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Inmitten einer weiten, fruchtbaren, mit Dörfern besäeten Ebene lag ein großer hügeliger Wald.
Auf einem der Hügel breitete sich ein hohes, weites Schloß aus, reich und elegant gebaut in dem Renaissancestyl der ersten Decennien es vorigen Jahrhunderts. Ein Garten schloß sich ihm in weiter Ausdehnung an, mit Bosketts, mit Weihern, Lusthäusern und Alleen, in der dichten Waldung rund umher sich zuletzt verlierend. Dem Schlosse zur Seite lagen weitläufige Wirthschaftsgebäude.
Alles war wohl erhalten und zeugte von dem Reichthum, aber auch von der vielleicht peinlichen Ordnungsliebe des Besitzers.
In dem Schlosse und in den Wirthschaftsgebäuden zur Seite und in dem Raume zwischen beiden herrschte ein reges, geschäftiges Treiben. Die Leute waren mit dem Ausziehen beschäftigt, die Bewohner des Schlosses verließen dieses und zogen in die Wirthschaftsgebäude ein. Es geschah eilig, die Leute rannten und stürzten an einander her. Die aus dem Schlosse kamen, trugen und schleppten Möbel und Hausrath aller Art hinter sich her; die aus den Wirthschaftsgebäuden zurückkehrten, hatten es noch eiliger, um neue Sachen aus dem Schlosse herbeizuholen und in die Seitengebäude zu befördern.
Es war Nachmittag. Noch vor dem Einbrechen des Abends war der Umzug vollendet und das Schloß von seinen bisherigen Bewohnern mit Sack und Pack, mit Allem, was sie darin ihr Eigenthum nennen konnten, geräumt.
Der prächtige Bau war das Schloß Falkenburg, der Herrschaftssitz des Freiherrn Carl von Falkenburg, dem alles Land rund umher gehörte, der Wald und die Ebene mit den großen wohlhabenden Dörfern darin. Das Gut Falkenburg war das größte und reichste Gut der Gegend; die Leute nannten es die »Herrschaft« Falkenburg.
Die freiherrliche Familie hatte das Schloß seit Jahren nicht bewohnt. Der Freiherr Max von Falkenburg, der Vater des jetzigen Besitzers, hatte es verlassen, als dieser, der Freiherr Carl, ein Knabe von sechs bis sieben Jahren war. Er war nicht wieder zurückgekehrt; Niemand von der Familie war jemals wieder da gewesen. Er hatte das Schloß plötzlich verlassen; der Grund war nicht bekannt geworden; es wurde wenigstens nicht darüber gesprochen.
Er hatte seinem alten Rentmeister Buchholz, der ihm schon lange treu gedient, die Verwaltung des Gutes mit unbedingter Vollmacht übertragen und mit der Anweisung, von den Einkünften eine vierteljährige namhafte Summe an ein Bankierhaus in Frankfurt am Main zu schicken, durch das die Gelder weiter an ihn würden befördert werden. Der Rest der Einnahmen solle zur Verbesserung, Vergrößerung und Verschönerung des Gutes, oder zur zinsbaren Belegung, nach dem Ermessen des Rentmeisters verwandt werden.
Niemand im Schlosse hatte seitdem von der Herrschaft etwas erfahren. Der Rentmeister hatte zwar einmal brieflich bei dem Frankfurter Bankierhause sich nach dem Freiherrn erkundigt, aber nur zur Antwort erhalten, man wisse ebenfalls nichts von ihm; die Gelder würden der Anweisung des Freiherrn gemäß an ein Bankierhaus in Paris geschickt, und dieses sende regelmäßig die Quittungen des Freiherrn ein, die von dessen bekannter Hand ausgestellt seien, manchmal in Paris, manchmal aber auch ohne alle Angabe eines Ortes. Wie danach das Frankfurter Haus keine Zweifel ausgesprochen hatte, so hatte auch der Rentmeister Buchholz gemeint, keine hegen zu dürfen, zumal da jenes Frankfurter Haus durch ganz Europa den Ruf der Solidität und Rechtschaffenheit genoß. Er hatte daher auch nicht wieder um Nachricht über die Herrschaft geschrieben.
