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Mußte, durfte der Assessor denn doch sofort, ohne sich vorher weitere Aufklärung zu verschaffen, zu der schweren Maßregel des Criminalverfahrens, zu der Verhaftung, schreiten? Die Beweise, die er hatte, waren nur Verdachtsgründe, er hatte sie nur von dem Freiherrn Oswald, einem Manne, dessen schlechter Charakter bekannt war, den er selbst nicht besser kennen gelernt hatte. Konnten nicht sogar die Dokumente gefälscht sein, die er von ihm in Händen trug?
Er gab den Vorsatz der sofortigen Verhaftung wieder auf. Er wollte vorher noch Beide befragen, sowohl den Freiherrn, den er bereits einmal, wie den alten Kammerdiener, den er noch gar nicht vernommen. Bevor er die Beiden vernahm, mußte er aber, um für ihre Befragung eine haltbarere Grundlage zu gewinnen, noch einmal die alte Amme über die Vergiftungsnacht vernehmen. Ihre ganze Mittheilung darüber hatte er nur aus dem Munde eines Dritten, des Rentmeisters; es waren überdies darin Dunkelheiten und Widersprüche mit der Aussage des Freiherrn Oswald.
Er ließ durch den Gerichtsdiener die Amme herführen.
Dann wollte er zuerst den Kammerdiener, und zuletzt den Freiherrn vernehmen. An eine Flucht der Beiden unterdeß dachte er nicht. Der Freiherr Carl wußte vielleicht nicht einmal von der Anwesenheit des Freiherrn Oswald; von dessen Enthüllungen konnte er keine Ahnung haben. So mußte er sich für sicher halten, und ohne ihn floh der alte Theodor nicht.
Die alte Rose erschien noch befangener vor dem Assessor, als das erstemal. Hatte sie unterdeß den Rentmeister gesprochen? Sie hatte es, doch das schadete nichts; um so eher sagte sie dem Assessor die Wahrheit.
»Sie haben mir vorhin nicht die volle Wahrheit gesagt,« redete er sie an.
»Nein!«
Mit dem Worte hatte sie vom Herzen weg, was sie befangen gemacht hatte.
»Sie hatten,« fuhr der Assessor fort, »mir namentlich verschwiegen, daß Sie den Freiherrn Oswald in der Nacht vor dem Tode der Freifrau im Schlosse gesehen hatten.«
»Ich hatte es Ihnen verschwiegen.«
»Warum?«
»Um keinen Verdacht auf einen Unschuldigen zu werfen.«
»Sie halten den Freiherrn Oswald für unschuldig?«
»Er hat die Freifrau nicht vergiftet.«
»Wer denn?«
»Herr Assessor, Sie müssen jetzt die volle Wahrheit erfahren. Der Rentmeister hat Ihnen gesagt, was ich ihm mitgetheilt hatte. Ich hatte auch ihm nicht Alles gesagt, wie es war, ich wollte den Freiherrn Carl nicht anklagen. Seit einigen Stunden, seitdem Sie mich vernommen und ich Ihnen soviel verschwiegen hatte, hat mich eine schreckliche Angst befallen – ich könne durch Lügen und Verschweigen ein noch größeres Unglück anrichten, als wir es im Schlosse schon haben. So hören Sie denn. In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag war zuerst der Freiherr Oswald im Zimmer der gnädigen Frau gewesen. Ich hatte seine Stimme nicht erkannt, aber als ich ihn nachher im Corridor sah, wurde es mir klar, daß es nur seine Stimme gewesen war, die ich vorher gehört hatte. Später aber hörte ich diese nicht mehr, und es war nur die Stimme des Freiherrn Carl, die am Bette, in dem Zimmer der Freifrau sprach. Er, er allein war nachher nur noch bei ihr. Er und der Freiherr Oswald mußten sich im Corridor begegnet sein, als ich den Letzteren darin sah. Der Freiherr Oswald hatte dann das Schloß verlassen; der Freiherr Carl war zu seiner Frau gegangen. In meinem Schreck und meiner Angst hatte ich es nicht so genau gehört.«
»Und wer hätte der Freifrau das Gift gegeben?« fragte der Assessor.
