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III.

Weit und still dehnte sich das Land umher, und der weiße Schnee machte es noch weiter und stiller. Im verschneiten Buschwerk schrie der Häher, Krähen lärmten unter dem blassen Himmel, über den schweigenden Höfen; lautlos zog das Wild seine schmalen Fährten durch die weiche, kalte Fläche.

Antje war glücklich, denn sie war wieder daheim, und sie war mit sich im Reinen. Und was noch schmerzlich und unklar in ihr nachzitterte von den letztvergangenen Tagen, das beruhigte sich und verstummte in Marias heilsamer Nähe.

Die Terhaldens waren eingezogen. Unordnung und Unruhe herrschte noch überall in dem alten, stillen Hause; aber von Tag zu Tag wurde es klarer und ruhiger.

Antje wunderte sich, mit wieviel Geschick und Umsicht die zarte, helle Maria die grobe Arbeit angriff, über ihre verständigen, klaren Anordnungen, über die selbstverständliche, freundliche Art, mit der sie ihre Hausfrauenpflichten den Leuten gegenüber aufnahm. Jeder gehorchte ihr gern, jeder lief und sprang für sie. Es ging eine unbewußte Hoheit von ihr aus und ein Zauber der Güte. Und sie hatte soviel Kraft in ihren feinen, weißen Gliedern, soviel stählerne Unermüdlichkeit in ihrem schmalen, schlanken Körper. Sie sprach nicht viel und sie lachte selten. Und doch war alles an ihr und um sie eitel Freundlichkeit und Herzenswärme. Sie hatte eine königliche Begabung, über Kleines und Kleinliches hinwegzusehen. Es gab da irgendwo in ihrem Leben eine sonnige Höhe, eine selige Oede, auf der stand sie, von der herab betrachtete und bewertete sie die Dinge.

Antje erging es sonderbar in Marias Nähe; ihr wurde still und heilig zumute. Sie fühlte sich emporgehoben in helle Regionen, von denen sie bisher nichts geahnt und in denen sie scheu und unsicher, aber selig herumtappte.

Antje schwärmte für Maria, trotz ihrer reifen Jahre. Sie vertraute ihr unbedingt. Es gab keinen Winkel in ihrem Herzen, den sie Maria nicht hätte offenbaren mögen. Wie war es nur zugegangen, daß man Maria bis jetzt so wenig gekannt, so wenig geliebt, daß man eigentlich gar nicht von ihr gesprochen hatte? Maria war ja die Beste, Klügste, Größeste von ihnen allen.

Warum? Das erklärte sich Antje nicht; dem fragte sie nicht nach. Das war eben so. Das hatte sich ihr geoffenbart, so wie sich das Licht dem Auge offenbart, auch wenn es seinen Ursprung nicht sieht.

Antje hätte sich gar nicht gewundert, wenn sie mindestens einmal täglich Arne dieser Frau zu Füßen gefunden hätte, in leidenschaftlicher Anbetung, im süßen Ausruhen einer vergötternden Liebe. Sie dachte sich sein Leben, seinen ganzen Menschen getragen und durchleuchtet von dem Glück, das der Besitz dieser Frau mit sich bringen mußte. Aber Arne war unausstehlich.

Alles, was sie bisher an ihm gekannt und als selbstverständlich hingenommen hatte – seine satte Zufriedenheit, seine Rücksichtslosigkeiten, seine strenge, nüchterne Ruhe – das reizte sie jetzt, das empörte sie; das machte sie kritisch und unnachsichtig gegen ihn. Sein ganzes Sein und Wesen erschien ihr wie lauter Nadelstiche und Hammerschläge auf Marias zarte, feine Seele. Es kam ihr vor, als habe man einen fremden, schönen Vogel an die Tatzen eines Bären gebunden, und der Bär trottete seelenruhig seine Straße entlang und schleifte den Vogel neben sich her, und der Vogel bemühte sich, zu hüpfen und Schritt zu halten und zerrte sich dabei die Flügel wund.