Vor ungefähr drei Jahren war ihm dennoch eine Kunde über diese geworden, und zwar dahin, daß der Freiherr Max gestorben sei. Das Frankfurter Haus sandte die Papiere über seinen Tod ein. Sie waren von der Behörde einer kleinen Stadt im südlichen Frankreich ausgestellt und begleitet von einer bei derselben Behörde ausgestellten Vollmacht des Sohnes des Verstorbenen, des jetzigen Freiherrn Carl Albrecht von Falkenburg, durch welche dieser den Rentmeister Buchholz in seinem Posten bestätigte und ihn anwies, ganz in der bisherigen Weise das Gut zu verwalten, auch die Gelder für seinen nunmehrigen Herrn nach wie vor an das Frankfurter Bankierhaus zu schicken, dessen Quittungen von ihm, dem Freiherrn Carl, als die seinigen würden anerkannt werden. Die Summe der einzusendenden Gelder war nur erheblich erhöht.
Der Rentmeister glaubte auch jetzt keine Veranlassung zu Zweifeln haben zu dürfen. Das Frankfurter Haus hatte dem Erben getraut und war ihm verantwortlich und sicher.
Die Revenuen des Gutes waren überdies so sehr verbessert, daß der neue Herr das Vierfache der geforderten Summe hätte verlangen können und doch noch immer bedeutende Ueberschüsse geblieben wären. Er zog aus jener erhöhten Forderung nur Schlüsse auf ein verschwenderisches Leben des jungen Herrn; aber er erkundigte sich nicht weiter nach ihm.
Er erfuhr auch außerdem nichts von ihm, und im ganzen Schlosse wußten sie von dem neuen Herrn durchaus nichts weiter, als daß er vor etwa fünfundzwanzig Jahren als ein hübscher und wilder Knabe von sechs bis sieben Jahren mit seinem Vater die Falkenburg verlassen hatte.
Da war an jenem Tage, an welchem die Bewohner von Falkenburg mit dem eiligen Ausziehen aus dem Schlosse beschäftigt waren, kurz vor Mittag mit der Post ein Brief an den Rentmeister Buchholz eingetroffen, geschrieben zu Frankfurt am Main von dem Freiherrn Carl von Falkenburg, enthaltend den Befehl, Angesichts dieses das Schloß Falkenburg zu seiner Aufnahme in Bereitschaft zu setzen, indem er an einem bezeichneten Tage mit seiner Familie eintreffen werde. Jedermann habe das Schloß zu verlassen, er, der Rentmeister, mit allen Seinigen, sowie sämmtliches Hausgesinde. Einzig und allein sollten, neben dem Portier, in ihren bisherigen Gemächern verbleiben der Schloßkaplan und die alte Rose.
Der bezeichnete Tag der Ankunft des Freiherrn war der Tag, an dem der Brief eintraf. Das Postamt der nächsten Stadt hatte diesen mit dem gewöhnlichen Landboten übersandt, der nur dreimal in der Woche nach der Falkenburg kam. So war er verspätet worden.
Dem Befehle des Schloßherrn mußte unbedingt nachgekommen werden. Der Rentmeister Buchholz war ein peinlich gewissenhafter Mann, und immer, wie lange Jahre er auch selbstständig gewesen war, ein peinlich gehorsamer Diener seiner Herrschaft geblieben. Der Umzug geschah daher mit jener dringenden, geschäftigen Eile.
Der Rentmeister war ein alter Junggesell, an eine einfache Lebensweise gewöhnt; er war mit seinen Sachen am ersten fertig. Seine Acten und Papiere waren schon immer in der Rentmeisterei, einem der Nebengebäude des Schlosses gewesen. Dort nahm er auch jetzt sein Quartier. Als er fertig war, half er den Anderen. Die alte Rose hatte unterdeß die Zimmer für die Herrschaft in Stand setzen lassen; es war indeß doch dunkler Abend geworden, bis sie Alle fertig waren.
Buchholz hatte schon in dem Dienste des Großvaters des Freiherrn Carl gestanden, dessen Ankunft erwartet wurde. Er konnte seine siebenzig Jahre alt sein; er war aber noch immer ein kräftiger, rüstiger Mann, der, wenn es sein mußte, vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Pferde hing und das Gut von einem Ende zum andern durchstreifte.
