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IX.

Es folgten ernste, stille Wochen.

Der Sieg war gewonnen. Nun galt es, ihn zu befestigen.

Genesungswochen erfordern viel Geduld, viel Festigkeit, vom Pflegenden sowohl wie vom Kranken. Da gibt es viel Schwäche zu überwinden, viel Unruhe zu bannen, viel Voreiligkeit zu dämmen. Die wiederkehrende Kraft macht plötzlich Vorstöße und ermattet dann wieder. Die angegriffenen Nerven machen Sprünge, in dem ringenden Körper tappt die zitternde Seele unsicher zwischen Licht und Finsternis.

Antje erholte sich sehr langsam. Es hatte sie zu fest gepackt, und der harte Kampf hatte zuviel Kraft gekostet. Die Gefahr war beseitigt, aber jedes Versehen, jeder versuchte Schritt auf dem schwankenden Stege, der zur Genesung führt, konnte sie wieder heraufbeschwören.

Es war gar nicht die Rede davon, daß Maria sie verlassen könne; ihre Anwesenheit war so nötig; allein schon für Antjes Gemütsstimmung, von der ein schnellerer oder langsamerer Fortschritt in der Besserung ebenso abhing, wie von der Befolgung der ärztlichen Vorschriften.

Maria war eine musterhafte Pflegerin. Treu, gewissenhaft, bestimmt und freundlich. Die alte Dorette sang ihr begeistertes Lob.

»Man braucht nur ihre Stimme zu hören, diese sanfte, liebe Stimme. Da wird einem ganz warm ums Herz.« sagte sie zu Rütjer Thoren, zu dem sie ein fast vertrauliches Verhältnis hatte. »Fräulein Antje ist oft recht grantig und ungeduldig – aber von ihr läßt sie sich alles sagen, ihr gehorcht sie. Sie muß so lange wie irgend möglich hier bleiben.«

Mitunter aber beschwerte sie sich über Maria bei Rütjer Thoren.

»Sie will mich nachts nicht mehr haben. Sie sagt, regelrechtes Wachen sei nicht mehr nötig, sie finde genug Zeit zum Schlafen. Aber ich glaube das nicht, sie schläft ja doch nicht, auch wenn sie im Bette liegt.«

Oder: »Nun ist sie schon anderthalb Wochen hier und war noch nicht ein einziges Mal draußen. Sie sagt, sie habe Luft genug, sie sitze stundenlang bei offenem Fenster. Aber sie sieht schon ganz grau und elend aus, schlechter wie Fräulein Antje. Sie muß einen ordentlichen Spaziergang machen, jeden Tag. Ich will sie gut vertreten so lange.« –

Rütjer Thoren indeß hatte auf diese in beinahe vorwurfsvollem Tone vorgebrachten Anklagen immer nur kühle Antworten.

»Dafür müssen Sie sorgen, Dorette. Dazu kann ich nichts sagen. Das geht mich weiter nichts an.«

Dorette war ihm böse darum. Es sah ihm so gar nicht ähnlich.

Rütjer Thoren kümmerte sich nicht mehr um die Vorgänge im Krankenzimmer.

In den ersten Tagen hatte er sich jeden Morgen persönlich bei Maria nach Antjes Ergehen erkundigt. Jetzt begnügte er sich mit dem, was er durch Dorette erfuhr. Manchmal sah er tagelang nichts von Maria Terhalden.

Trotzdem er stundenlang täglich im Amtszimmer saß, wenige Schritte von ihr entfernt, jenseits des Ganges. Da tat er die Arbeit seiner kranken Beamtin, rechnete und schrieb und verhandelte den Kleindienst mit den Leuten.

Oder er saß auch da und tat gar nichts.

Er, der sonst keine Stunde am Tage unbeschäftigt sein konnte, verfiel jetzt öfter in ein tatenloses Vorsichhinstarren, Grübeln, Träumen. Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber, sein verpfuschtes, einsames Leben.

Die Vergangenheit mit all den schweren Schlägen, die ihn zum ernsten Einsiedler gemacht, ward wieder lebendig, als sei vor lange vergessenen Bildern ein Vorhang fortgezogen.

Die alten Wunden fingen wieder an zu brennen.

