. Er hat allen gegeben, die um ihn waren, sein Leben lang. Er hat mir oft, als ich älter und vernünftiger wurde, halb im Scherz gesagt: ›Hüte dich vor mir! Nimm dir mich nicht zum Beispiel! Ich bin ein ganz einseitiger, verstockter, alter Preuße!‹ ... Aber in seiner Einseitigkeit war er ein ganzer Mensch!«

»Das war er.«

»Von meinem Mann ... meinem früheren Mann ... habe ich nichts fürs Leben empfangen. Aber was ich vorher und auch noch während meiner Ehe von Onkel Louis Ferdinand empfing, das wirkt fort. In dem Sinn will ich auch meinen Sohn erziehen, damit er ein tüchtiger Mann wird und, wenn er erwachsen ist, einmal der Freund seiner Mutter. Nicht ihr Ankläger oder Richter. Du hast auch Söhne. Du weißt, was ich meine ...«

»Rede mir nicht von den Meinen! ...«

»Wenn ich im Zweifel bin, brauche ich mich nur zu fragen: Was würde Onkel Louis Ferdinand dir sagen? Dann weiß ich, was ich zu tun hab – auch jetzt, in der schwersten Frage meines Lebens! ...«

Er holte schwer Atem.

»Und was mußt du tun?«

»Nichts, Leo! Ich darf nichts tun ...«

»Du willst mir gar nicht helfen, Klothilde ... auf meinem schweren Weg ...?«

Klothilde war stehengeblieben. Sie nickte. Mit einer seltsamen, traurigen und ruhigen Kopfbewegung. Es konnte Verneinung und es konnte Hoffnung sein ...

»Ich bin mit mir zu Rate gegangen, Leo, die ganze Zeit, seitdem du fort warst, bis beinahe jetzt eben, wo ich zu meinen Verwandten herunterging ...«

»Sprich doch ... sprich ...«

»Niemand kann verlangen, daß ich mein Glück von mir stoße, nachdem das Leben mich schon einmal um mein Glück betrogen hat. Aber ich darf keinen Finger danach ausstrecken. Ich muß mich ergeben und warten, was du tust ...«

»Klothilde ...«

»Du mußt wissen, ob ich dir die furchtbaren Opfer wert bin, die du um meinetwillen bringen willst. Und du allein kannst auch nur wissen, ob du imstande sein wirst, diese Opfer zu verwirklichen ...«

»Ich werd es ...«

»Ich habe kein Recht, dich von deiner Frau und deinen Kindern und deinem Haus und deiner Tätigkeit und den tausend schweren Pflichten, die dich halten, zu trennen, Und ich will nicht, daß du mir jemals daraus einen Vorwurf machen kannst. Dazu bin ich zu stolz.«

Sie ging mit ihm langsam dem Ausgangstor zu.

»Den Stolz bin ich dir schuldig, Leo, und mir. Ich will nicht eine zweite unglückliche Ehe, über der fortwährend die Schatten der Vergangenheit liegen, auch um deinetwillen nicht. Ich habe alles hinter mir. Erst wenn du auch alles ganz hinter dir hast – von außen und von innen – dann darfst du zu mir kommen, und wir dürfen an ein künftiges Glück denken.«

Leo Nimis hatte die Rechte auf die Torklinke gelegt. Aus der Straße neben ihnen kamen Leute vorbei. Sie gingen behäbig und unterhielten sich von Geschäften. Es war von tausend Ballen Santos und cif die Rede. Unter den Bäumen im Garten saß immer noch Henry Lüdingworth in unerschütterlicher Ruhe mit seinen Damen. Überall Augen. Ohren. Neugieriges Licht. Sie beide – er und Klothilde, konnten nur die Hand zum Abschied einander pressen. Es war ein langer, verzweifelter, stummer Druck.