Die alte Rose stand noch in den funfziger Jahren. Sie war die Amme des Freiherrn Carl gewesen. Sie war seine Wärterin geblieben und seine Gespielin geworden, bis die freiherrliche Familie Schloß Falkenburg verlassen hatte. Sie hatte hier zurückbleiben müssen, doch der Freiherr Max hatte ausdrücklich befohlen, daß sie im Schlosse selbst wohnen und in Allem gut gehalten werden solle; ob sie arbeiten wolle, möge von ihr selbst abhängen.
Sie hatte immer mit einer ganz besonderen Liebe an dem Freiherrn Carl gehangen und war auch die Vertraute seiner Mutter gewesen, die jung gestorben war.
Wohl mochte sie so mancherlei erzählen können, doch sie war verschlossen und sprach nur selten über die vergangenen Zeiten. Sprachen Andere in ihrer Gegenwart davon, so hörte sie nur aufmerksam zu, manchmal still für sich den Kopf schüttelnd, als wenn es doch nicht so sei; wie es aber sei oder gewesen sei, das gehe die anderen nichts an. Uebrigens war sie noch sehr rüstig. Sie führte, unter dem Rentmeister, die Oberaufsicht über das Innere und die Dienerschaft des Schlosses, und war überall, um zum Rechten zu sehen. Dabei war sie meist gutmüthig und nachsichtig und die Leute hatten sie lieb.
Die beiden alten Leute waren eben beisammen und beriethen mit einander.
Der Schloßkaplan war nicht bei ihnen. Er war auch schon ein alter Mann, der die Mitte der siebenziger Jahre längst hinter sich hatte. Da er länger im Schlosse gewesen, als die beiden Anderen, mochte er wohl mehr wissen, als selbst die alte Rose. Aber er hielt sich immer von allen Leuten entfernt, und man sah ihn nur, wenn er, was jeden Morgen der Fall war, in der Schloßkapelle die Messe las. Sonst hielt er sich allein in seiner Stube, wo er sein Brevier betete und sich mit Schreiben beschäftigte.
Der Rentmeister hatte ihm den Brief des Freiherrn mitgetheilt. Die Nachricht hatte ihn betroffen, unruhig gemacht. Er hatte sich dann nicht wieder sehen lassen. Am Abend hatte der Rentmeister ihn zu der Berathung zuziehen wollen, er hatte aber jede Theilnahme abgelehnt. Er hatte dabei so sonderbar ausgesehen.
»Lassen Sie mich dabei aus dem Spiel,« hatte er dem Rentmeister geantwortet. »Ich gehöre nicht zu einem festlichen und nicht zu einem feierlichen Empfange. Lassen Sie mich lieber beten, hier in meinem stillen, einsamen Kämmerlein. Es thut Noth, glauben Sie mir. Ich sehe Tage kommen –«
Er hatte abgebrochen. Dann hatte er, als wenn ihm etwas Anderes eingefallen wäre, gesagt: »Vielleicht komme ich doch noch – später. Aber jetzt lassen Sie mich.«
Der Rentmeister hatte ihn allein gelassen.
Es war schon spät; schon dunkel. Die Dienerschaft war ermüdet vom Ziehen und Packen und wartete voller Ungeduld und Neugier auf die Herrschaft, welche jeden Augenblick eintreffen mußte.
Portal, Corridors und Treppen des Schlosses wurden hell erleuchtet, und die nöthige Dienerschaft am Portal aufgestellt.
Der Rentmeister und die alte Rose aber plauderten:
»Was für ein Leben wird jetzt in der Falkenburg werden?«
»So still, wie bisher, wird es nicht bleiben.«
»Das glaube ich auch nicht,« meinte der Rentmeister, »der junge Herr war ein wilder Knabe.«
»Aber gutmüthig,« sagte die alte Rose. »Und so wird er geblieben sein. Hat er doch meiner in dem Briefe gedacht und bestimmt, daß ich mein Stübchen hier behalten soll. Nach so vielen Jahren!«
»Ja, ja, Rose. Aber er verbraucht das Doppelte von dem, womit sein Vater, der selige Freiherr, auskam, und der hatte schon sehr viel nöthig.«
»Die Güter können es ja tragen, Herr Rentmeister.«
»Freilich, Rose!«
Dann kam die alte Rose auf andere Fragen.
