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XII.

»Liebe kleine Maria!

Die Anrede paßt vielleicht gar nicht mehr; denn es ist lange her, daß ich dich so nannte – damals, als du noch solch liebes kleines Mädchen warst und dich so zärtlich an den großen Bruder schmiegtest, daß mir noch heute, wenn ich daran denke, warm wird ums Herz. – Vor mir liegt das schwarz geränderte Blatt, das mir den Tod deines Kindes anzeigt. Es ist das zweitemal, daß ich solche traurige Nachricht bekomme. Das erstemal, vor etwa sechs Jahren, hattest du mir selbst geschrieben. Ich dachte, daß du mir auch diesmal hättest ein paar persönliche Worte hinzufügen können. Es macht so unruhig, wenn man so in weiter Ferne solche kurzen, schweren Unglücksbotschaften bekommt. Man zerbricht sich den Kopf, wie das hat geschehen können, und wie es die traf, die es über sich ergehen lassen mußten. Ich suche mit Betrübnis den Grund deines Schweigens in den langen Jahren, die dazwischen liegen, in denen wir nur wenig und selten voneinander hörten – uns fast aus den Augen verloren haben. Es ist mir zum Bewußtsein gekommen, daß wir einander fremd geworden sind; aber auch, daß mir diese Tatsache sehr weh tut. Ich habe Heimweh bekommen und den Entschluß gefaßt, endlich einmal wieder nach Hause zu kommen. Natürlich zu dir. Denn du bist der einzige Mensch, der mir den Heimatbegriff verkörpert.

Als ich damals die Heimat verließ, unter dem Zorn des Vaters, und den Tränen der Mutter, geschah es in Trotz und Auflehnung gegen jeden Zwang und jede Autorität. Ich ging in die Freiheit, in die Selbstständigkeit. Und sie erschienen mir wie ein Paradies, in dem man mühelos goldene Früchte der Erkenntnis und des Erfolges pflückt. Aber die Früchte der Erkenntnis schmeckten bitter, und die Früchte des Erfolges haben mich unsägliche Kämpfe und Mühsal gekostet. Genug – ich gewann sie, und nun ist es mir um die Bitternis und die Not nicht leid. Als wir zuletzt voneinander hörten, nach dem Tode der Eltern, war ich in den elendesten Verhältnissen. Ich habe nie darüber berichtet, ich war viel zu trotzig dazu. Heut kann ich dir gestehen: ich war nahe dem Untergang, körperlich und seelisch. Die Mutter schrieb mir, daß Vater mir verziehen habe, und seine letzten Worte ein Segensspruch für den verstoßenen Sohn gewesen seien. Das hat mich wieder zu mir selbst gebracht. Unter dem geheimnisvollen Einfluß dieses Segens ging es wieder aufwärts mit mir. – Väter sollten immer ihre Kinder segnen; sie sollen fest und streng mit ihnen sein, aber sie sollen sie segnen. –

Ich nahm mir vor, sobald ich etwas Gewisses unter den Füßen hätte, wollte ich zur Mutter heimkehren. Ehe ich so weit war, erreichte mich die Nachricht von ihrem Tode.

Nun hatte es ja keinen Zweck mehr, heimzukehren. Den Verstorbenen war ich hüben ebenso nah, als drüben.

Seitdem habe ich wenig mehr von daheim gehört. Deine Briefe kamen immer seltener, immer kürzer. Es lag zum Teil an mir: ich antwortete nachlässig und ungenügend. Was sollte ich erzählen von Menschen und Verhältnissen, von denen bei euch niemand eine Ahnung hat. Ich wußte ja auch eigentlich gar nicht, an wen ich schrieb, wenn ich an dich schrieb. Ihr Frauen verändert euch oft bis zur Unkenntlichkeit in der Ehe, und wenn man den Mann nicht kennt, der euer Wesen mehr oder weniger bestimmt, so kennt man euch auch nicht mehr.

Nun will ich dich aber besuchen und sehen, was aus der lieben kleinen Maria geworden ist. Wenn dieser Brief dich erreicht, bin ich schon unterwegs. Zu Ostern hoffe ich heimischen Boden zu betreten. Schreibe mir an die unten angegebene Adresse nach Hamburg, ob ich für ein paar Wochen zu euch kommen kann, und auf welchem Wege man den Köbinghof erreicht. Mir ist nie ganz klar geworden, wo er eigentlich liegt.