Jeden Abend war Arne unzufrieden mit allem, was Maria tagsüber getan hatte. Die Möbel waren unpraktisch verteilt, die Bilder geschmacklos aufgehängt. Jeden Morgen machte sich Maria daran, die Möbel umzustellen und die Bilder umzuhängen. Mehrere Male ließ Antje es schweigend geschehen. Einmal sagte sie: »Ich begreife dich nicht, Maria. Es sind doch deine Stuben!«

»Es ist doch die Hauptsache, daß er es so hat, wie er es haben will. Was nützt es mir, wenn er sich alle Tage darüber ärgert –« war Marias ruhige Antwort.

Dann kamen noch andere merkwürdige Erlebnisse. –

Arne war den ganzen Nachmittag schlechter Laune gewesen, weil es beim Mittagessen eine angebrannte Suppe gegeben hatte. Daß eigentlich noch niemand so recht Zeit hatte, sich einer sorgfältigen Bereitung des täglichen Essens zu widmen, kam für ihn nicht in Betracht. Was es aber bedeutete, wenn Arne schlechter Laune war, das lernte Antje jetzt erst kennen. Mit eigensinniger Zähigkeit kam er immer wieder auf das verstimmende Vorkommnis zurück und quälte Maria mit Fragen und Vorstellungen, bis deren Lippen zu zittern anfingen und die Antwort versagten. Dann erfaßte seine schlechte Laune immer weitere Gebiete. Die Kinder fuhr er an, wo sie sich sehen und hören ließen. Den Hund, der an ihm emporsprang, stieß er mit dem Fuße weg. Alles reizte und ärgerte ihn. Als Antje ihn beschwichtigen wollte, wurde er grob. Schließlich wagte keiner mehr, in seiner Gegenwart den Mund aufzutun, sondern jeder ging ihm möglichst aus dem Wege.

Gegen Abend, als seine Laune sich zu bessern begann, kam der Aufseher und rief ihn zu Hilfe bei einer Schlägerei unter den Knechten. Antjes Herz schlug ängstlich. Sie sah seinen kaum beruhigten Unmut aufs neue sich entfachen – sah ihn hinausstürzen – dazwischenschlagen. –

Nichts von alledem. Kein Zug in Arne Terhaldens Gesicht verriet irgendwelche Anteilnahme, geschweige denn Erregung.

»Das geht mich nichts an – damit müßt ihr allein fertig werden.«

Der alte Aufseher stand noch einen Augenblick, als könne er nicht begreifen, als könne dies nicht das einzige gewesen sein, was der Gutsherr ihm zu erwidern hatte. Er warf einen hilfesuchenden Blick auf Antje. Die hatte ihn nie im Stich gelassen. Aber Antje starrte den Bruder an, fordernd, drohend. Und Frau Maria machte ein nichtssagendes Gesicht und kniff nur die Lippen aufeinander und die feinen Nasenflügel zitterten ein wenig.

»Ihr könnt gehen,« sagte Arne Terhalden, eisig, herrisch, ohne sich zu rühren.

Der Mann ging. Schwerfällig, zögernd hörte man ihn den Gang entlang stampfen.

Sekundenlang war es still im Zimmer. Dann platzte Antje los – sie konnte, nein, sie konnte nicht schweigen.

»Ich finde, Ruhe und Ordnung auf dem Hofe ist wichtiger als eine angebrannte Suppe!« sagte sie scharf.

Arne sah sie erstaunt an.

»Um solche Dinge kann ich mich nicht kümmern. Geh du doch hin und balge dich mit ihnen!«

»Ich würde ganz bestimmt hingehen, wenn ich der Herr wäre!« rief sie erregt.

»Schade, daß du es nicht mehr bist,« höhnte er.

Antje hatte eine wilde Antwort auf der Zunge. Da drückte ihr Maria leise unterm Tisch die Hand. Antjes Blick flog zu ihr herum. Maria saß immer noch so da, mit gesenkten Augen; aber in ihrem Gesicht war ein unruhiges Beben.

Antje zog ihre Hand aus Marias Hand. Aber sie blieb die Antwort schuldig. Marias wegen. Und ärgerte sich über Maria.

Am andern Morgen sprach sie mit ihr darüber.