»Ob er wohl groß und schön geworden ist?«
»Er versprach es zu werden.«
»Und ob man die Narbe nachsehen kann, die er unten am Kinn hatte? Sie müssen sich erinnern,« setzte sie hinzu, »er war drei Jahre alt. Ich war mit ihm im Schloßgarten und spielte Fangen mit ihm. Er lief vor mir her; auf einmal fiel er mit dem Gesichte zur Erde, und ein spitzer, scharfer Kieselstein hatte ihn tief in das Kinn hineingeschnitten. Er hatte ein so schönes Grübchen im Kinn. Seitdem war es nur noch eine tiefe Narbe, die sich nach der rechten Seite hinzog; ich weiß es noch ganz genau.«
»Ich erinnere mich ebenfalls,« sagte der Rentmeister.
»Und besonders neugierig,« fuhr die alte Amme fort, »bin ich auf seine Gemahlin. Ob sie wohl schön und jung ist? Und ob sie schon Kinder haben? War nicht in dem Briefe die Rede von Familie, Herr Rentmeister?«
»Mit seiner Familie werde er heute eintreffen, so sagt der Brief.«
»Es ist sonderbar, daß wir von seiner Vermählung nichts gehört hatten.«
»Wir haben überhaupt nichts von ihm gehört, Rose!«
»Ja, ja! Aber gerade von seiner Vermählung! Sie wissen, Herr Rentmeister, der alte Streit, der Eid, und da oben im Oesterreichischen –«
»Schweigen wir davon, Rose,« unterbrach sie der Alte.
»Wir sind ja unter uns, Herr Rentmeister. Gegen andere Leute würde nie ein Wort über meine Lippen kommen –«
Sie wurden plötzlich unterbrochen, draußen wurde ein Posthorn laut.
Die Beiden saßen in dem freundlich und bequem eingerichteten Stübchen der alten Rose. Es lag nicht weit von dem großen Schloßportal, zu ebener Erde, mit den Fenstern nach dem Schloßhofe hin. So konnten sie Alles übersehen und überwachen.
Das Posthorn blies vorn aus dem Schloßhofe; es mußte nahe bei dem Einfahrtsthore sein, das in den Hof führte.
Die Beiden sprangen auf. Sie eilten zu dem Schloßportal. Die große Vorhalle am Portal war hell wie von Tageslicht erleuchtet. Draußen am Portal brannten Pechfackeln.
Die Bedienten des Schlosses hatten sich zu beiden Seiten des Portals aufgestellt. Der Rentmeister trat in die Mitte desselben und die alte Rose stellte sich hinter ihm auf. So sollte die ankommende Herrschaft empfangen werden.
Alle standen feierlich, neugierig. Die Herrschaft sollte ja ankommen, von deren Launen und Befehlen das Schicksal Aller abhing.
Ein einzelner Wagen fuhr über den Schloßhof näher. Er kam in den Schein der Pechfackeln. Es war ein großer Reisewagen, mit vier Extrapostpferden bespannt. Der Postillon fuhr vom Sattel. Der Bock war überdeckt; es saß ein einzelner Diener darauf. Weitere Bedienung sah man nicht. Hinten am Wagen waren Koffer aufgeschnallt, der Wagen selbst war verschlossen.
So kam er herangefahren, langsam, still. Der Postillon blies nicht mehr; die müden Pferde ließen die Köpfe hängen. Man hörte nur das Rasseln der Räder, die sich langsam auf dem Steinpflaster des Hofes drehten. Der Wagen war dunkel; in dem Scheine der Pechfackeln sah er schwarz aus.
Kam da ein Leichenwagen an? Bestand die Familie des Freiherrn aus Todten, die er mit sich führte?
Den Bewohnern des Schlosses wurde unheimlich zu Muth.
Der Wagen hielt vor dem Portal; der Postillon sprang aus dem Sattel, und aus dem Bock erhob sich der Diener, ein alter Mann mit schneeweißen Haaren, aber noch rüstig. Er ließ sich mit Leichtigkeit zur Erde nieder.
Der Rentmeister war an den Wagen getreten, ein paar Bediente waren ihm mit Armleuchtern gefolgt. Er wollte den Schlag des Wagens öffnen, doch dieser wurde von innen geöffnet und ein blasses, finsteres, strenges Mannsgesicht blickte den Rentmeister an.
Ein hoher junger Mann sprang aus dem Wagen. Es mußte der Freiherr sein; kein anderer zeigte sich in dem Wagen. Der Rentmeister wollte sich ihm vorstellen.
