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Nachdem unsere Pferde mit ihrer Körper- und Hautpflege fertig waren, beeilten wir uns, aufzubrechen, und setzten den unterbrochenen Ritt mit doppelter Schnelligkeit fort, vorbei an kalten Gletschern, an rauchenden Vulkanen, an kochenden Quellen, an ausgebrannten Kratern und schäumenden Flüssen, zurück nach Haukadal.
Auf dem Hofe erfuhren wir zunächst, daß unser Führer nach Kalmanstunga noch nicht heimgekommen war. Wir mußten uns also noch weiter gedulden.
Ich tat dies jetzt nicht ungern, denn so herrlich unser Ausflug auch gewesen war, so hatte er mich doch ziemlich ermüdet, besonders wegen des eingebüßten Schlafes, den man eben nicht gut nächtelang entbehren kann.
Mein russischer Freund und seine beiden Begleiter verließen uns bald, um zur Hekla weiterzureisen.
Hierauf waren Friedrich und ich wieder allein als Gäste bei unserem braven Wirt Greipur Sigurdsson und seiner Familie auf Haukadal.
Wir benutzten unsere Wartezeit auf dem anmutig gelegenen Hofe, um seine Umgebung zu besichtigen, seltene Steine und dergleichen in dieser merkwürdigen Gegend zu sammeln. Die Kinder führten uns umher.
In dem ganzen Gelände wimmelt es von kleinen Quellen mit kochendem Wasser, die noch ihre alten Namen wie im Mittelalter tragen.
So liegt zum Beispiel dicht beim Hofe Haukadal die St. Martinsquelle. An ihrem Rande stehen Töpfe und andere Kochapparate, denn ihr klares, gesundes Wasser wird zur Bereitung des Essens verwendet, so daß die Leute hier Feuer, Brennholz und Kohle sparen können. Das unterirdische Feuer steht ihnen umsonst zur Verfügung, im Sommer wie im Winter.
Wir selbst wärmten uns hier in dem kochenden Wasser auch einmal eine Konservendose: eine Viertelstunde später hatten wir das feinste Beefsteak.
Einen Teil dieses Wassers läßt man aus der Quelle in ein nahegelegenes Becken fließen, wo es sich von selbst abkühlt: davon trinkt dann im Winter, wenn alles andere Wasser zugefroren ist, das Vieh: Kühe, Pferde und Schafe.
Was könnten diese heißen Quellen aber erst leisten, wenn sie bei einer Großstadt lägen! – Sie gäben die vorzüglichste Zentralheizung. Und welch ein Gefühl, wenn man seine Stube statt mit Brennholz oder Kohlen von einem wirklichen vulkanischen Feuer erwärmt wüßte!
Doch bleiben wir wieder bei unserem liebgewonnenen kleinen Hofe Haukadal und all dem frischen Zauber, der über ihm und seinem täglichen Leben lag.
Einmal bekam ich Gelegenheit, zu sehen, wie sehr diese Leute an ihren Pferden hängen:
Der älteste Knabe wurde hinausgeschickt, um die Pferde zu holen, die man zum Einbringen des Heues benötigte. Nach einiger Zeit kam er mit einem Dutzend kleiner Pferde zurück. Sobald die ganze Schar sich näherte, liefen die Kinder ihnen entgegen und riefen voll Freude:
» O! blessadar skepnurnar!« (»O die lieben Tiere!«)
Die Pferde blieben sofort stehen, um auf keines der kleinen Menschenwesen zu treten, die sich um sie drängten; die Kinder aber klopften ihnen zärtlich mit ihren Händchen auf den Leib und nannten jedes beim Namen. Die Größeren von ihnen kletterten mit erstaunlicher Behendigkeit den Pferden auf den Rücken; die kleinsten, die noch dastanden, riefen mir zu und baten:
»O setzen Sie mich auch darauf! – setzen Sie mich auch darauf!«
Ich tat es ohne Bedenken, denn ich wußte, daß dies in keiner Weise gefährlich für sie war. Diese Kinder sind nämlich so mit den Pferden verwachsen, daß selbst die Allerkleinsten kaum je einmal herunterfallen werden.