Und das kam, weil da wenige Schritte von ihm entfernt ein Mensch lebte, atmete, wirkte und waltete, der den Schlüssel zu seinem Wesen in den weichen, feinen Händen hielt; der die Macht gehabt hätte, ihn von seiner Vergangenheit zu erlösen und das verödete Feld seines Lebens mit dem Samen eines unaussprechlichen Glückes zu bestellen.

Er hatte nie aufgehört, Maria zu lieben. In seiner Seele war sie stehen geblieben wie ein schönes, heiliges, wehmütiges Bild.

Nun hatte das Bild Leben bekommen, und um die mannhaft erkämpfte Ruhe seiner Seele war es geschehen.

Und ob er saß und arbeitete, und ob er saß und sann – immer lauschte sein Ohr, sein Herz auf einen Ton, der von drüben aus dem stillen Krankenzimmer, das eine Stätte der Hoffnung und des Friedens geworden war, hätte zu ihm herüber dringen können.

Er trug ja selber Schuld, daß alles so gekommen, daß Maria noch einmal in sein Leben getreten war. Er hätte ja Antje Terhalden niemals in seine Arbeit gestellt, wenn sie nicht – Terhalden geheißen hätte.

Einmal sah er Maria von weitem, als er durch den Park hinaus aufs Feld wollte. Sie schwebte unter den alten Bäumen dahin, von deren Kronen der erste Schnee in kleinen, weißen Klümpchen herniedertaute. Die matte Novembersonne streichelte ihren unbedeckten Scheitel. Sie konnte ihn nicht sehen, weil sie von ihm fort ging.

Rütjer Thoren kehrte um und ging auf einem andern Weg hinaus aufs Feld.

Einmal ging er am Wirtschaftshause entlang. Die niedrig gelegenen Fenster von Antjes Wohnzimmer standen offen. Im Vorbeigehen sah er flüchtig hinein, ohne den Kopf zu drehen, nur mit einem scheuen Seitenblick.

Maria saß am Tisch vor einem aufgeschlagenen Buch, aber sie las nicht. Sie starrte vor sich hin mit einem erschreckend schwermütigen Blick.

Rütjer Thoren dachte an das, was Antje gesagt hatte: sie hat ein schweres Leben.

Es wäre besser gewesen, auch für ihn, wenn Maria Terhalden ein leichtes, glückliches Leben hätte. –

Rütjer Thoren begann zu ahnen, daß er diesen Zustand auf die Länge nicht ertragen würde. Resignation, Märtyrertum, stilles Verzichten im steten Erleben dessen, dem das Verzichten galt, war nicht seine Sache.

Besitzen oder vernichten – alles oder nichts – ganz oder gar nicht.

Dieser elende Zustand war unwürdig, machte ihn wild und krank.

Einer mußte fort – sie oder ich.

Aber der rasche, heftige Mann, bei dem sonst Wille und Tat zusammenfiel mit verhängnisvoller Kraft, konnte sich nicht entschließen.

Der Zauber, dem schon Stärkere erlegen sind, lähmte seine Entschlußfähigkeit. –

»Maria,« sagte Antje, die ganz behaglich im Bett lag und der Schwägerin zusah, die in der offenen Tür zum Nebenzimmer am Tische saß und Krankenberichte an die Geschwister schrieb, »du könntest mir wirklich endlich einmal erlauben, mich einmal ordentlich satt zu essen!«

Maria sah lächelnd von ihrem Briefbogen auf.

»Noch nicht,« sagte sie. »Gedulde dich nur.«

»Ich habe fortwährend Hunger,« schalt Antje. »Hoffentlich brauche ich mich nicht mehr lange zu gedulden.«

»Lieber einen Tag zu lange, als zu wenig. Außerdem, wenn du erst so weit bist, daß du dich ordentlich satt essen kannst, reise ich ab.«

»Warum?« fuhr Antje erstaunt auf.

»Weil du dann meine Pflege nicht mehr brauchst.«

Antje spielte mit ihrem Zopf, aus dem Maria jetzt täglich ganze Strähnen dunkelblonder Haare auskämmte.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du überhaupt noch einmal abreist,« sagte sie.