Du brauchst nicht in Sorge zu sein, daß ich als verwilderter Steppenmensch in deinen zivilisierten Frieden, als Ordnungsstörer in die reinlichen und ordentlichen Zustände europäischer Kultur verheerend einbrechen könnte. Ich bin, was man so einen self made man zu nennen pflegt. Diese Bezeichnung ist allerdings bei euch, so viel ich weiß, auch mit einem unangenehmen Beigeschmack versehen. Nun – du wirst mich ja erleben.

Ich besitze seit einiger Zeit eine große Farm im inneren Westen Australiens, tausende von Pferden, Rindern und Schafen, und hunderte von Menschen sind meiner Pflege und Autorität anvertraut. Ich wohne in einem reizenden Landhause, ich ziehe mich gut an und wasche mich gründlich; ich habe weder verwildertes Haar noch einen struppigen Bart, und habe es auch noch nicht verlernt, mit vornehmen Herren und zarten Frauen umzugehen. Also vergönne mir ohne Bedenken Zutritt zu deinem häuslichen Herde. Ich bringe deinem unbekannten Gatten eine Fülle interessanter Erlebnisse mit, deinen Kindern ein wildes Tier, deinen kleinen Gräbern eine aufrichtige Trauer und dir ein unverwüstlich treues Bruderherz.

Dein Harald.«

Maria Terhalden saß schon eine ganze Stunde regungslos vor diesem Brief.

Hätte nicht ihr ganzes Seelenleben schon monatelang unter einem lähmenden Bann gelegen, so hätte sie wahrscheinlich vor Freude gejubelt und geweint. Der Bruder war der Glanzpunkt ihrer frühesten Jugend gewesen, und unter dem Schritt der Jahre, die trennend dazwischen lagen, pochte und kochte der Quell des gemeinsamen Blutes, dessen Kraft nie versiegt, die sich immer geltend macht, allen Hindernissen und Hemmungen zum Trotz. –

Sie waren unzertrennlich gewesen als Kinder. Eins undenkbar ohne das andre. Sie bewunderte seine Kraft, seine Geschicklichkeit, seine stürmische Lust und seinen stürmischen Zorn. Er konnte furchtbar böse werden, wenn irgend etwas oder irgend jemand ihm nicht zu Willen war; furchtbar zärtlich, überquellend von herrischer Liebe, wenn er jemandem gut war. Er war ebenso stark und heftig, wie sie zart und sanft. Und doch waren sie die besten Kameraden, denn ihre Seelen gingen denselben Weg, wenn auch in ihrer verschiedenen Art.

Dann, als Harald erwachsen und aus dem Elternhause hinausgegangen war, kamen die leidigen Geldgeschichten; die Zerwürfnisse mit dem Vater, der endlich dem Sohne seine Hilfe entzog und ihn ins Ausland schickte.

In dieselbe Zeit fiel Rütjer Thorens Krankheit und Arne Terhaldens Bewerbung. Darum war Marias Teilnahme an dem Schicksal des Bruders, das unter andern Verhältnissen auch für sie zum Schicksal hätte werden können, eine zerstreute. Darum entfernten sie sich voneinander in dieser Zeit, die sie sonst nur inniger hätte aneinander ketten müssen.

Und als Maria kurz darauf selber das Elternhaus verließ, war sie vorbeigegangen an der Mission, der sie sich sonst mit ganzer Seele bemächtigt und hingegeben hätte: ein Bindeglied zu werden zwischen Sohn und Eltern.

Manchmal war sie sich dessen bewußt geworden wie einer Versäumnis. Aber nun sie einmal den Faden aus der Hand verloren hatte, wußte sie nicht, wo und wie sie ihn wieder aufgreifen sollte.

Dazu kam, daß sie seit ihrer Verheiratung alle alten Beziehungen einschlafen ließ – als habe sie eine Scheu, irgend jemanden in ihr Leben hineinblicken zu lassen. Wenn sie dem Bruder schrieb, waren es nur oberflächliche, nichtssagende Briefe; eine Geburtsanzeige oder eine Todesnachricht. Wenn niemand von ihr wußte, niemand sich um sie kümmerte, dann ging sie am sichersten.