»Das geht nicht, Maria. Das darfst du nicht leiden. Du mußt es ihm sagen. Ich weiß, du bist selbst nicht einverstanden damit. Die Leute müssen ihren Herrn fühlen, im Guten und im Bösen. Wenn die persönliche Fühlung aufhört, hört das persönliche Verhältnis auf. Aber das Persönliche ist alles – heute mehr denn je. Warum haben die Leute unsern Vater so geliebt und sind bei ihm geblieben, trotzdem er ein strenger Herr war und nicht höhere Löhne zahlte als andere? Weil er sie hielt mit seiner Persönlichkeit, weil sie wußten, wir haben einen Berater an ihm und einen Richter, einen Helfer und Beistand in allen unseren Nöten. Nicht nur einen Automaten, der Arbeit gibt und Geld zahlt und im übrigen nichts mit uns zu tun haben will. Wenn Arne so fortfährt, wie er anfängt, wird er Schlimmes erleben. Die alten Bande werden sich lockern. Er wird Arbeiter haben – gewiß, denn er kann zahlen. Aber er wird Maschinen haben, nicht Menschen. Und das beste im Leben des Landmannes, die Gemeinsamkeit des Menschentums, wird fortfallen. Die alten guten Traditionen des Köbinghofes werden aufhören. Du mußt ihm das sagen, Maria!«

Die hatte Antjes erregte Rede still angehört. Sie war blaß geworden, aber es war nicht zu erkennen, was sie dachte. Sie ließ eine längere Pause verstreichen, ehe sie ruhig sagte:

»Du hast sehr recht, Antje. Aber Arne ist nicht der Mann, der sich etwas sagen läßt – am wenigsten von mir.«

»Dann fängst du es nicht richtig an,« rief Antje erregt. Die Ruhe der Frau, die ihr sonst so wohl tat, verletzte sie heute.

»Mag sein,« sagte Maria. »Jedenfalls bin ich nicht die Rechte dazu.«

»Jawohl bist du die Rechte. Die einzige, die es tun muß und kann. Du bist überhaupt die beste und bequemste Frau für ihn – zu bequem vielleicht. Darin liegt es, das ist der Fehler. Du ordnest dich ihm so unter, daß er dich als etwas Untergeordnetes betrachtet.«

Maria lächelte gequält.

»Du weißt ja nicht, was vorangegangen ist,« sagte sie leise.

Antje verstummte. Ihre ärgerliche Erregung verflog angesichts dieses Antlitzes, auf dem sie plötzlich eine lange Leidensgeschichte zu lesen glaubte. Die Geschichte eines Verstummens aus Pflicht. –

Trotzdem konnte sie nicht begreifen.

»Ich könnte nicht schweigend mit ansehen, was ich nicht gutheiße,« grollte sie.

»Es ist auch nicht leicht, Antje. Aber es bleibt manchmal nichts andres übrig. Wenn einer sich unterordnen muß in der Ehe – um der Ehe willen – so ist es eben die Frau.«

Also auch du! dachte Antje. Sie vergaß Arne und die raufenden Knechte und machte sich schwere Gedanken um Maria. –

Arne ging an diesem Vormittag nicht aus dem Hause. Er ordnete seine Bibliothek und vermied eine Begegnung mit seinen Leuten. Aber es nützte ihm nichts.

Um Mittag erschien abermals der Aufseher, bedrückt und bekümmert.

Es hatte blutige Köpfe gegeben. Einer lag zu Hause mit verbundener Stirn und konnte nicht zur Arbeit kommen.

»Ich werde Anzeige machen. Dann bekommen die Kerle ihre Strafe,« versetzte Arne in gleichgültigem Geschäftston.

Der Aufseher drehte verzweifelt zwischen seinen arbeitsharten Fingern die Mütze zu einem Lappen.

»Es wäre besser, der gnädige Herr ließen sich die Leute kommen und redeten selbst mit ihnen. Gründlich geschimpft, wie sie's verdienen. Aber anzeigen – das macht böses Blut. Das ist noch nie bei uns Mode gewesen.«

»Dann müßt ihr euch an die neue Mode gewöhnen. Ich lasse mir keine Vorschriften machen.«

Die Anzeige wurde erstattet. Der Vorfall wurde untersucht; irgend einer mußte herhalten und wanderte auf ein paar Tage ins Loch, weil er die Geldstrafe nicht zahlen konnte. Den Herrn zu bitten, wagte er nach dem Vorgefallenen nicht, oder wollte es nicht. Auf Ostern kündigte er.