»Theodor!« rief der Herr an ihm vorbei. Der Rentmeister trat zurück, während der Diener mit den weißen Haaren ehrfurchtsvoll vortrat.
Der Herr hatte sich nach dem Innern des Wagens zurückgewandt. Er hob ein schlafendes Kind heraus, einen schönen, blühenden Knaben von etwa einem Jahre. Diesen legte er in die Arme des alten Dieners und wandte sich dann wieder zu dem Wagen, indem er seine Hand einer Dame hineinreichte, die ganz in schwarze Seide gekleidet war. Ein schwarzer Schleier bedeckte ihr Gesicht. Ihre Gestalt war groß, schlank; auch etwas gebeugt schien sie zu sein. Von ihrem Gesichte sah man nichts.
Weiter kam Niemand aus dem Innern des Wagens hervor.
Die Dame und das Kind bildeten also die Familie des Freiherrn. Der alte Diener war ihre einzige Bedienung.
Keine Wärterin für das Kind war da; keine Kammerjungfer für die Freifrau.
Aber ein Leichenwagen war nicht angekommen; Todte führte der Freiherr nicht mit sich.
Und doch –! Das Kind freilich war ein frisches blühendes Leben. Aber der Freiherr mit dem blassen, finsteren Gesichte, dem kalten, strengen, verschlossenen Wesen – die Leute des Schlosses schien es bei seinem Anblicke kalt zu überlaufen, als wenn sie den Tod umherschreiten sahen. Und die hohe Frau, sie stand, schwarz von unten bis oben, so gebeugt da, und sie erhob den Schleier nicht, sie zog ihn tiefer und fester vor das Gesicht. Es schien ihr unheimlich hier zu sein, und es wurde Einem unheimlich, wenn man sie ansah.
Keiner der Angekommenen sprach ein Wort; nur den Namen Theodor hatte der Herr befehlend an dem Rentmeister vorbeigerufen.
Und alle diese Angekommenen waren den Leuten des Schlosses fremd. Keiner von ihnen war nur einem einzigen bekannt. Wie hätten in dem Freiherrn die Gestalt und die Züge des Knaben von sieben Jahren wieder erkannt werden können, der seit einem Vierteljahrhundert abwesend gewesen war?
Dennoch stand vor den Bewohnern des Schlosses ihre Herrschaft Der Rentmeister wollte sich noch einmal dem Freiherrn vorstellen. »Euer Gnaden« – hob er an. Der Freiherr unterbrach ihn. »Nachher! Führen Sie uns zuerst in die Zimmer meiner Gemahlin. Sie ist angegriffen von der Reise.« Er sprach es nicht strenge, aber kalt, gemessen, während er zugleich seiner Frau den Arm bot. Der alte Rentmeister nahm einem der Bedienten den silbernen Armleuchter aus der Hand und ging der Herrschaft voraus in das Schloß. Die beiden Bedienten des Schlosses gingen hinterher.
Der Freiherr trat stolz, hoch aufrecht und finster, wie immer, in das Schloß seiner Väter ein; sein düsteres Auge sah sich kaum um. Die hohe und doch gebeugte Gestalt der tief verschleierten Frau schien mit schwerem unsicherem Schritt an seiner Seite zu gehen.
In dem Schloßportal stand die alte Rose. Auch sie hatte dem unheimlichen Eindrucke, der Alle ergriff, nicht widerstehen können. Sie hatte dem Herrn, den sie an ihrer Brust genährt, entgegengehen, sie hatte ihn anreden wollen. Da sah sie das kalte, finstere Gesicht, die tödtliche Stille ringsumher wirkte beklemmend auf sie, und sie trat zur Seite zurück, sie wagte nicht, sich nur zu zeigen; sie wollte sich nur den Herrn ansehen. Aber das Auge des Freiherrn erblickte sie, wie er durch das Portal schritt.
Er hielt an.
»Rose?« fragte er. »Meine alte Rose?«
Der Ton seiner Stimme blieb kalt. Aber er hielt ihr seine Hand hin, und die alte Rose ergriff die Hand und küßte sie, und Thränen stürzten aus ihren Augen.
Thränen kommen aus dem Herzen und beleben die Herzen. Die gedrückten, gepreßten Herzen rund umher wollten aufathmen bei den Thränen der alten Amme. Selbst durch das finstere Gesicht des Freiherrn zog etwas, wie ein weicherer Zug. Die verschleierte Dame an seiner Seite richtete die gebeugte Gestalt auf.