»Ich weiß es nicht.«
»Nur Einer von Beiden könnte es ihr gegeben haben, der Freiherr Carl, oder der Freiherr Oswald.«
»Sie kann es auch allein genommen, sich selbst eingeschüttet haben.«
»Sie haben dem Rentmeister gesagt, es sei zur Zeit des Einschüttens und Trinkens Jemand bei ihr gewesen!«
»Ja, ja. Ich hatte es auch so gemeint. Aber ich habe mich nachher besonnen, vorhin noch, den ganzen Abend. Und da ist mir Alles dunkel und verwirrt geworden, und so muß es mir auch schon in der Nacht selbst gewesen sein. Ich hatte mich so erschrocken, ich hatte die ungeheuerste Angst; ich wußte nicht, sollte ich zu der Freifrau hineingehen, sollte ich Hülfe rufen, sollte ich sonst etwas thun? Da kam mir das Eine durch das Andere – hernach erst recht. Aber heute Abend, als ich nochmals nachsann, als ich mir Alles, jedes Einzelne Stück für Stück wieder in die Gedanken rief, da und jetzt noch ist mir, als sei die Frau allein, als sei gar Niemand bei ihr gewesen, da das Glas an ein anderes Glas anstieß und da ich sie dann trinken hörte. Und so muß es auch wohl gewesen sein. Eine ruhige, feste Hand hätte bei dem Eingießen nicht angestoßen und nicht so viel auf Decke und Bett verschüttet.«
Die alte Frau sprach mit allen Zeichen der Wahrheit.
»Haben Sie vorher irgend eine verdächtige Flasche oder Phiole bei der Freifrau gesehen?« fragte der Assessor sie.
»Niemals.«
»Haben Sie nachher mit der Freifrau von der Nacht gesprochen?«
»Nein. Sie fing nicht davon an, da hatte ich keinen Muth dazu.«
»Sie glauben an einen Selbstmord der Freifrau?«
»Ich weiß nichts; ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
Der Assessor hatte noch eine Frage an sie. Sie war einer Antwort darauf früher ausgewichen. Sollte er sie jetzt auch hier aufrichtiger finden?
Halten Sie den Freiherrn für denselben Freiherrn Carl, dessen Amme Sie waren?« fragte er sie.
Er fand sie aufrichtig; aber eine Auskunft erhielt er nicht.
»Ich weiß es nicht,« antwortete sie. »Ich kann nicht ja, ich kann nicht nein darauf sagen. Ich meine, er ist es nicht; ich meine, wenn er es wäre, so müßte ich so Manches an ihm sehen, was ich nicht finde. Aber er kann es dennoch sein. Sollte ich sterben müssen, ich kann nichts Anderes sagen.«
»Und nun?« fragte sich der Assessor.
Er war doch mit sich zufrieden, daß er vorhin nicht sofort zur Verhaftung geschritten war. Er entließ die Amme und befahl dem Gerichtsdiener, den Kammerdiener Theodor herzuführen.
Der Gerichtsdiener kam erst nach längerer Zeit mit einem etwas verlegenen Gesichte zurück.
»Der Kammerdiener Theodor ist nicht zu finden, nicht im Schlosse, nicht in den Nebengebäuden. Seit zwei Stunden hat ihn Niemand mehr gesehen,« meldete er.
Seit zwei Stunden hatte der Assessor sich mit jenen Befragungen des Rentmeisters, des Freiherrn Oswald und der Amme beschäftigt
»Hat man ihn in den Zimmern des Freiherrn gesucht?« fragte der den Gerichtsdiener.
»Auch den Freiherrn,« lautete die Antwort, »hat in den letzten zwei Stunden Keiner gesehen. Seine Zimmer sind verschlossen.«
Dem Assessor wurde es etwas warm.
»Ich werde selbst nachsehen,« sagte er.
Er ging zum Schlosse. Als er aus der Rentmeisterei in den Schlosshof trat, war es fast Mitternacht. Auf dem Hofe war es still und dunkel. So lag auch das große, weite Schloß da; man sah nur am Eingang ein Licht darin. Das Portal war verschlossen oder angelehnt; im Innern, in der Halle, dämmerte ein schwacher Schimmer von dem einzigen Licht, das man in dem weitläufigen Gebäude sehen konnte.
Der Assessor ging auf das Portal zu, es war verschlossen, aber der Portier war da und schien seine Ankunft gehört zu haben. Als er an das Thor trat, wurde es von innen geöffnet und der Portier stand vor ihm.
»Ist der Freiherr im Schlosse?« fragte ihn der Assessor.
»Ich weiß es nicht. Er ging vor zwei Stunden, gegen zehn, aus dem Portale; ich dachte, er wolle zur Rentmeisterei. Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen. Er kann aber durch eine Seitenthür zurückgekehrt sein.«
»Ist kein Bedienter hier, mich zu ihm zu führen?«
»Ich bin allein im Schlosse. Eben ist nur noch der Kaplan bei der Leiche der gnädigen Frau, und in dem Zimmer nebenan die alte Amme mit dem Kinde.«
»Sonst ist Niemand im Schlosse?«
»Wenn der gnädige Herr nicht da ist, nein.«
»Führen Sie mich zu den Zimmern des Freiherrn.«
»Haben Sie die Güte, mir zu folgen.«
Der Portier geleitete den Assessor durch die Halle, in der nur eine Lampe brannte, zu der in die oberen Theile des Schlosses führenden großen Treppe. Auch die Treppe war nur schwach erleuchtet, so auch der Corridor des ersten Stockes, an dem die Gemächer der Freifrau lagen.