»Es ist der beste Arbeiter,« klagte der Aufseher.

»Er wird nicht unersetzlich sein,« sagte Arne Terhalden kalt.

Die Leute murrten und sprachen ungewöhnlich viel von ihrem seligen Herrn, den sie eigentlich schon vergessen hatten. Nun lebte er wieder auf in ihrem Gedächtnis und erhärtete sich zu einem Denkmal des Guten, das sie gehabt hatten und jetzt erst zu bewerten schienen. Was sie von dem neuen Herrn zu erwarten hatten – das wußten sie nun. Und als der Aufseher dem neuen Herrn das Wort reden wollte, fielen böse Blicke und spitze Reden. –

Dazwischen kam Antjes Scheidestunde.

Sie ging nach Hamburg, um dort einige Monate auf der Handelsschule zu lernen. Maria war ihr behilflich gewesen bei der Auswahl einer passenden Wohnung, bei allem, was sonst zu tun und zu bedenken war. Sie verstand Antjes Entschluß vollkommen, billigte und ehrte ihn. Antje war glücklich darüber.

Arne kümmerte sich nicht viel darum. Die Schwester war ja selbständig und reichlich erwachsen, mußte wissen, was sie tat und hatte es allein zu verantworten. Er sprach kaum mit ihr darüber.

Am Abend vor der Abreise waren Venningens gekommen. Antje hatte sich davor gefürchtet – aber es wurde besser, als sie dachte. Maren quälte sie ein wenig mit mütterlicher Sorge und mütterlichen Ratschlägen; sie war nicht so einverstanden wie Maria, aber auch nicht so entsetzt wie Hille. Sie staunte Antje ein wenig an, hielt sie aber doch eigentlich für ein großes Kind, das sich mit exzentrischen Dingen die Zeit vertreiben will; nahm sie nicht ganz ernst. Mädchenschrullen; man kann das nicht hindern, aber es legt sich.

So sagte sie im Geheimen zu Maria und schloß mit der Hoffnung, daß Antje recht bald was zum Heiraten fände; das sei doch das beste; man könne es nur nicht so sagen – es klänge so protzig einem einzelnen Mädchen gegenüber von einer glücklich verheirateten Schwester.

Jörg machte ein nachsichtiges Gesicht, wie zu allem, was in der Familie geschah und wünschte Antje Glück.

Der Abschied wurde ihr dann doch schwerer, als sie gedacht hatte. Im Augenblick des Abschiedes wird man sich der Gründe, die ihn veranlaßten, der Folgen, die er nach sich zieht, in ihrer ganzen Schwere bewußt. In solchem Augenblick drängen sich die Kämpfe, die Schmerzen, die mutigen und ängstlichen Gefühle einer langen Zeit. –

Sie umarmte Maria lange und heftig. Dann, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen, preßte sie ihr Gesicht stumm an den warmen Körper des kleinen Alf, den sie so liebgewonnen hatte und der seine Aermchen fest um ihren Hals würgte und vor Liebesanstrengung seufzte. Sogar gegen Arne fühlte sie freundlich in dieser weichen Stunde. Nur die Augen seiner Töchter, die sie neugierig anglotzten, waren ihr peinlich.

So verließ Antje Terhalden ihre Heimat, und hinter ihr schlossen sich die Tore vor dem Garten ihrer wohlbeschützten Jugend. –

Maria erschien das Haus einsam ohne Antje. Eine kühle Leere war plötzlich da entstanden, als sei eine wärmende Kraft von ihr gegangen. Sie hatte sich verwöhnt durch den Umgang mit einem verständnisvollen, warmherzigen Menschen. Und solch Verwöhnen war gefährlich für sie.

Marias Vater war Universitätsprofessor in Bonn gewesen. In der geistig regen und vertieften Atmosphäre eines glücklichen Elternhauses war sie groß geworden, wissenschaftskundig, lebensunkundig. Ein heißes Herz und ein beweglicher Geist hatte ihrem Körper eine unbewußte Anmut gezeitigt. Sie blühte wie eine Blume auf sonniger Bergeshöh – nah dem Himmel und seinen Wundern – fern der Erde und ihren Wirklichkeiten.