Gleich darauf sprengten alle Pferde mit den kleinen Reitern im Galopp über das Feld hin. Die kleineren Kinder hielten sich dabei etwas vornübergeneigt an der Mähne fest, die andern dagegen saßen stramm und gerade wie auf einem Stuhl! –
Nun war aber zu meiner Verwunderung eines der jüngsten Pferde bei uns am Hof zurückgeblieben. Wir streichelten es und freuten uns über seine Zutraulichkeit.
Plötzlich wandte es sich um, lief zum Eingang des Hofes, steckte den Kopf durch eine Öffnung hinein und trat wiederholt kräftig mit dem einen Fuß auf. Eines der Kinder, das noch dageblieben war, stellte sich daneben.
Um zu sehen, was da wohl sei, ging ich gleichfalls hin und fragte das Kind:
»Was will das Pferd hier?«
»Es will nur seine Milch«, sagte es.
Und wirklich, bald kam die Hausmutter mit einem kleinen Eimer voll Schafmilch heraus und gab dem Tier zu trinken, indem sie es freundlich liebkoste.
Es war das erste Mal, daß ich ein erwachsenes Pferd Milch trinken sah. Aber die Frau erklärte mir, sie hätten das Pferd als kleines Füllen gekauft und es daheim mit Milch ernährt: nun sei es so daran gewöhnt, daß es noch oft die Weide verlasse, um sich auf dem Hof seine Milch zu holen, und natürlich könne man sie ihm nicht verweigern.
Das waren so einige Erlebnisse und Beobachtungen auf dem gastlichen Hofe.
Eines Nachmittags aber machten wir von Haukadal einen Ausflug, den ich nie vergessen werde. Wir besuchten zum Zeitvertreib eine von Islands größten Sehenswürdigkeiten, den riesigen Gullfoß oder Goldwasserfall, der zu den schönsten Wasserfällen nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt zählt.
Es ist seltsam, wie wenig man den Gullfoß trotz seiner unvergleichlichen Großartigkeit außerhalb Islands kennt: ein neuer Beweis dafür, daß die ferne Insel mit all ihrer herrlichen Naturschönheit sozusagen ein verschlossenes Land ist.
Das Brausen des gewaltigen Wasserfalles hörten wir schon eine gute Stunde weit, bevor wir hinkamen. Eine mächtige Dampfsäule über ihm ist bis auf mehrere Meilen im Umkreis sichtbar. Wenn man dann endlich vor ihm steht, bleibt man zunächst sprachlos vor Bewunderung ...
Ich hatte schon manches Mal begeisterte Schilderungen über den Gullfoß gelesen, in denen es unter anderem hieß, daß keine Feder imstande sei, seine Herrlichkeit und Pracht zu beschreiben. Reisende, welche die Niagarafälle gesehen, verglichen ihn damit und fanden, daß er den berühmten amerikanischen Fall noch an Schönheit übertreffe.
Damals kamen mir solche Äußerungen übertrieben vor. Jetzt dagegen, da ich selbst dem Gullfoß gegenüberstand, wurde auch ich von Begeisterung erfüllt, und ich muß gestehen, daß keine jener Lobpreisungen, die ich gelesen, zu stark war.
Es ist in der Tat ein wunderbarer Anblick, den man vor dem Gullfoß genießt. Schon das Bett des mächtigen Weißen Flusses ( Hvítá), der den Wasserfall bildet, und wie er seine ungeheuren Wassermassen darin hinwälzt, ist eine Sehenswürdigkeit für sich.
Das Bett wird nämlich von zwei senkrechten Riesenwänden aus schwarzem Basalt gebildet, die, von der Oberfläche des Wassers an gerechnet, eine Höhe von 200 bis 300 Fuß haben. Dazwischen braust und tost der wilde Fluß einher.