Da fuhr plötzlich die alte Rose zurück, wie vor einem ungeheuren Schreck, wie vor einem entsetzlichen Gespenst. Sie hatte die Augen zu dem Gesichte des Freiherrn emporgehoben; sie wollte die Züge wieder aufsuchen, wieder erkennen, die sie früher so oft gesehen, an ihrer Brust, in ihren Armen, in den Spielen mit dem wilden Knaben, die ihr dann seit so vielen Jahren fern gewesen waren.
Sie blickte in das bleiche Gesicht; sie suchte, e forschte darin. Ihre Augen wurden starr; ihr Gesicht wurde bleich, wie das, in das sie blickte. Sie flog zurück. Sie wollte einen Schrei ausstoßen; sie unterdrückte ihn.
Der Freiherr ging stolz und ruhig weiter: Seine Gemahlin erbebte heftig an seinem Arm. Aber er hielt noch einmal seine Schritte an. Er mußte es. Mitten in der Halle stand in dem einfachen, langen, schwarzen Rocke der katholischen Geistlichen der alte Schloßkaplan.
Man hatte ihn nicht ankommen sehen. Alle Blicke waren nach dem Portale, nach der Herrschaft hin gerichtet gewesen. Als man ihn sah, starrten seine Augen ernst den Freiherrn an und suchten hierauf den dichten Schleier, der die Züge der Freifrau bedeckte, zu durchbohren. Aber er nahm sich zusammen und trat ihnen entgegen; sein Gesicht hatte die Milde und den Frieden des Dieners Gottes. So sprach er zu ihnen:
»Mögen Euer Gnaden Glück und Frieden in diesem Hause finden!«
Der alte, einfache Diener des Herrn sprach die Worte so anspruchslos und so einfach, und darum um so würdiger und ergreifender.
»Ich danke Ihnen herzlich,« erwiderte ihm der Freiherr. Die Freifrau aber schien auf einmal zusammensinken zu müssen. Unter dem dichten Schleier murmelte ihre Lippen nur halb verständlich die zwei Worte: »Glück? Frieden?« Dann wandte sie sich rasch um, nach dem Kammerdiener Theodor, der mit dem Kinde auf dem Arm hinter ihr stand. Es war erwacht; sie riß es ihm aus dem Arm, riß sich aus dem Arm des Freiherrn und warf sich vor dem Geistlichen nieder, sich mit dem Kinde.
»Segnen Sie uns, ehrwürdiger Herr!« rief sie laut und leidenschaftlich, fast wild, aber mit der Stimme des tiefsten Unglücks.
Sie hatte ihren Schleier zurückgeschlagen. Man sah ein jugendliches, wunderschönes, geisterhaft bleiches Gesicht.
Der Geistliche legte seine eine Hand auf ihr Haupt, die andere auf das ihres Kindes.
»Der Herr im Himmel gebe Ihnen seinen Segen,« sprach er, »Ihnen Beiden, Ihnen Allen.«
Der Freiherr stand mit finsterem Blicke dabei.
»Emma, Du bist sehr angegriffen!« sagte er wie besorgt zu der blassen Frau.
Er hob sie auf und gab dem alten Kammerdiener einen Wink. Dieser nahm den Knaben aus dem Arm der Mutter. Die Freifrau zog den Schleier vor das Gesicht, und der Freiherr nahm ihren Arm. Der Rentmeister führte sie weiter, durch die Halle, die breite Marmortreppe hinaus, in einen großen, weiten, hell erleuchteten Corridor, in ein prächtiges, geschmackvoll eingerichtetes Gemach, durch dessen geöffnete Seitenthür man in eine Reihe eben so kostbar und elegant eingerichteter Gemächer blickte.
»Die Zimmer der gnädigen Frau!« sagte er. »Die selige Frau Mutter bewohnte sie ebenfalls.«
Die Freifrau wagte kaum, einen flüchtigen Blick durch das Gemach zu werfen.
»Du bist Herrin hier, Emma,« sagte der Freiherr zu ihr.
Sie mußte doch noch einmal den Blick durch die Räume werfen, in denen sie Herrin sein sollte. Eine innere Angst ergriff sie.