Zum zweitenmal in diesen beiden letzten Jahren trat nun wieder ein Stück Vergangenheit in ihr Leben. Und wieder stand sie zagend und erschrocken davor und wußte nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte.

Sie wußte ja nicht, was aus Harald geworden war. Fremd und hilflos stand sie vor dem Bilde, das aus entlegenen Zeiten und unbekannten Werdegängen aus diesem Briefe vor sie hintrat.

Eigentlich war sie überzeugt, daß er sich nicht verändert haben würde. Menschen von so starkem Gepräge, von so ursprünglicher Kraft verändern sich nicht; die entwickeln sich nur.

Ein Herz voll Liebe würde er mitbringen, dem ihre liebeshungrige Seele verfallen würde; und scharfe, helle Augen, mit denen er bald durchschauen würde, wie es mit ihrem Leben beschaffen war.

Das eine war ein Glück – das andere eine Gefahr.

Sie würde gern auf das Glück verzichten, um der Gefahr zu entgehen. Im Verzichten hatte sie Uebung; Gefahren fühlte sie sich nicht gewachsen.

Dieser elende Winter hatte sie körperlich und seelisch heruntergebracht. Blaß und mager war sie geworden, und in dem entkräfteten Körper führte die Seele ein dumpfes Verzweiflungsdasein; in verzehrender Sehnsucht nach dem armen, kleinen Alf, in mechanischer Erfüllung freudloser Alltagspflichten.

Ich kann es nicht mehr ertragen, dachte sie jeden Abend, wenn sie sich in die Stille ihres einsamen Zimmers zurückzog wie in den einzigen Winkel, in dem sie ungestört sie selbst sein durfte. Ich kann es Arnes wegen nicht mehr ertragen. Die Natur ist stärker als das Gesetz. Ich kann die Natur nicht mehr niederhalten, die sich gegen Arne aufbäumt. Ich habe einen körperlichen Widerwillen gegen ihn. Wenn er in meine Nähe kommt, kriecht mir irgend ein kaltes Gewürm über den Leib. Seine Stimme tut mir weh, sein Atem erregt mir Uebelkeit, sein Anblick erweckt mein Widerstreben. Ich habe mich nicht gehen lassen in meinen Empfindungen, ich nehme mich übermenschlich zusammen. Ich rechne mir alle Tage seine guten Eigenschaften vor, seine Zuverlässigkeit, seine Anständigkeit, seine Aufrichtigkeit. Aber das alles hat mit der Liebe entsetzlich wenig zu tun. Man kann unterdrücken, was man nicht äußern darf. Aber man kann nicht hervorzwingen, was nicht vorhanden ist. Immerfort steht da neben Arne der kleine Alf und sieht mich an mit verängstigten, klagenden Augen, und Arne macht ein unerbittliches Gesicht und hebt die Hand auf und schlägt ihn. –

Ich habe schon Uebermenschliches getan, daß ich diese Hand jemals wieder berührt habe. –

Ich kann es nicht mehr ertragen, dachte sie jeden Abend. Und jeden andern Morgen hatte sie es dann doch gekonnt.

Einmal aber würde ein Tag kommen, wo sie es nicht mehr konnte, weil ihre Kraft zu Ende sein würde.

Wollte Gott sie vor diesem Tage bewahren, indem er ihr noch einmal eine Hilfe schickte? Eine Hilfe in Gestalt dieses Bruders? Eine Hilfe, die er ihr dann wieder nehmen würde, wenn sie ihrer am notwendigsten bedurfte? –

Maria dachte hin und her und dachte sich müde und dumm und kam endlich zu der Einsicht, daß alles Denken unnütz war.

Denn daß sie dem Bruder abschrieb – das war ja unmöglich.