»Gewöhne dich nur an dies Unabänderliche. Ich bin doch nicht frei, länger als nötig fortzubleiben.«

»Bis jetzt hast du dich nur angestrengt. Nun kannst du doch hier bleiben, bis du dich wieder ordentlich erholt hast!«

»Ich fühle mich gar nicht erholungsbedürftig. Es ist im Gegenteil stärkend und wohltuend, zu sehen, daß man etwas genützt hat!«

»Für mich ist es aber bedrückend, zu denken, daß du nach Hause drängst!«

Maria legte die Feder hin, stand auf und setzte sich auf Antjes Bett. »Du bist ein Dummerchen,« sagte sie. »Ich dränge gar nicht nach Hause. Ich würde gar nicht nach Hause reisen mögen, so lange ich dir hier nötig bin. Wenn ich das aber eines Tages nicht mehr bin – dann treten die andern Pflichten wieder in ihr Recht. Dann muß ich heim.«

Antje betrachtete sie nachdenklich.

»Du bist aus lauter Pflichten zusammengesetzt, Maria. Es ist ein wahres Glück, daß es bei dir immer Liebespflichten sind!«

Maria wurde rot. Das Lob dünkte ihr unzutreffend.

Maria täuschte Antje schon eine ganze Weile. Sie war nicht mehr gern hier; sie drängte nach Hause. Sie ging hier wie auf Stecknadeln und glühenden Kohlen.

Zuerst war das anders gewesen. Als sich die Not der ersten Tage, die Angst um Antje, die Furcht vor dem Angesicht der Vergangenheit beruhigt hatte, war ein tiefer Friede in ihre Seele eingezogen. Er hatte etwas von der Ermattung nach allzu großer Kräfteanspannung an sich; aber es war doch Friede. Friede in der zunehmenden Sicherheit neubelebter Hoffnung; Friede in dem Erlöstsein – wenn auch nur in vorübergehendem – von dem täglichen Kampf ihres Lebens; Friede in dem Empfinden einer Umgebung, die ihr wohltat bis in ihre kleinsten Aeußerungen. Sie fragte dem nicht nach, was ihr wohltat. Sie gab sich diesem Wohltuenden hin, wie der Uebermüdete sich dem Schlaf hingibt. Es läßt sich ja auch nicht erforschen und erklären, dies Wohltuende, das uns umstrickt und verzaubert in der Nähe des Menschen, dem unsere Persönlichkeit verfallen ist durch die Naturgewalt einer elementaren, aus der Ewigkeit in die Zeit geborenen Liebe.

Keine Rechte, keine Nahrung, keine Betätigung, keine Forderung, keine Erfüllung, keine Aeußerung, keine Hingabe, keine Hinnahme. Und doch Liebe.

Eine Pflanze, die da wächst und blüht und gedeiht und groß und stark ist, ohne daß ihr irgend eine irdische Existenzbedingung erfüllt wird, und die dadurch beweist, daß sie nicht irdischen Ursprungs ist.

Eine Pflanze der Ewigkeit.

Marias Seele war erfüllt von einem Duft der Ewigkeit, der die starke Lebensfreude in ihr auslöste, die, von den Unzuträglichkeiten ihres Lebens nur gehemmt und niedergehalten, ein ursprünglicher Bestandteil ihres Wesens war, und emporschnellte in kräftigen, gesunden Trieben, sobald sie von diesen Hemmungen befreit war.

Maria wäre ein Vollmensch tatkräftiger Lebensfreude geworden ohne diese Hemmungen, die ihr ganzes Sein in andere, fremde Bahnen gelenkt hatte. Würde sie es je lernen, diesen Hemmungen zum Trotz über die Verhältnisse hinauszuwachsen, das Leben zu meistern, und mit dieser unausrottbaren Lebensfreude über alle Schatten siegreich zu triumphieren?