Dann war der Erdengeist gekommen und hatte die Blume der Höhe gebrochen.

Das war ihre ureigenste Geschichte, ihr schicksalbestimmendes Erlebnis, sie hatte es für sich allein durchlebt und durchlitten. Es war ihr zu heilig, sie selbst zu keusch und scheu, um es irgend einem Menschen preiszugeben. Sie hatte es vergraben in ihrer Seele, und da war es zum Fundament geworden, auf dem das Gebäude ihres Lebens ruhte wie auf einem Felsen.

Und so war sie Arne Terhaldens Frau geworden, in einer unseligen Verirrung, in einem heiligen, verkehrten Wollen. Beides hatte sie längst erkannt. Aber es gab kein Zurück mehr – nur ein ehrenhaftes, tapferes Vorwärts. – Maria war eine stille, klare Natur, die die Folgen eines Irrtums – auch klare Naturen können irren – tapfer tragen und lieber selbst daran zugrunde gehen, ehe sie Unschuldige darunter leiden lassen.

Arne Terhalden war auf der landwirtschaftlichen Schule, als er Maria kennen lernte und das, was es an Herz und Begeisterung gab in seinem Leben, hatte sich zu kurzem Blühen für Maria entfaltet. Es war eine flüchtige Sonntagsstimmung gewesen.

Er liebte Maria auch jetzt noch, auf seine Art. Mit einer ehrlichen, ruhigen Liebe, wie man das bequeme, das angenehme, das normale im Leben liebt. Sie war eine treue, gehorsame, fleißige Frau. Gelegentliche romantische Anwandlungen in den ersten Jahren, Verlangen nach allerhand äußerlichem Beiwerk der Liebe hatte er wohlwollend übersehen oder überlegen belächelt. Das war nun vorbei; sie war vernünftig geworden; so vernünftig, wie er sie haben wollte. Sie hielt sein Haus in Ordnung, sorgte für sein Behagen und hatte keine unbequemen Wünsche. Es stand ihm als etwas ganz selbstverständliches fest, daß Maria glücklich und zufrieden war. Nach ihrer Seele fragte er nicht; die hatte er nie gekannt; die war ihm auch gar nicht wichtig.

So war es möglich, daß sich an dieser Seele ein tragisches Schicksal vollzog, ohne daß er eine Ahnung davon hatte. Und hätte man es ihm gesagt, so hätte er es einfach nicht verstanden und darum nicht geglaubt.

Arne Terhaldens Egoismus war unbewußter Natur. Er ahnte gar nicht, daß er ein Egoist sei, weil er überhaupt nie an eines Nächsten Wohl dachte. Wenn ihm nur wohl war.

Sein inwendiger Mensch war von einer Unbeweglichkeit, die an die niedrigste Entwicklung des Menschentums streifte. Ein Instrument, dem kein Ton zu entlocken war; harter Boden, dem der Schritt des Lebens keinen Eindruck hinterließ. Sein Herz kannte keinen schnelleren Schlag. Seine Seele hatte das Jauchzen und das Weinen nicht gelernt. Er verletzte, ohne es zu wollen, und verwundete, ohne es zu ahnen.

Solche Menschen sind gewöhnlich sittlich streng und fest. Sie haben keine Versuchungen, kämpfen nicht, unterliegen nicht – siegen aber auch nicht. Sie sind anständig und ehrenhaft, tadellose Ehrenmänner. Aber auch unnachsichtlich, unerbittlich. Das menschliche, das göttliche im Menschen ist ihnen fremd. Sie gehen in selbstbewußter Ruhe ihren Weg und schieben alles beiseite, was ihnen störend ist. Sie wandeln im Schatten, aber sie wissen es nicht, weil nie ein Strahl des lebenerweckenden Lichtes in ihre Seele fiel.

Mit solchen Menschen Geschäfte haben, ist angenehm, denn sie sind rein sachlich und unbedingt zuverlässig. Mit solchen Menschen Freud und Leid des Lebens teilen, ist eine Qual. Es ist einfach unmöglich.