So ist es immer. Man ist wehrlos dem ausgeliefert, was das Leben bringt und muß zusehen, wie man damit fertig wird. –

Arne Terhalden freute sich nicht sonderlich auf diesen Gast, dessen Geschichte er nur in ihren flüchtigsten äußeren Umrissen kannte. Er sah in ihm nur einen Abenteurer, und das erfüllte ihn von vornherein mit Mißtrauen und Unbehagen. Leute, die einmal »um die Ecke« gegangen sind, sollten lieber hinter ihrer Ecke bleiben, statt ungerufen wieder hervorzukommen und andere zwecklos zu beunruhigen. Er hatte weder Talent noch Passion zum Umgang mit solchen Leuten. Zwischen ihm und ihnen lag die Kluft, die den Pharisäer vom Zöllner trennt.

Er hütete sich, diese Gedanken zu äußern, sondern gab ohne Einwände seine Zustimmung zu diesem Besuch. Er hatte beständig Furcht vor Maria. Sie war ihm unheimlich, und sie war ihm unbequem. Er mied ängstlich jede Veranlassung, die zu irgend einer Erregung hätte führen können. Er fürchtete am meisten diese entsetzliche Nachgiebigkeit in äußeren Dingen, die in so krassem Widerspruch stand zu dem Starrsinn ihres inneren Verhaltens. Er wußte, wenn er sich diesem Besuch ihres Bruders widersetzte, so würde sie ihm abschreiben, ohne ein Wort darüber zu verlieren – und dann würde sie zu ihm gehen. Und das wäre ihm noch unangenehmer gewesen.

Je völliger sie ihm innerlich abhanden kam, um so fester hielt er sie äußerlich.

Wenn dieser Bruder kommt, dachte Arne, von dem man obenein noch nicht wissen kann, wie er ist und was für Unannehmlichkeiten man von ihm haben wird, so wird er natürlich mit Maria gegen mich stehen, bewußt oder unbewußt, heimlich oder öffentlich. Ich lasse mich aber nicht in meinem eigenen Hause an die Wand drücken. Ich werde mir ein Gegengewicht verschaffen, indem ich mir Antje einlade. Sie hat sich zu Weihnachten sehr taktvoll und tadellos benommen. Sie wird mir auch über diese Schwierigkeiten hinweghelfen, und ich kann auf Maria einen Gegendruck ausüben.

Er schrieb an Antje und überraschte Maria wenige Tage später mit ihrer Zusage, das Osterfest bei ihnen zu verleben.

Maria sah Arne nachdenklich an.

»Warum hast du das getan?« fragte sie gedankenlos; sie wußte es ja, hatte es sofort begriffen.

»Warum? Ganz einfach, weil ich mir denke, daß sie in den Festtagen lieber hier ist, wie dort in ihrer Einsamkeit.«

»Ich wundere mich nur,« sagte Maria ganz gleichmütig, »weil Antje doch die Absicht hatte, zu Ostern zu Venningens zu gehen, um Maren bei den Taufvorbereitungen zu helfen.«

»Sie wird sich wohl denken, daß sie hier noch nötiger ist als bei Maren,« sagte er scharf.

Sie sah flüchtig auf, mit einem dieser Blicke, die er fürchtete.

»Mir ist es ja sehr recht,« sagte sie, ziemlich anteillos. –

Arne wurde nicht klug daraus, ob sie sich auf den Bruder freute. Den Anschein hatte es nicht. Sprechen taten sie nicht darüber. Still und stumm, wie Maria durch all ihre Tage ging, lebte sie auch diesem Tage entgegen.

Aber durch ihre verstummte, verhärtete Seele ging ein Zittern, das Bangen einer ängstlichen Erwartung, das Ahnen eines Neuen, von dem sie noch nicht wußte, ob es wohl oder wehe tun würde. Und der kleine Alf stand da in ihrer Seele, mit seinem süßen, zärtlichen, traurigen Gesichtchen, und die Seele wagte nicht, sich freudig zu regen. –

Sie standen alle erwartungsvoll bereit, als Harald Overberg ankam. Arne und die Kinder draußen vor dem Hause, Maria an die Tür gelehnt, als bedürfe sie einer Unterstützung; mit stillen, etwas starren Augen, als ginge der Gast, der mit einem elastischen Sprung aus dem kaum haltenden Wagen sprang, sie nichts an.