Sie erstiegen die zweite Treppe und gelangten in den Gang, an dessen Ende der Freiherr seine Wohngemächer hatte. Der Assessor vernahm keinen Laut als den seiner Schritte und seines Begleiters. Beide gingen schweigend nebeneinander. Ihre Schritte hallten laut wieder durch die mitternächtliche Stille des weiten und öden Schlosses. Sie erreichten die Gemächer des Freiherrn, und auch hier war Alles dunkel und still.
»Das ist das Wohnzimmer des gnädigen Herrn,« sagte der Portier, auf eine Thür zeigend.
»Melden Sie mich an,« sagte der Assessor.
Der Portier klopfte an die Thür, erhielt aber keine Antwort. Es blieb´Alles still.
»Oeffnen Sie die Thür,« befahl ihm der Assessor.
»Wenn sie nicht verschlossen ist,« meinte der Portier.
Das Gesicht des Mannes zeigte auf einmal eine so sonderbare Angst, wie wenn er fürchte, in ein Gemach des Todes zu treten – in ein zweites – eins war schon da.
»Oeffnen Sie,« mußte der Assessor zum zweiten Male sagen. Auch in seinem Gesichte sah man eine eigenthümliche Spannung.
Der Portier öffnete; die Thür war nicht verschlossen.
Der Assessor trat in das Wohnzimmer des Freiherrn. Auf einem Tische in der Mitte desselben brannte hell eine Lampe. Ihr Licht zeigte das Zimmer in dem ordentlichsten Zustand eines Wohnzimmers, dessen Bewohner es vor kurzer Zeit verlassen hatte, um nach kurzer Zeit zurückzukehren.
Das Zimmer hatte eine Seitenthür, die in das Schlafzimmer des Freiherrn führte. Der Assessor öffnete die Thür rasch, in der Aufregung, in der er war. Der Schein der Lampe des Wohnzimmers fiel hell durch die geöffnete Thür und beleuchtete ein Schlafgemach. Es war auch hier Alles in der größten, in einer fast musterhaften Ordnung. Das aufgeschlagene Bett erwartete noch seinen Bewohner für die Nacht. Der Assessor war wohl auf etwas Anderes gefaßt gewesen, auch der Portier; dem Manne sah man an, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Aber der Assessor mußte noch in das Schlafgemach hineingehen, er mußte sich darin umsehen, er mußte darin suchen. Er fand nichts.
»Bewohnt der Freiherr noch andere Zimmer?« fragte er den Portier.
»Nein.«
Sie verließen die Zimmer und stiegen die Treppe hinunter.
»Was nun?« mußte sich der Assessor wieder fragen.
Im Corridor des ersten Stockes stand die alte Amme und schien auf die Rückkehrenden zu warten. Ihr altes, treues Gesicht war leichenblaß. Sie trat auf den Assessor zu.
»Es wünscht Sie Jemand zu sprechen. Wollten Sie mir folgen?«
Der Assessor fragte nicht, wer ihn zu sprechen wünsche, aber er folgte ihr. Die alte Frau sah so traurig aus; sie führte ihn das Zimmer, in dem er schon einmal gewesen war und inquirirt hatte. Es war das Wohnzimmer der verstorbenen Freifrau. In dem großen Saale nebenan mußte die Leiche sein. Die Thür zu dem Saale war verschlossen; in dem Zimmer war Alles, wie der Assessor es vor etwa vier Stunden verlassen hatte.
Nur stand jetzt eine Wiege darin, und in der Wiege schlief sanft ein schöner, blühender Knabe, der funfzehn bis sechszehn Monate alt sein konnte.
»Wer wünscht mich zu sprechen?« mußte doch jetzt der Assessor die Amme fragen.
Sie schloß schweigend die Thür auf, die in den Saal nebenan führte. Die Helle der brennenden Wachskerzen darin ergoß sich in das Wohnzimmer hinein. Das Licht floß aus von dem Sarge, der noch in der Mitte des weiten Gemachs stand. Um ihn herum brannten die hohen, hellen Kerzen.
Die todte schöne junge Frau lag in dem offenen Sarge einfach in dem Gewande von weißer Seide, auf Kissen von weißer Seide. Der alte Geistliche kniete zu ihren Füßen und betete. Sonst war Niemand da.
Der Assessor war näher getreten; die Amme blieb zurück.
Da erhob sich der Geistliche und nahete sich dem Assessor. Seine nehmend führte er ihn zu Häupten des Sarges.