Wenn eine Frau wie Maria an einen Mann wie Arne Terhalden gebunden ist, so ist das ein tragisches Schicksal. Denn solche Frauen werfen nicht ihre Last von sich, sondern tragen sie. Und solche Frauen reden nicht, sondern sie schweigen. Und solche Frauen resignieren nicht, stumpfen nicht ab, werden nicht gleichgültig. Solche Frauen nehmen jeden Morgen aufs neue den allerschwersten Kampf auf, bis sie verbluten. Und endlich gehen sie aus dem Leben, still und schweigend, mit dem Geheimnis ihres großen, ungenannten Heldentums in der tapferen, traurigen Seele.

Des Menschen Schicksal wird am allerinnerlichsten durch seinen Charakter begründet. Menschen wie Arne Terhalden sind meistens glücklich, denn sie sind selbstzufrieden und brauchen wenig. Menschen wie Maria sind selten glücklich, denn sie streben und kämpfen immer, sind zu zart für das rauhe Leben und brauchen viel. Viel Liebe. Wenn aber Menschen wie Maria zum vollen Glücke kommen – dann ist das ein so unerhörtes, tiefgründiges, aufjauchzendes Glück, wie es zu den allergrößten Seltenheiten auf dieser unvollkommenen Erde gehört.

Maria hatte solch Glück einmal von ferne gesehen – und war daran vorbeigegangen. Es wäre besser gewesen, sie hätte es nie gesehen; dann wäre ihr der Mangel, an dem sie litt und blutete, vielleicht weniger zum Bewußtsein gekommen. Nun mußte sie immer vergleichen. Und vergleichen soll man nicht, sagt eine weise Lebensregel.

Je weniger ein echtes Weib in der Ehe Befriedigung findet, um so völliger wird es Mutter sein. Irgendwo muß die weibliche Lebensader ausströmen; irgendwie muß die Kraft wirken. Wo sie sich nicht teilen, ausbreiten kann, da konzentriert sie sich.

Maria hatte das werdende Leben ihrer Kinder begrüßt mit zitternder Freude, mit heiligem Beben; wie die Erlösung aus Magddiensten. Sie war keine sinnliche Natur, und das eheliche Leben gewann erst Wert und Weihe für sie durch das Kind. Das wäre so gewesen, auch wenn sie ihren Mann geliebt hätte; dann hätte sie das Ausbleiben der Kinder nur schwer ertragen. Mit dem ungeliebten Manne war es eine Existenzfrage ihrer Ehe.

Mit den Kindern kam ihr eine neue Kraft. Alle Inbrunst ihres Fühlens, ihres Liebens, ihrer Sehnsucht häufte sie auf die Häupter dieser kleinen Geschöpfe, die eine Frage an das Schicksal, an ihr persönliches Schicksal waren. Aber diese kleinen Geschöpfe, als sie heranwuchsen, standen ihrem heißen Herzen verständnislos gegenüber. Der Schrei ihrer Seele fand kein antwortendes Echo in diesen Kindern.

Es waren Arnes Kinder.

In schlaflosen, jammervollen Nächten flehte sie zu Gott um ein Kind, das ihr Kind sei; um ein Kind für ihr vernachlässigtes, hungerndes, mißhandeltes, frierendes Herz.

»Gib mir solch ein Kind als ein Zeichen, du mich nicht verläßt, daß du mir helfen willst in meinem schweren Kampf. Ich fühle, daß meine Kraft versagt und daß mein Wille matt wird. Hilf mir in meiner Einsamkeit und erbarme dich meiner in meiner Schwäche!«

Jahre vergingen und ihr Flehen fand keine Erhörung.

Maria fing an, mutlos und bitter zu werden. Es waren schlimme Jahre. Arne war unzufrieden mit ihr, und es war ihr gleichgültig. Alles fing an, ihr gleichgültig zu werden. Und die Sehnsucht nach dem Glück, das sie von ferne gesehen, schlug auf zu einer wilden Flamme, lohte durch ihre Nächte und blendete ihre Tage.