Sie stand und wartete und sah ihn an. Sie sah zu, wie er Arne und die Kinder begrüßte; stürmisch, vertraulich, als habe er sie lange gekannt, als merke er gar nicht, daß seine Begrüßung unbeholfen und steif erwidert wurde.

Und dann sah er sich um.

Er sah Maria, und einen Augenblick stutzte er. Er wußte nicht recht, ob er diese blasse, stille Frau mit den merkwürdig freudlosen Augen als seine Schwester ansprechen solle; seine rosige, sonnige Schwester; seine liebe, kleine Maria.

Wie seine Blicke prüfend, fragend über sie hinglitten, um wieder zu ihren Augen zurückzukehren, schoß plötzlich in diesen Augen ein heißer, scheuer Strahl auf, als wenn Sonnenlicht einen Wellenkamm überblitzt. –

Da wußte er, daß sie es war.

Im nächsten Augenblick hielt er sie umschlungen und küßte sie wie ein wilder Junge.

»Mein liebes, kleines Mädel – meine liebe, alte Mia –«

Sie lag willenlos in seinen Armen. Sie verschwand ganz darin.

Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr forschend ins Gesicht; aus seinen Augen flutete eine warme Zärtlichkeit. Sein ganzes Wesen war ein liebesstarkes Besitzergreifen.

Es schmolz etwas in ihr; es brach etwas in ihr auseinander, wie Riegel und Klammern unter einer starken Hand.

Sie schluchzte laut auf.

Er drückte sie noch einmal fest an sich; diesmal ganz stumm, ganz lange. – Auch ihn übermannte eine Rührung. –

Ja, und nun war er da.

Das stille Haus war lebendig geworden. Durch die unbewegte Lebensatmosphäre strich ein starker, warmer Wind. In die dunklen, dumpfen Ecken und Winkel guckte fürwitzig und rücksichtslos eine erhellende Sonne.

So große Macht hat ein einzelner Mensch; die zauberstarke Macht, seine ganze Umgebung dem Zwange seiner Persönlichkeit zu beugen; seiner fraglos sich entfaltenden und durchsetzenden Persönlichkeit. Das geht allemal so, wo die Persönlichkeit eine starke ist; wo ihre Stärke in Wärme besteht.

Ueberall hörte man seinen raschen, energischen Schritt; so einen Schritt, der immer ein Ziel hat, das er unter allen Umständen erreichen wird; überall erklang seine volltönende, mutige, muntere Stimme; überall war seine Teilnahme, sein Fragen, sein Erfassen; überall war sein Lachen und sein Augenleuchten.

Wenn der große, blonde Hüne ins Zimmer trat, so war es jedesmal, als wenn die winterlich verschlossenen Türen aufspringen, um den starken Frühlingsodem einzulassen.

Es war eine Flut von Kraft und Freudigkeit um ihn, von sieghafter Heiterkeit und unerschütterlicher Lebensbejahung.

Arne war das im höchsten Grade ungemütlich. – Arne war auch eine Persönlichkeit, die unwillkürlich die ganze Umgebung beeinflußte, die sich rücksichtslos durchsetzte und alles Gegnerische verständnislos übersah oder gewalttätig auf den Kopf trat. –

Hier war jemand, der sich nicht übersehen und nicht auf den Kopf treten ließ. Hier war jemand, der seinen Platz behauptete und eroberte auf Kosten des Platzes anderer.

Arne spürte den Kampf um diesen Platz. Arne war den Kampf nicht gewohnt. Arne ahnte die Ueberlegenheit des Gegners.

Arne Terhaldens Persönlichkeit war der kalte, lebenhemmende Schatten. Harald Overbergs Persönlichkeit war die warme, lebenfördernde Sonne. Vor der Sonne verkriecht sich der Schatten. Arne Terhalden wich Harald Overberg aus. Er zog sich zurück, weil er nicht weichen wollte.

Arne Terhalden war der starre, trotzige Fels; Harald Overberg der wilde, kraftgeschwollene Bach, der über den Felsen hinwegstürzt – ohne ihn zu erschüttern, aber auch ohne sich durch ihn hemmen und beirren zu lassen. Der Felsen kann den Bach nicht aufhalten, er bleibt liegen in trotziger Reglosigkeit, und der Bach stürzt weiter, entwurzelt morsche Bäume und befruchtet tote Gefilde.