Eins hatte sie gelernt in der schweren Not ihres Daseins, kraft dieses einen starken Himmelstriebes, dieses Gottesgeschenkes, das denen, die es haben und halten, den Stempel der Ewigkeit auf die ringende Seele drückt, kraft dieser Lebensfreude; eins hatte sie gelernt: die Freude am Kleinen; die Fähigkeit, heiße tiefe leidenschaftliche Freude zu empfinden an den vereinzelten Strahlen, die in ihr Dasein fielen von der Sonne das Glücks, die für sie ein für allemal hinter der Wolke stand. Wo ein solcher Strahl ihr Herz traf, blühte es auf und dehnte sich ihm entgegen und sog von ihm Kraft ein für den sonnenlosen Weg. Marias Seele bedurfte der Wärme und Liebe. Sie war noch nicht erstarrt und erkaltet am Mangel – die ewige Sehnsucht hielt sie wach und empfänglich für die kargen Brocken, die das Leben auch den Aermsten unter den Menschenkindern spendet.

Aber die meisten verachten die Brocken und Bröcklein, mit denen sie das Leben ihrer Seelen fristen könnten. Und dann kommt die Totenstarre über diese Seele – und die Fähigkeit zu leben stirbt.

Aus dem Schatten fortwährenden Verzichtens und Sichanpassens war Maria plötzlich herausgerissen in die volle Sonne unbeschränkter Entfaltungsmöglichkeiten, in die Sonne einer Liebe, deren Vorhandensein sich verrät durch dies elementare Empfinden unbeschreiblicher Wohltat. Sie schloß geblendet die Augen ihrer Seele, und so, mit geschlossenen Augen, ließ sie ihre Seele durchströmen und tränken von dieser befruchtenden Wärme, die alle Lebensgeister in ihr weckte.

Wenn sie wußte: drüben sitzt Rütjer Thoren – so kam ein Zustand von Ruhe und Zufriedenheit über sie, der an Selbstentäußerung grenzte.

Wenn sie Rütjer Thorens Stimme hörte, in der Gesindeküche, bei Dorette, oder auf dem Hof bei den Leuten, dann lauschte ihr ganzer Mensch wie in einem hypnotischen Schlaf der Entrücktheit aus allen bestehenden Verhältnissen.

Das Licht, unter dem sie lebte, die Luft, die sie atmete, der Boden, auf dem sie stand, die Stimmung, die sie erfüllte – über allem, auf allem und in allem stand mit strahlender Sonnenschrift der Name Rütjer Thoren.

Der Mann, auf dem ihr Leben stand, wie auf einem Felsen.

Allmählich wurde sich Maria klar über den Zustand, in dem sie dahinging. Sie war nicht ein Mensch anhaltender Unklarheiten: jeder Rausch, der sie gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun überfiel, verflog schnell vor den wahrheitssuchenden Augen ihrer Seele.

Rütjer Thoren kam eines Tages zu ihr mit einer Rechnungsangelegenheit, in die er keine Klarheit bringen konnte. Antje mußte das aufklären. Antje war gesund genug, daß man es wagen konnte, ihr einmal mit solchen Dingen zu kommen, zumal die Sache keinen längeren Aufschub duldete. Er bat Maria, Antje darum zu befragen und ihm Bescheid zu bringen – drüben im Amtszimmer.

Maria erledigte sich ihres Auftrages mit Eifer und Verständnis. Dann ging sie zu ihm und brachte ihm den aufklärenden Bescheid.

Als sie fertig war mit ihrem kurzen Bericht, währenddessen ihr Finger erklärend in dem großen Rechnungsformular von Zahl zu Zahl glitt und ihre Augen dem Finger den Weg wiesen, merkte sie, daß er nicht zuhörte. Und wie sie unter einem plötzlichen Zwange aufblickte, bemerkte sie, daß er sie die ganze Zeit angesehen hatte.

In diesem Augenblick tat Marias Seele die Augen auf für die ganze schreckliche, trostlose Wahrheit; tat ihr Gewissen den Mund auf zu vernichtender, vorwurfsvoller Anklage.

Rütjer Thoren strich sich mit der Hand über die Stirn und sagte:

»Verzeihen Sie – ich habe nicht recht verstanden.«

Maria sagte alles noch einmal. Sie leierte es so herunter.

»Ich danke Ihnen,« sagte er schwerfällig. »Ich wollte, Antje wäre erst wieder gesund –«

Aus der wärmenden Sonne war ein blendendes Blitzlicht geworden.

»Ja – ich wollte, Antje wäre erst wieder gesund und ich könnte fort –«

Und dann war da noch ein anderes, mit dessen Eintreten Maria nicht gerechnet hatte. Das war die Sehnsucht nach dem kleinen Alf.