Da, in der allergrößten Not, wurde der kleine Alf geboren. Von seinem ersten Lebenstage an war er anders als seine Schwestern. Die kleinen Mädchen waren schweigend, wie selbstverständlich ins Leben gekommen; sie waren dicke, behagliche Geschöpfchen, die nur tranken und schliefen und alle Pflichten eines normalen Säuglings mit pünktlicher Genauigkeit erfüllten. Der kleine Alf begrüßte das Licht der Welt mit wildem Geschrei. Er schrie überhaupt andauernd viel, war unregelmäßig und unberechenbar in allem und machte seiner Umgebung viel Mühe und Plage. Er war gesund und kräftig, aber er war mager und unbändig und hatte alle möglichen kleinen Entwicklungsstörungen. Die Zähne bekam er zu ungewöhnlichen Zeiten, in ganz verkehrter Reihenfolge und unter mehr oder weniger großen Beschwerden. Seine Mutter kannte er bald. Wenn es niemandem gelang, ihn zu beruhigen – ihr gelang es immer. Viertelstundenlang konnte er auf ihrem Schoß liegen und sie mit seinen suchenden Augen ansehen. Dann war ihr, als suchten diese Kinderaugen nach ihrer Seele. Und sie drückte das Kind an ihr überströmendes Herz. Ihre Seele war bereit, sich ihm zu geben.

Als der kleine Alf größer wurde, legte er eine leidenschaftliche Zärtlichkeit für seine Mutter an den Tag. Er würgte sie beinahe mit seinen Umarmungen und seine Küße waren so ungestüm und zahllos, daß sie ihr den Atem benahmen. Im ganzen Hause lief er ihr nach, immerfort sollte sie für ihn da sein. Er schlief nicht ein, wenn sie nicht mit ihm betete und ihm den Gutenachtkuß gab, und er nahm von keinem andern sein Essen, wenn er sie in der Nähe wußte.

Das alles hatten die andern Kinder nie getan. Denen war es ganz gleich, wer ihnen das Essen gab, wenn sie es nur bekamen. Die andern Kinder waren sachlich – der kleine Alf war immer persönlich; sie waren stets ruhig überlegend – er immer impulsiv, stürmisch; sie immer von einer nüchternen Unbeweglichkeit – er immer voller Phantastereien und überströmender Gefühle.

Die andern Kinder waren von außen in Marias Leben hineingetreten als etwas Fremdes, mit dem sie sich mühsam zurechtfinden mußte. Der kleine Alf war aus ihrem eigensten, innersten Leben herausgeboren, Blut von ihrem Blute, Seele von ihrer Seele.

Der kleine Alf war der einzige Mensch in ihrer Umgebung, der ihrem Herzen wohltat; der auf ihre geheimsten Stimmungen reagierte, in dem sie ein Echo ihrer innersten Regungen vernahm.

Es klingt wunderbar, solches von einem Kinde zu behaupten. Und doch ist solches einem Kinde gegeben in all seiner Unbewußtheit. Darum war der kleine Alf der eigentlichste Inhalt von Marias Leben, wie es sich im Laufe der Jahre gestaltet hatte.

Er war es, durch den sie die Kraft zur Selbstverleugnung, zum treuen Ausharren, zum mutigen Weiterleben fand.

Arne Terhalden stand diesem Kinde verständnislos gegenüber. Seine Leidenschaftlichkeit war ihm unsympathisch, seine sinnige Art begriff er nicht, seine Zartheit respektierte er nicht. Er ängstigte den kleinen Alf durch rücksichtslose Strenge. Er war immer nur streng und hart, wo Milde und Weichheit das einzig richtige gewesen wären.

Der kleine Alf liebte seine Mutter, aber vor seinem Vater fürchtete er sich.

Maria suchte zu vermitteln.