»Kämpfe das mit dir durch, Leo, wie ich es mit mir durchgekämpft hab ...«

»Ich hab es ...«

»Du bist erst am Anfang. Ich weiß es besser als du. Ich bin den Dornenweg schon gegangen. Deiner liegt noch vor dir und ist so viel schwerer ...«

Es war noch so früh, daß man in der Morgenstille am Jungfernstieg durch das offene Fenster deutlich die Glockenschläge der Petri- und Jakobikirche hörte. Drüben, am Hafen, lärmte längst das Leben. Hier, um die Alsterbecken herum, ließ man sich noch Zeit. Die Köpfe hier gingen später an die Arbeit als die Hände dort.

Tiefblau glänzten die Wasserflächen. Weiße Punkte von Schwänen darauf. Ein neuer, heißer Hochsommertag stieg empor. Vorbei die schwarze, schwüle, schlaflose Nacht. Da war wieder das Leben. Die Helle. Das ewige Heute. Leo Nimis stand bleich und übernächtigt und schaute vom Fenster seines Zimmers auf die in ihrer Morgenklarheit beinahe geheimnisvolle Welt hinaus. Er war müde und matt vom Wachliegen und mit geballten Fäusten und offenen Augen in das Dunkel hineindenken. Er wollte nicht mehr denken. Er konnte nicht mehr. Und doch hämmerte ihm ein Gedanke eintönig im Takt des Pulsschlags im Kopf: Durch! Durch! Es war eigentlich kein Gedanke. Es war Wille. Vielleicht lief der Wille schon leer, wie daheim ein Treibriemen von Lütthahn. Er wußte es nicht. Er war froh, daß es Tag war und man draußen frische Luft einatmen konnte. Er stieg erschöpft die Treppe hinab und ging ins Freie und wunderte sich, daß die Kleinmädchen da in den offenstehenden Hausfluren fegten und die Kontorangestellten nach den Handelshäusern wanderten und Herren mit Mappen unter dem Arm aus den Alsterdampfern kamen, als sei heute ein Tag wie jeder andere.

Er schritt planlos am Ufer entlang. Bog am Alsterdamm um irgendeine Ecke und stieg eine Gasse empor. Geistesabwesend. Es war ja ganz gleich. Man ging wie im Traum. Hatte keine Berührung mit der Wirklichkeit. Mit dem Leben. Niemand kannte einen hier. Kein vertrautes Gesicht. Kein verhaßtes. Kein gewöhntes. Eine große Leere.

Hier innen in der Stadt liefen schon alle Räder des Werktags, mit Menschengewimmel und Pferdebahngebimmel, mit dem Rasseln von emporschnurrenden Rolläden und von dröhnendem Baufuhrwerk. Die Steinstraße, durch die Leo Nimis ging, war breit. Kein Salzhauch vom Meer durchwehte sie. Sie war eine lange, lärmende Verkehrsader wie in irgendeiner Stadt irgendwo auf der Welt. Menschen ... Menschen ... Mühe des Lebens ... Pflicht dieses Morgens. Keiner, den nicht, so oder so, vom Armen bis zum Gutgekleideten, das Gebot des täglichen Brotes trieb.

Nur ein kleiner, feiner alter Herr mit weißem Vollbart und dunklen, jugendwarmen Augen ging da zögernd, unruhig, ratlos hin und her schauend, ein Fremdling in dieser Stadt und ihrer Welt. Leo Nimis schaute ihn erst achtlos an. Dann machte er jäh halt. Stand starr, daß die Vorbeikommenden beinahe an ihn stießen. Machte eine Schulterbewegung, als wollte er hastig umdrehen. Und blieb doch, wo er war, und sagte sich:

»Ich kann doch nicht vor meinem eigenen Vater davonlaufen ...«

Der alte Achtundvierziger hatte ihn noch nicht bemerkt. Es wölkte sich zu viel Kummer und Sorge auf seinem freundlichen, kindlichen Gesicht. Er trug den Strohhut in der Hand und ließ sich die Morgensonne auf seinen immer noch dichtgelockten, schneeweißen Krauskopf scheinen. Er blickte nieder, streichelte väterlich einen kleinen Jungen, der ihm aus Versehen gegen das Knie gelaufen war, schaute wieder auf. Ein Blitzstrahl von Glück überleuchtete seine rosigen, fein geäderten Züge: »Leo ...«

Sein Sohn gab ihm die Hand. Er wollte sprechen. Er konnte nicht.