Gott sei Dank, daß Antje kommt, dachte Arne Terhalden. Das ist ja ein Wirbelwind, der einen gesetzten Menschen schwindlig macht.

Zu einer ruhigen, zeremoniellen Unterhaltung über nützliche und praktische Dinge, wie Arne sie liebte, schien es nicht zu kommen.

»Onkel Harald,« sagte das schüchterne Stimmchen der wohlerzogenen Paula, und dabei sah das Kind mit ganz verängstigten Augen zu dem blonden Riesen auf, »der Affe ist uns ausgerissen; er sitzt draußen auf der Eiche und wirft mit trockenen Zweigen um sich!«

Harald lachte wie ein übermütiger Primaner.

»Na – da werd ich ihn euch wohl herunterholen müssen!«

Und wahrhaftig – der große Junge zog seinen Rock aus, schleppte eine Leiter heran, als sei es ein Rohrstuhl, und nachdem er so den kahlen Stamm überwunden, kletterte er von Ast zu Ast, immer höher hinein in die Krone, gewandt wie eine Katze, sicher wie ein Eichhorn, und schäkerte dabei mit dem kleinen Ausreißer, lockte ihn mit Zuckerstücken und Semmelbrocken, bis endlich ein schneller Griff ihn der ergaunerten Freiheit beraubte. Und so, in der einen Hand das fauchende, sich sträubende Ungetümchen, mit der andern den Rückweg ertastend, fand er sich wieder herunter auf den Boden normaler Lebensverhältnisse.

Da stand er und lachte wieder.

»Ihr seht ja so entsetzt aus, als hätte ich mich mit Riesen und Drachen geschlagen – oder als hätte ich mich furchtbar unpassend benommen. Na, wißt, ihr kleinen tugendhaften Fräuleins, wenn Not am Mann ist, dann gibt's weder passend noch unpassend; dann heißt's: drauf und dran. So, und nun gebt mal den Käfig her, und ein andermal seid vorsichtiger und laßt den Jim wenigstens nicht in der freien Natur entwischen!«

Ja, der Affe, der »Jim«, das war auch so ein Stein des Anstoßes für Arne Terhalden. Wie kann man auf den Gedanken kommen, andern Leuten solch Viehzeug ins Haus zu bringen. Auf eine australische Farm mag er passen, wo ohnehin weder Ordnung noch Reinlichkeit herrscht; aber in einem zivilisierten Landhause ist so etwas eben unmöglich. Immer war der »Jim« da, wo er nicht sein sollte und wo man ihn nicht erreichen konnte; auf den Gardinenstangen, auf den Spinden. An der Kette der Hängelampe kletterte er herunter und sprang mit einem Satz auf den Tisch, daß die Lampe schaukelte wie im Schiff auf wilder See und alle Gegenstände auf dem Tisch durcheinander fielen. Alle Augenblicke kreischte jemand laut auf wegen »Jim«, und der faule Hofhund setzte wie rasend mit wildem Gebell über Beete und Büsche, weil der »Jim« auf seinem Rücken saß und sich aus Entsetzen über dies Wagestück immer zausender in das zottige Haar einkrallte. – Jim fraß den Zucker und beknabberte die Aepfel auf der Mittagstafel; er beschmierte sich mit Butter und wischte sich auf dem Läufer ab. Er kostete vom Spiritus und schleuderte voll Ekel die Flasche an die Wand, wo sie klirrend und spritzend zerbarst. Er schleifte Puppen und Nähzeug durchs ganze Haus; er ging durch jedes offene Fenster und hatte eine verhängnisvolle Vorliebe für das Zerbeißen und Zerreißen von Handschuhen und Filzpantoffeln.

Das ganze Haus war außer Rand und Band wegen Jim. Die Leute kreischten und liefen von der Arbeit weg, die Kinder waren am Weinen. Harald lachte alle aus. Und Maria – Maria fand den Tumult unbeschreiblich erquickend und hörte ihm wie im Traume zu, ohne sich irgendwie daran zu beteiligen.

Am Abend aber sprach Arne ein Machtwort.