Die Wassermassen sind hier größer als die des Rheinfalls bei Schaffhausen. Mit ungeheurer Wucht und mit Donnergetöse stürzen sie sich plötzlich über eine steile Felswand herab auf einen darunterliegenden Absatz.
Diese Felsenterrasse darf man sich aber nicht vorstellen als eine unbedeutende kleine Steinplatte; sie ist vielmehr volle 600 Fuß breit, und auf dieser mächtigen Fläche werden nun die herabgestürzten Wassermassen durch den gewaltigen Aufprall zu einem rasenden Gemenge von schneeweißem Schaum aufgewirbelt, in dem es siedet und kocht und zischt.
Dieses Schauspiel allein ist bereits überwältigend großartig. Und doch ist das nur ein Teil, der Anfang des Wasserfalles. Die Hauptsache folgt erst:
Nachdem die schäumenden Wirbel in dem tollwütigen Kampf auf der Felsenterrasse sich ausgetobt haben, stürzen sie plötzlich in einen andern, noch viel tieferen Abgrund, und mit einem noch lauteren, furchtbareren Gedonner.
Es ist also ein doppelter Riesenwasserfall.
Seine Großartigkeit und Pracht kann tatsächlich keine Feder beschreiben. – Wenn die Sonne scheint, stehen zudem beständig strahlende Regenbogen über ihm, von einem Ufer zum andern.
Die Höhe des Gullfoß beträgt 115 Fuß; er ist somit 35 Fuß höher als der Rheinfall bei Schaffhausen.
Erwähnen möchte ich hier auch noch einen vornehmen, hohen Besuch, den der herrliche Wasserfall viele Jahre später erhalten hat:
Es war im Sommer 1907, am 4. August, da unternahm König Friedrich VIII. von Dänemark mit einem glänzenden Gefolge von mehr als hundert Reitern vom Geysir aus – von dem auch wir kamen – einen Ausflug an den Gullfoß. Die dänischen Begleiter des Königs sandten damals an verschiedene Blätter in Dänemark begeisterte Berichte. Einige davon will ich kurz hier wiedergeben, um zu zeigen, welchen Eindruck der große Wasserfall auf die vornehmen Gäste gemacht hat:
»... Am Sonntag nachmittag, den 4. August«, heißt es in dem einen Bericht, »unternahm die Gesellschaft einen Ausflug vom Geysir zum Gullfoß. Nach etwa zweistündigem Ritt standen wir plötzlich vor dem mächtigen Wasserfall: ein großartiges Schauspiel, wie das übrige Europa kein ähnliches aufzuweisen hat. Norwegens größter Wasserfall kann nicht mit dem Gullfoß verglichen werden, und der Rheinfall bei Schaffhausen steht weit hinter ihm zurück ... Alle Teilnehmer waren begeistert und standen lange sprachlos in Bewunderung vor ihm und dem prachtvollen Regenbogen, der in dem aufgewirbelten Wasserstaub gebildet wurde und eine Brücke darstellte von Ufer zu Ufer.«
Ein anderer schrieb:
»... Der Ausflug nach dem Gullfoß war wunderbar. Der herrliche, brausende Wasserfall, in dem die Sonnenstrahlen sich brachen in all der bunten, wechselnden Farbenpracht des Prismas, war ein unvergeßlicher Anblick ...