»Leo ... Gott sei Dank ... ich bin gestern abend von Hotel zu Hotel gefahren und habe nach dir gefragt. Niemand wußte etwas von dir ...«

»Ich bin unter anderem Namen hier ...«

Während Leo Nimis das sagte, sah er am Arm des Vaters den schwarzen Trauerflor. Der Vater hielt immer noch seine Hand fest: »Ich habe erst in Wien deinen Brief bekommen. Ich bin vom Begräbnis weg hierhergereist ... Ich hab nicht mehr aus und ein gewußt, als ich dich hier nirgend gefunden hab ... Ich war in Todesangst, daß ich zu spät komme! .. Leo ... sag mir, was ist inzwischen geschehen ...«

Das Donnern eines vorüberpolternden Lastwagens übertäubte die Antwort. Es schien Leo Nimis beinahe lächerlich, daß er die Stimme verstärken und dem Vater ins Ohr rufen mußte: »Nichts ...«

Der alte Herr atmete auf. Er zog den Sohn mit sich fort: »Komm irgendwo mit hin, wo es ruhiger ist ... Ich bin alt ... ich bin matt ... ich hab die langen Reisen hinter mir ... Der Straßenlärm tut mir weh ...«

Leo Nimis wollte mit ihm umkehren.

»Nein, mein Leo! Im Hotel suchen sie dich wieder mit Depeschen heim und klopft ein Geschäftsfreund nach dem andern an die Tür. Ich kenne das bei dir. Du kannst den Menschen nicht entgehen.«

»Nein, da hast du Recht ...«

»Ich will mit dir aus der Stadt hinaus ... wo wir in der Stille miteinander reden können ...«

Vor ihnen lag der Klostertorbahnhof. Dem nickte der alte Achtundvierziger vertraut und andächtig zu, wie einem guten Freund.

»Den Bahnhof kenn ich, Leo. Von dem bin ich schon mehr als einmal hinausgefahren in den Sachsenwald, um Bismarck zu sehen. Nur aus der Ferne ... Mehr wollte ich ja nicht ... Leo ... weißt du, was heute für ein Tag ist? Ich meine nicht für dich, sondern für uns alle ...«

»Ja.«

»Heute ist der letzte Tag, an dem wir Deutschen noch Bismarck haben ... wenn wir ihn noch haben! ... Heute wollen wir beide zum letztenmal in seiner Nähe im Sachsenwald sein. Das ist der rechte Ort für das, was wir uns zu sagen haben.« –

Die Villen von Reinbek lagen nach kurzer Fahrt hinter ihnen. Die sonnendurchglitzerte, lichte Dämmerung des Sachsenwalds wölbte ihr Blätterdach über den beiden. Der Wind sang in den rauschenden Wipfeln sein Morgenlied. Weithin, scheinbar endlos, atmete unter dem tiefblauen Himmel das grüne Meer. Es war da unten, auf seinem Moosgrund, still und kühl wie in einer Kirche. Selbst die Schritte verhallten lautlos auf dem weichen Waldpfad. Nirgends war, in dieser frühen Stunde, ein Mensch zu schauen. Nur die unsichtbare Nähe eines Geistes webte durch den Wald. Hier ist Bismarck ... Hier war Bismarck ...

Der alte Achtundvierziger hatte wieder das Haupt entblößt wie im Gotteshaus.

»Es scheint dir und manchem ein Widerspruch,« sagte er, »daß ich, der einstige Freischärler und Mann der Freiheit, für Bismarck schwärme! Weißt du, warum?«

Leo Nimis ging stumm, den Blick am Boden, neben dem Vater her.

»Wir haben für die Freiheit gekämpft. Aber er hat uns gelehrt, die Freiheit richtig zu gebrauchen, Leo! Zur freiwilligen Unterordnung unter unsere selbstgewählte Pflicht. ›Ich dien!‹ ist das stolzeste Wort – wenn man dem dient, was man einmal für recht erkannt hat! Dann heißt es: Ich dien einem Ding über mir! Solch ein Ding hat jeder im Leben! Auch du! ... Das sage ich dir ... Oder nein: Das sagt dir Bismarck hier im Sterben aus meinem Mund ...«

Es kam keine Antwort.