»Habe Geduld mit ihm; er ist nicht so bösartig, er ist nur heftig.«

»Ich weiß ja – du bist verliebt in ihn. Du verziehst ihn.«

»Ich erziehe ihn nur anders wie ich die andern erzogen habe – weil er eben anders ist.«

»Ich mache keine Unterschiede zwischen meinen Kindern. Ich verlange, daß sie gehorchen und sich so betragen, wie ich es wünsche. Ich bin kein Anhänger moderner Persönlichkeitsduselei.«

»Und doch muß man die Persönlichkeit respektieren – schon im Kinde. Da am allermeisten. Jede Pflanze kann sich nur in ihrer Eigenart entfalten. Jeder Mensch kann nur werden, was er ist.« –

»Dann wäre also alle Erziehung Unsinn?«

»Gewiß nicht – auch der Baum muß geschult und gezogen werden, sonst bleibt er ein Wildling. Die Erziehung soll aus dem vorhandenen Material das beste machen – aber nicht umzwingen, vergewaltigen, nicht mit harter Hand verschlossene Türen aufbrechen und strömende Quellen vermauern. Das gibt verbitterte Menschen, verkrüppelte Seelen. Im günstigsten Falle Rebellion und Aufruhr.«

»Na – dann bleib du bei deiner Erziehungstheorie und laß mir die meine.«

Das war das Ende und zwar das allerschlimmste.

Die arme Maria sah sich in einen schweren Konflikt gestellt. Sie konnte nicht ihrer Ueberzeugung zuwiderhandeln, konnte nicht ein bewußtes Verbrechen an einer hoffnungsreichen Kinderseele begehen; konnte aber auch nicht des Mannes Wege in offener Fehde durchkreuzen.

Einstweilen half sie sich, indem sie den kleinen Alf dem Manne möglichst fern hielt und ihm die Liebe und Ehrerbietung für den Vater als oberstes Gesetz einzuprägen sich bemühte.

Mit wenig Erfolg. Der kleine Alf konnte kein Vertrauen zu seinem Vater fassen; seine Art fühlte sich von Arnes Art instinktiv abgestoßen und zurückgeschreckt.

Maria fand, daß die andern Kinder viel leichter zu erziehen waren. Da gab es wenig zu lenken und nichts zu dämmen, keine Probleme, keine Ueberraschungen. Das ging alles wie ein aufgezogenes Uhrwerk. Aber da gab es freilich auch nichts Warmes, Süßes, Hilfesuchendes, Liebesprühendes.

Marias ältester Sohn war im sechsten Lebensjahre gestorben. Warum? – Der wäre gewiß ein Mann nach Arnes Herzen geworden; den hatte er geliebt, an dessen Sarge hatte er die ersten grauen Haare bekommen, obgleich er in jenen dunklen Tagen kaum anders gewesen war wie an jedem andern Tage, während Marias Trauer etwas Resigniertes, Erstorbenes hatte. Der Tod dieses Knaben hatte aber nur eine Lücke in ihrem äußeren Leben bedeutet; sie war nicht enger mit ihm verbunden gewesen, wie jede normale Mutter mit ihrem Kinde.

Wenn der kleine Alf stürbe – das würde in ihre Seele reißen, das würde sie verderben, vernichten.

Aber der kleine Alf war ja gesund und vergnügt. Er war nie krank; aber er blieb zart. Er gehörte zu den Menschenkindern, deren Seele gleichsam auf Kosten des Leibes lebt, deren körperliches Wohl darum mit dem Wohl ihrer Seele aufs engste verbunden ist.

Maria wußte, sah, fühlte das. Darum hütete und pflegte sie diese ungestüme, zarte kleine Seele sorgsamer und ängstlicher, wie seinen Leib.

Arne verstand das nicht. Er belächelte es und ärgerte sich darüber.

»Du vergötterst dich selbst in ihm,« sagte er einmal.

Maria antwortete darauf nicht. Sie hatte gelernt, zu schweigen. Aber sie dachte darüber nach.

Weißt du denn, wie er ist und wie ich bin? Und wenn du es weißt, warum bist du dann so zu mir? Ist das auch Theorie? Willst du denn nicht wissen, nicht zugeben, nachgeben? Nein – du weißt es wahrscheinlich nicht – weder wie er ist, noch wie ich bin. Es ist nur ein Nichtwissen, Nichtverstehen, was dich so hart und grausam erscheinen läßt. –

Mit diesem leidigen Trost beschwichtigte sie immer wieder das gelegentliche Aufbäumen ihrer Seele.

Darin lag auch eine gewisse Theorie. –


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