Solange sie in diesem hypnotischen Zustand unwahrscheinlichen Wohlbehagens dahingegangen war, hatte sie an den kleinen Alf, den sie so schweren Herzens verlassen, kaum gedacht. Nun stand da in ihrer zum Bewußtsein erwachten Seele das Kind und schrie nach ihr.

Dies Kind, dies einzige, wirkliche Glück, das sie besaß; dies Kind, das ihre Rettung gewesen war aus Schwäche, Verzweiflung und Ohnmacht. Dies Kind, das ihr der liebe Gott gegeben hatte als Stab und Stütze auf ihrem Wege, als Hilfe in ihrem Kampf, als Anerkennung treuer Dienste. Dies einzig reine, ungetrübte Gute und Schöne, an das sie sich klammerte, wenn sie zu sinken drohte, an dem sie sich aufrichtete, wenn sie matt wurde.

Ich habe doch gar kein reelles Unglück, dachte Maria oft; warum bin ich so unglücklich, warum verkörpert sich der ganze Rest meines Glückes in diesem Kinde? Ist das alles nicht Einbildung, Verzärtelung, unerlaubter Kultus unberechtigter Bedürfnisse? Was mir fehlt, würde manche andre gar nicht vermissen.

Es kommt eben nicht darauf an, was einem fehlt, sondern auf das, was man braucht.

Was man braucht, dafür kann man nichts. Ob man am Mangel dessen, was man braucht, ein Held wird, oder ein Verbrecher – dafür kann man.

Das Kind stand da in ihrer Seele und schrie nach ihr. Bald war es eine Engelsstimme, die dem am Abgrunde Stehenden zuruft: Zurück! kehre um! rette dich! Bald war es wie die Stimme eines, der, selbst in höchster Gefahr, um Hilfe schreit.

Maria wurde nervös und schreckhaft an der Sehnsucht nach dem kleinen Alf. Sie hatte gräßliche Träume; sie sah den kleinen Alf in allerhand Lebensgefahren, sie hörte ihn weinen, sie sah ihn tot. –

Das ist nichts Natürliches, dachte Maria. Das ist entweder eine Ausgeburt krankhaft erregter Nerven oder es ist eine warnende Stimme von oben. –

Wovor warnt diese Stimme? Bin ich in Gefahr? Ist der kleine Alf in Gefahr?

Die kurzen Berichte von daheim meldeten jedesmal, daß es den Kindern gut ginge; also auch dem kleinen Alf.

Die künstliche Beruhigung durch zusammengesuchte Vernunftgründe verfing nicht. Wie mit Krallen riß die Sehnsucht an ihrem Herzen und ließ nicht los. –

Sie durfte gar nicht an den kleinen Alf denken, dann brannten ihr die Augen von aufsteigenden Tränen. Tag und Nacht sah sie kleine Kinderhände nach sich ausgestreckt. Tag und Nacht schmerzte ihre Seele, beständig hin und her gezerrt zwischen den beiden Polen ihres Lebens.

»Du bist so blaß und zerstreut, Maria. Was ist dir?« fragte Antje, die täglich mehr Teilnahme am Leben gewann.

Die harmlose Frage stieß Marias Fassung beinahe über den Haufen. Sie war außerstande, zu antworten.

»Hast du Heimweh?« fragte Antje weiter.

»Ach bewahre,« sagte Maria, mit einer Heftigkeit, die das Sichertapptfühlen verrät.

»Ich glaube, ich kann dich jetzt entbehren,« fuhr Antje fort.

»Ich würde gern deinen ersten Aufstehversuch erleben –« wandte Maria mit halber Kraft ein.

»Neulich sagtest du, wenn ich mich zum erstenmal ordentlich satt essen dürfte, würdest du nach Hause reisen. Ich versichere dir, ich bin heute mittag ganz satt geworden.«

Maria sah sie an, als traue sie ihr nicht, und möchte doch gerne glauben, was ihr versichert wurde.