»Bismarcks Geist ist hier um uns! Bismarcks Geist ist nicht Blut und Eisen. Das meint Ihr, die Ihr ihn nicht ganz versteht, weil ja auch Manches an ihm allzumenschlich war. Ihr dient ihm nur mit dem Hammer, den er oft zu hart über seinen Feinden in Deutschland geschwungen hat! Ihr zähmt Stahl und bändigt die Menschen und baut Maschinen und Panzerschränke und Panzerschiffe und Kanonen. Ihr betet vor der Macht und dem Mut. Aber Macht und Mut sind nur sein Mittel. Der Geist steht hoch darüber, so hoch, daß Viele ihn noch nicht sehen. Der Geist tut es. Ob es der von 48 ist, dem ein kleiner unbedeutender Mensch wie ich sein Leben geweiht hat, oder der Geist von 71, in dem sich ein unsterblicher Mensch wie er vollendet hat – einerlei – es ist die Hingebung an die Pflicht über uns! Das lehrt uns Bismarck! Darum kann ich Bismarck in die Augen schauen, wenn ich ihm jetzt begegnen würde, und Du, Leo, wenn Du den Weg gehst, den Du gehen willst, kannst es nicht!«

Leo Nimis wandte den Kopf zur Seite, um den Vater nicht anzusehen.

»›Ich sterbe in den Sielen‹ – hat der Alte drüben in Friedrichsruh gesagt. ›Patriae inserviendo consumor!‹ ›Im Dienst des Vaterlandes verzehr ich mich!‹ ... Setze statt: ›Vaterland ‹ – deine Familie und deine Pflicht – dann bist das du ...«

»Genug, Vater ...«

»Nein. Nicht genug! Ich hab dir auf der Herfahrt von Camillo erzählt. Da liegt ein Mensch mit zerschmettertem Kopf, dem das Leben zu viel wurde. Soll es dir auch einmal so gehen? Es kann niemand so gehen, der seine Pflicht so klar über sich sieht wie du. Denn der weiß, warum er lebt!«

»Vater ... Du bist siebzig Jahre ...«

»Ja. Aber du wirst es auch einmal sein. Und dann möchte ich, daß du so auf dein Leben zurückschaust wie ich auf meines und dir sagen kannst: Ich habe einen guten Kampf gekämpft! Mein Leben war rein. Mein Leben war Müh und Arbeit für andere, so wie es Bismarcks Leben war ... als Staatsmann für sein Vaterland, als Mensch für seine Frau und seine Kinder und sein Haus ...«

Reinhold Nimis wies mit der Hand in die Ferne, wo irgendwo in der Waldeinsamkeit das Schloß Friedrichsruh lag.

»Glaubst du, sie haben es ihm leicht gemacht? Sie haben ihn erst verkannt und verhöhnt – dann gehaßt und bekämpft – dann gefürchtet – dann gestürzt und verbannt. Sein Leben war ein einziger, endloser Kampf. Er ist unerschütterlich durch diesen Kampf geschritten. Er hat den schwersten Undank geerntet. Er hat sich hierher in die Einsamkeit zurückgezogen. Er hat seiner geliebten Frau die Augen zugedrückt. Die Lasten des Alters haben ihn geplagt. Er hat nicht aufgehört, Deutschland zu lieben, in seinen schlaflosen Nächten sich um Deutschland zu sorgen, Deutschland zu warnen ...«

»Ja ... er ...«

»Bismarck bist du, Leo! Bismarck ist in jedem von uns, der seine Pflicht erfüllt. Bismarck heißt: dem Besten in sich dienen! Ja gewiß: Bismarck war der Mann von Blut und Eisen. Bismarck war hart. Aber am härtesten gegen sich selber! Sei nicht weich gegen dich, Leo! Du verlierst damit dich selbst und damit das, was du andern geben kannst! Sei, der du bist, Leo! Du bist stark. Du kannst es.«

Leo Nimis blieb stehen. Eine riesige Eiche ragte da. Er preßte die Stirn gegen ihre Rinde. Schloß die Augen. Er weinte. Sein Vater legte ihm leise die Hand auf die Schulter.