»Ich verbitte mir diese Wirtschaft. Sperrt den Affen ordentlich ein und paßt besser auf. Wenn ich ihn noch einmal finde, wo er nicht hingehört, schieße ich ihn tot. Merkt euch das.«

Harald sah Arne Terhalden erstaunt an. Dann nahm er die erschrockenen Kinder an die Hand.

»Kommt, wir bringen den Jim samt seinem Käfig in den Pferdestall. Und legen ein Schloß vor die Tür. Und dann dürft ihr aber nicht vergessen, den armen Kerl zu füttern. Solange ich hier bin. Dann nehme ich ihn wieder mit, und dann habt ihr Ruhe.«

Die Freude war also gründlich vorbei. Denn das gefangene Tierchen zu füttern, das traurig in seinem Käfig hockte und melancholisch an seinem Futter knabberte, war keine Freude.

»Ja – es geht doch nicht anders,« trösteten sich Paula und Trude und Lotte. »Er paßt eben hier nicht her.«

»So, du kluge, dumme Person,« sagte Harald, der nur mühsam seinen Aerger verbarg. »Meinst du, daß man alles in einen Käfig sperren muß, was einem nicht paßt?«

»Ja – es wäre doch das bequemste!«

»So – auch für den Gefangenen?«

Die Zehnjährige zuckte die Achseln.

»Warum beträgt er sich so –« meinte sie altklug.

Harald hörte auf, sich zu ärgern, weil er sich so sehr wunderte.

Er steckte dem kleinen Gefangenen noch ein Stück Zucker zu.

»Na, gedulde dich nur, kleiner Jim. Ich bringe dich sobald wie möglich wieder beiseite. Ich bin eben wieder mal dumm gewesen!«

Der Affe war nur ein Vorspiel zu andern aufregenden Dingen.

»Sage mal, Maria, seid Ihr hier eigentlich immer so sonderbar?« fragte Harald, als er am Abend des zweiten Tages bei seiner Schwester saß. Arne hatte sich unter dem Vorwand, arbeiten zu müssen, in sein Zimmer zurückgezogen.

Maria sah auf mit einem scheuen Schreck in den Augen.

»Wie meinst du das –?«

»Nun – ihr sprecht ja kaum miteinander. Keiner kümmert sich um den andern. Jeder geht seinen eigenen Weg. Man weiß ja gar nicht, an wen man sich halten soll!«

Maria stichelte krampfhaft an ihrer Näharbeit.

»Arne ist sehr zurückhaltend,« sagte sie. »Er ist auch wenig an den Umgang mit Menschen gewöhnt.«

»Ach – das meine ich ja gar nicht. Ich spreche nicht davon, wie ihr zu mir seid, sondern davon, wie ihr untereinander seid. Es wird einem ja ganz beklommen zumute dabei. Du hast, seit ich hier bin, noch nicht ein einzigesmal gelacht.«

Ueber ihr Gesicht flog ein finsterer Schatten.

»Ich habe Trauer,« sagte sie herb.

Er schwieg eine Weile. Daran hatte er eigentlich noch gar nicht gedacht. Sie hatte noch gar nicht davon gesprochen.

»Gehörst du zu denen, die sich vom Leben niederdrücken lassen?« fragte er mitleidig.

»Ich weiß es nicht. Es kann wohl sein.«

Er wurde unruhig. Er sah sie an und wußte nicht recht, was er nun sagen sollte.

»Du mußt dich aufraffen, Maria,« meinte er endlich. »Es ist so elend, wenn man vor dem Leben zu Kreuze kriecht!«

»Ja – es ist sehr elend,« sagte sie ruhig. Und wieder trat eine Pause ein.

»Erzähle mir von deinem Kinde,« bat er.

Ihr Gesicht bekam einen harten Zug.

»Ich kann nicht davon sprechen.«

Er sah sie grüblerisch an. Sie war so verändert – er konnte nicht klug aus ihr werden. Es war etwas Undurchdringliches um sie her. Er konnte sich keinen Begriff davon machen, warum sie so verändert war; wie es eigentlich um ihre Seele beschaffen sei.

»Dann erzähle mir irgend etwas anders –«

»Erzähle mir lieber von dir,« bat sie.