Ein dritter:
»... Der Gullfoß mit seinen beiden großen Absätzen und seiner Unzahl von Kaskaden ist vielleicht der schönste Wasserfall der ganzen Welt. Der Niagara kann sich nicht mit ihm vergleichen; wie großartig der berühmte amerikanische Fall auch ist, es fehlt ihm die Anmut und malerische Schönheit des Gullfoß. Niemand wird imstande sein, dies Schauspiel zu vergessen, ... umgeben von einem Glanz von Regenbogen, die kamen und schwanden, wie die Dämpfe des siedenden Falles stiegen oder sanken, bald wie ein dichter Staubregen, bald wie ein feiner Tau.«
Und noch einer berichtete:
»... Der Gullfoß ist Islands und gewiß auch Europas größter und schönster Wasserfall ... Gegen einen Hintergrund von dunklem Gestein schäumen die Wassermassen an und stürzen rasend gegeneinander, in siedenden Wirbeln sprühen sie auseinander. Aus solchen wilden Naturschauspielen mögen die Sagen hervorgegangen sein von wilden, furchtbaren Riesen, die sich gegen die Götter aufgelehnt, die aber überwunden und dazu verdammt wurden, ihre mächtigen Kräfte in einem ewig aufreibenden Kampf gegen sich selber zu vergeuden.« –
Diese Begeisterung der Begleiter des dänischen Königs ist vollauf verständlich. Wenn aber einzelne von ihnen schreiben, der Gullfoß sei gewiß Islands größter Wasserfall, so beruht das, wie bereits ein anderer Teilnehmer jener Reise in seinem Bericht bemerkte, auf einem Irrtum. Der wilde Dettifoß in Nordisland ist nämlich noch weit größer. Er ist 340 Fuß hoch, und das Flußbett ist in einer Länge von vier Meilen 400-500 Fuß tief. Seine niederstürzende Wassermasse ist so gewaltig, daß der Felsen, auf dem der Beschauer steht, darunter bebt und zittert.
Für Friedrich und für mich blieb der Besuch am Gullfoß ein unvergeßliches Erlebnis.
Auf dem Rückweg ritten wir zunächst längere Zeit schweigend nebeneinander her, so tief waren die Eindrücke, die der ungeheure, prächtige Wasserfall auf uns gemacht hatte.
Um so mehr aber mußten wir dann nach unserer Heimkehr auf Haukadal davon erzählen, besonders den Kindern, die sich immer gern mit uns und namentlich mit Friedrich unterhielten. –
Friedrich spielte in den folgenden Tagen mit seinen kleinen Freunden unermüdlich Verstecken rings um die Häuser des Hofes. Dabei war es erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit sie einander verstanden. Friedrich sprach dänisch, die Kinder isländisch, und doch machte ihnen die Sprache fast keinerlei Schwierigkeit.
Später brachte Friedrich auf den meisten Höfen, die wir besuchten, dieses Versteckspiel in Übung, zur großen Freude jeweils nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Erwachsenen.
Überhaupt wurde Friedrich, »der liebe kleine dänische Junge«, wie die Leute ihn nannten, überall, wohin wir kamen, mit der größten Liebe und mit aller nur möglichen Rücksicht behandelt. Oft gingen die Kinder weit in die Berge hinauf, um Blaubeeren zu pflücken, die sie ihm dann schenkten, und die Hausmutter richtete sie ihm gewöhnlich mit Zucker und Sahne an: jedesmal eine köstliche Speise für ihn, denn die isländischen Blaubeeren, die im Sonnenschein an den Abhängen der Berge wachsen, sind viel feiner und kräftiger im Geschmack als die, welche im Schatten unserer mitteleuropäischen Wälder gedeihen.
Friedrich war für die Leute besonders der interessante Ausländer. Häufig fragte man mich:
»Wie gefällt es dem lieben dänischen Jungen in Island?«
Und man freute sich sehr, wenn ich sagte, daß er voll Bewunderung für das schöne Land sei.
»Aber es ist doch nicht so schön wie in Dänemark«, meinte einmal ein größerer Knabe; »in alter Zeit hat man ja Dänemark wegen seiner Schönheit sogar Freyas Wohnung genannt!«
»Ja, Dänemark ist ein überaus schönes Land«, bemerkte darauf ein Mädchen, »aber ich glaube, schönere Blumen als hier an den Bergen gibt es dort doch nicht!«
Dieses Mädchen hatte ohne Zweifel recht; die Blumen und noch vieles andere sind natürlich für die Menschen immer da am schönsten, wo man wohnt und geboren ist. Für die Kinder machte das aber weiter nichts aus; ihre Liebe zueinander wurde durch solche Urteile und Meinungsverschiedenheiten in keiner Weise gestört.