»Ich will dir ein Geheimnis sagen, Leo, das du vielleicht selbst noch nicht weißt: Du bist ja schon in deinem tiefsten Innern schwankend. Du warst es schon, als ich dich traf...«

Leo Nimis ging schweigend und verstört mit dem Vater weiter.

»Du warst nicht mehr der, der mir den Brief nach Wien geschrieben hat! Es ist anderes in dir wach geworden in der Zwischenzeit ...«

»Ich weiß nicht, was mit mir ist ... Ich finde mich selbst nicht mehr ...«

»Du hast angefangen, die Wirklichkeit zu erkennen ...«

»Sie ist stärker, als ich dachte ...«

»Du weißt nur noch nicht, ob du umkehren darfst ... Du brauchst nur noch den, der dir den Weg weist ...«

»Wohin?«

»Zurück zu deiner Familie und zu deinem Werk!«

Leo Nimis trat finster einen Schritt abseits.

»Dein Werk wartet auf dich, Leo ...«

»Das Gefängnis wartet auf mich!«

»Nein, Leo, eine viel höhere Aufgabe. Hier im Sachsenwald will ich dir's sagen: Ihr selber macht aus eurer Welt ein Gefängnis, weil ihr alle, alle vom Höchsten bis zum Letzten, den Geist aus Deutschland verbannt und nur noch am Erdenstoff hängt, an Glück und Glanz und Geld und Gut und Feiern und Festen und Sport und Spiel! Glaub es mir, dem alten Achtundvierziger, der für Deutschland geblutet hat und übers Meer geflohen ist und doch mit Deutschland gelebt und geatmet hat sein langes Leben hindurch. Glaube mir: Deutschland fängt an, seine Seele zu verlieren! ...«

»Vater ...«

»Deutschland fängt an, seine Seele zu verkaufen um Dinge, die nicht deutsch sind und es niemals sein werden. Es glaubt, täglich reicher zu werden, und wird immer ärmer. Deutschland fängt an, sein Bestes für nichts zu achten. Sein Bestes ist sein vielverhöhnter, ewiger Idealismus. Der hat es durch die Jahrtausende getragen, und es ist am Leben geblieben, und andere Völker ringsum sind untergegangen. Das sage ich dir, ein alter, unverbesserlicher deutscher Idealist, der sich dessen nie geschämt hat und es bis zum Tod nicht verleugnen wird!«

»Ja ... du ... Aber ich ...«

»Helfe mit, Deutschlands Seele hüten! Das kannst du auch in deiner Welt. Lege einen tieferen Sinn in dein Tun. Das hat auch Bismarck bei allem, was er tat, getan. Dann wird dir deine Arbeit daheim nicht mehr leer erscheinen. Deutschland ist ein starkes, reichbeladenes, glückhaftes Schiff. Aber es fährt irre, mit vollen Segeln, im Zickzack, ohne Steuer, hinaus aufs Meer. Und der Klippen sind viele! Deutschland braucht Steuerleute. Leo, bleib auch du an Bord und hilf!«

Von der Station Aumühle, deren weiße Bretterlagen nahe an der Bahn durch das Waldgrün leuchteten, kamen zwei Herren. Ihre Gesichter waren feierlich ergriffen. Reinhold Nimis hörte im Vorbeigehen ihr halblautes Gespräch. Er blieb stehen, den Hut in der Rechten, die Linke darüber gefaltet.

»Leo ... hast du gehört... Bismarck ist gestorben.«

Leo Nimis entblößte stumm das Haupt.

»Leo – wir sind klein vor dieser Stunde. Aber sie trifft jeden. Lasse sie auch dir ein Zeichen sein.«

Er nahm die Hand des Sohnes. Er merkte: Die besaß keinen Willen mehr. Die widerstrebte nicht.

»Leo – hast du die Kraft, umzukehren?«

»Ich fühl es: Ich muß!«

»Dann komm mit mir ... heim zu deiner Pflicht ... in Bismarcks Namen ...«


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