Er täte das gern. Er hatte sich so darauf gefreut, sich danach gesehnt, sich mit ihr über alles auszusprechen. Nun mußte er sich immer wehren gegen ein Gefühl, als fröre ihm der Mund zu.

»Ja – interessiert es dich denn auch?«

Und dann kam er doch ins Erzählen.

Der Egoismus des gesunden, von seiner Arbeit und seinen Erfolgen gesättigten Menschen kam über ihn. Er vergaß Maria und ihr rätselhaftes Wesen, vergaß die bedrückende Atmosphäre, schüttelte sie von sich ab mit der Kraft einer Persönlichkeit, die über die kleinen Widrigkeiten des Lebens siegen gelernt hat.

Er schilderte seine Kämpfe und seine Nöte, und wie seine Seele das Auf und Nieder seiner materiellen Lebensphasen mitgemacht hatte. Schilderte sein Vorwärtskommen, sein äußeres und inneres Sicher- und Festwerden. Schilderte sein fremdartiges, tätiges, verantwortungsvolles Dasein, in dem er nun glücklich und zufrieden war.

Maria hatte längst ihre Arbeit beiseite gelegt. Die Hände müßig im Schoß ruhend, die Augen mit wachsender Anteilnahme auf ihn gerichtet, zogen die Worte, die er sprach, die Bilder, die er entrollte; an ihren Ohren, ihrer Seele vorüber. Es war ihr, als sähe sie in ein Märchenland; nicht nur wegen der fremdländischen Zustände, die er beschrieb. Aber diese Bewegungsfreiheit – diese Selbstbetätigung – dieser unendliche Raum für die Entfaltung einer Persönlichkeit – sie hatte in ihrer Jugend davon geträumt, und sie hatte ganz vergessen oder überhaupt nicht gewußt, daß es so etwas gab.

Es war eine Zeit gewesen, da hatte sie gedacht: man kann auch in engen Verhältnissen freiwerden, sich selbst betätigen. Raum schaffen für sich selber. – Die Zeit war vorbei. –

Es gibt zu viel Pflichten, zu viel Konflikte, zu viel unüberwindliche Mächte. – Und die Kraft, mit der man sich entgegenstemmt, ist eine verschieden verteilte. Niemand kann über seine Kraft.

Es gibt eben nur zwei Möglichkeiten: entweder der Mensch unterwirft sich den Verhältnissen, oder die Verhältnisse unterwerfen sich den Menschen. Entweder man siegt und ist glücklich in allem Unglück. Oder man unterliegt und ist elend in allem äußeren Glück. Heil den Siegern – wehe den Unterlegenen!

Maria hatte siegen wollen, sie war nahe daran gewesen, kraft ihrer bejahenden Lebensenergie. Nun hatte diese Energie einen Todesstoß bekommen. Die Tür zum Leben, die sie mit verzweifeltem Willen immer noch einen Spalt offen gehalten hatte, war zugeschlagen. Ihre Seele hatte die Flügel gefaltet und saß im Dunkeln, in stummer, trotziger Hingabe an ein übermächtiges Geschick.

In dieses Dunkel hinein fiel Haralds Wort und Haralds Wesen wie ein Lichtstrahl aus unerreichbarer Sonnenregion; er blendete; er wärmte; sie trank ihn in sich hinein; sie trank sich eine traurige Sehnsucht in ihr mutloses, frierendes, zerschlagenes Herz. –

Wenn ich doch noch einmal von vorn anfangen könnte! dachte Maria.

Aber ich kann nicht mehr – nie mehr! Das Grab des kleinen Alf versperrt mir den Weg zum Leben.

»Hörst du eigentlich zu, Maria?« fragte Harald Overberg. »Du siehst ja so abwesend aus!«

»Ja,« sagte sie. »Ich höre zu. Und mir ist, als seist du auf einen hohen Berg gestiegen, während ich mich auf der staubigen Landstraße ziellos weiterschleppe.« –

Aber wie es so oft ist: gerade wenn das Herz sich auftun will nach langem Sträuben, kommt irgend etwas und schiebt einen Riegel davor.

Gerade, als Maria diese Worte sprach, öffnete sich die Tür und Arne Terhalden trat ein und setzte sich zu ihnen.


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