»Mit dem Aufstehen kann es noch eine Woche dauern,« fuhr Antje fort. »Ich fühle mich zwar jetzt schon wohl genug dazu, aber der eigensinnige Doktor erlaubt es ja noch nicht. Um so mehr ist anzunehmen, daß dann alles gut ablaufen und um so schneller mit mir vorwärts gehen wird. – Ich kann mich ja jetzt auch schon beschäftigen, kann lesen, kann mit den Leuten schwatzen, die mich besuchen. Ich bin auch in der allerbesten, behaglichsten Stimmung. Du brauchst dich wirklich nicht mehr meinetwegen deinen Pflichten, Mann und Kindern, zu entziehen. – Zu Weihnachten komme ich zu euch und stelle mich dir in alter Kraft und Frische vor. Ich bin überzeugt, daß ich Urlaub bekomme.«

So redete Antje. Und Maria gab nach.

Sie schrieb an Arne und meldete ihre Heimkehr, nachdem sie fast vier Wochen fort gewesen war.

Am letzten Tage noch mußte es Antje einfallen:

»Wie bist du denn mit dem Grafen Thoren ausgekommen?«

Maria fuhr zusammen. Zum Glück war tiefe Nachmittagsdämmerung im Stübchen.

»Wie meinst du das? Ich habe ja nichts mit ihm zu tun gehabt.«

»Nun – du hast ihn doch gesehen, gesprochen. Ihr habt doch in der schlimmsten Nacht zusammen gewacht bei mir. Dorette hat es mir verraten.«

»Ich habe kaum das Nötigste mit ihm gesprochen.«

»Ihr kennt euch doch von früher her –«

»Du siehst daran, wie flüchtig die Bekanntschaft war.«

»Es ist doch seltsam. Er ist doch sonst nicht so –«

Antje grübelte über irgend etwas nach, das sie sich nicht erklären konnte. Maria fing an, krampfhaft von andern Dingen zu reden. –

»Sie wollen morgen fort?« fragte an demselben Abend Rütjer Thoren, dem sie im Park begegnete. Sie hatte sich daran gewöhnt, täglich in den Park zu gehen. Je munterer Antje wurde, um so mehr empfand Maria das Bedürfnis, eine halbe Stunde täglich allein für sich zu sein.

Diesmal war Rütjer Thoren nicht umgekehrt, als er sie von weitem sah. Diesmal war er ihr geradezu nachgegangen.

»Ja,« sagte sie. »Ich bin hier nun überflüssig geworden.«

Er fing an, neben ihr herzugehen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Sie sprachen von Antje in sachlichen Worten, in kurzen, hastigen Sätzen.

»Sie haben eine schöne Gabe, Sterbende wieder gesund zu machen.«

Maria wollte nicht verstehen.

»Ich habe Antje nicht gesund gemacht. Ich habe nur Gottes freundliche Absichten mit ihr ein wenig unterstützen dürfen.«

»Sie haben ihr wohlgetan; das ist für einen Kranken eine unschätzbare Hilfe. Und wenn es Gottes Absicht war, Antje gesund zu machen, so sind Sie sein Werkzeug gewesen. – Ich glaube,« fuhr er fort, als sie schwieg, »Sie tun jedem wohl, mit dem Sie zu tun haben.«

»Ich möchte es wenigstens,« sagte sie leise.

Schweigend gingen sie weiter.

Warum das – dachte Maria. Er sollte es uns lieber ersparen.

»Darf ich einmal von früher sprechen?« fragte Rütjer Thoren. Es klang eine schüchterne und doch leidenschaftliche Bitte durch seine Stimme.

»Nein – lieber nicht –« rief sie schnell und schroff und unvorsichtig.

Rütjer Thoren blieb stehen.

»Dann will ich Ihnen Lebewohl sagen.«

Er nahm ihre Hand und küßte sie. Ein Ohnmachtsgefühl überkam sie, wie damals, als sie vor ihm fortgelaufen war.

Rütjer Thoren ging.

Herr Gott, dachte Maria, das ist ja nicht möglich, daß wir so voneinander gehen! Wie soll ich nach diesem noch weiterleben!

Da sah sie plötzlich den kleinen Alf. Er streckte die Händchen nach ihr aus. Er schrie nach ihr.

Und es war dann doch möglich, daß sie so von ihm ging.

Sie fuhr am andern Morgen zum Hofe hinaus und hatte ihn nicht mehr gesehen.


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