» Meine Zimmer!« befahl der Freiherr dem Rentmeister.
»Sie liegen denen der gnädigen Frau grade gegenüber.«
»Der Rentmeister führte den Freiherrn in den Corridor zurück. Auf dessen anderer Seite schloß er eine Thür auf. Man blickte in ein Gemach, das nicht minder glänzend eingerichtet war, wie das der Freifrau. Aber der Freiherr trat nicht hinein.
»Ich bedarf voller Ruhe,« sagte er. »Ich ertrage nicht das geringste Geräusch. Eine Treppe höher wohnt Niemand?«
»Niemand, Euer Gnaden«
»Führen Sie mich hinauf.«
»Euer Gnaden wohnen nicht elegant und nicht bequem da.«
»Führen Sie mich hinauf.«
Sie gingen eine Treppe höher und kamen auch dort in einen langen, braunen Gang. Der Rentmeister wollte in der Mitte desselben nahe an der Treppe, eine Thür aufschließen.
»Nicht hier!« der Freiherr. Er ging weiter, bis an das Ende des Ganges, bis zu dem entlegensten Theile oben in dem weiten Schlosse. Vor einer Thür, die dort war, blieb er stehen.
»Hier!« befahl er. Der Rentmeister schloß die Thür auf. Man sah in ein kleines, einfaches, aber noch immer freundlich und bequem eingerichtetes Zimmer.
»Hier werde ich bleiben,« sagte der Freiherr. »Lassen Sie für mich herbesorgen, was nöthig ist.«
Der Rentmeister schüttelte leise den Kopf. »Und wo werden Euer Gnaden zu Abend essen?« fragte er.
»Hier.«
»Und die gnädige Frau?«
»In ihren Zimmern. Und so wird es auch ferner sein, Herr Rentmeister. Meine Frau speist in ihrem Zimmer, Abends wie Mittags, ich hier. – Guten Abend, Herr Rentmeister.«
»Euer Gnaden haben mir nichts weiter zu befehlen?«
»Nein. Die Befehle meiner Frau werden Sie durch ihren Kammerdiener erhalten; er heißt Theodor Hauser. Mein Wille ist, daß er mit Achtung behandelt werde.«
»Zu Befehl, Euer Gnaden«
»Und zu meiner Bedienung wird der Diener sein, der uns begleitete. Sein Name?«
»Georg, gnädiger Herr.«
»Schicken Sie ihn zu mir.«
Der Rentmeister ging und suchte den Bedienten Georg auf, der jetzt der Kammerdiener des Freiherrn sein sollte; als er ihn zu seinem neuen Herrn geschickt hatte, wollte er kopfschüttelnd nach seiner bescheidenen Behausung sich begeben, als plötzlich die alte Rose vor ihm stand.
»Er hat die Narbe nicht, Herr Rentmeister,« flüsterte sie leise in heftiger Bewegung.
»Was sagt Sie, Rose?«
»Er hat die Narbe nicht am Kinn, und er ist nicht der Freiherr.«
»Rose, wer sollte er denn sein
»Ich weiß es nicht. Aber er ist nicht der Freiherr Carl. Ich mußte ihm gleich nach seinem Gesichte sehen, nach dem Kinn; die Narbe war nicht da, nicht einmal ein Grübchen. Das Kinn ist glatt und rund. Sehen Sie sich ihn morgen an, Herr Rentmeister; Sie werden es auch finden.«
»Es sind fünfundzwanzig Jahre verflossen, Rose,« meinte der Rentmeister; »da können Grübchen und Narbe sich verloren haben.«
Aber auch die alte Amme schüttelte den Kopf.
»So etwas verliert sich nicht, Herr Rentmeister. Und auch sonst kam er mir so anders, so fremd vor. Der Junker Carl hat so nicht werden können.«
Der Rentmeister wurde nachdenklich. Er rief sich wohl ebenfalls alte Erinnerungen zurück, wie die alte Rose gethan hatte. Er wurde unruhig.
Die alte Frau hatte ihn beobachtet. »Auch Sie finden es, Herr Rentmeister!« sagte sie.«Er antwortete ihr nicht.
»Schweige Sie um Gotteswillen gegen Jedermann,« sagte er nur. »Wir haben ihn ja kaum gesehen, und der erste Eindruck trügt so leicht.«
»Der erste Eindruck trügt nie, Herr Rentmeister.«