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Vor dem Hause Goltzstraße 10 in Berlin-Schöneberg hielt ein eleganter Einspänner, dem eine dunkel gekleidete, hochgewachsene Blondine entstieg.
Die Dame schritt langsam die teppichbelegte Treppe bis zur ersten Etage hinan und drückte dort auf den Knopf der elektrischen Klingel.
Eine ältere Frau öffnete.
»Herr Dr. Bendring zu Hause?« fragte die Dame.
»Ja, wen darf ich melden?«
»Frau Rose Herlet.«
Ehe noch die Wirtschafterin den Besuch anzeigen konnte, trat Bendring auf den Flur und begrüßte die Dame zuvorkommend.
»Meine gnädige Frau, ich bin überrascht, denn ich vermutete Sie in weiter Ferne!«
Sie antwortete nicht gleich, neigte nur den blonden Kopf ein wenig und schritt ihm voran in die Zimmer. Erst als sie in seinem Kabinett stand und den Schleier zurückgeschlagen hatte, sagte sie mit leicht vibrierender Stimme:
»Mein lieber Herr Doktor, ich wollte Ihnen persönlich aussprechen, daß ich warm mit Ihnen fühle. Ich habe Ihnen nicht gratuliert, als Sie die Verlobung eingingen, denn ich hegte einen Groll gegen Sie, daß Sie mich so wenig – – Ihres Vertrauens gewürdigt hatten. Trotzdem habe ich Ihnen Gutes gewünscht, und Ihr niederschmetternder Brief hat mich mit tiefem Beileid erfüllt. Die traurige Kunde wirkte auf mich um so schmerzlicher, als sie mich ganz unvorbereitet traf.«
»Sie hatten nichts davon gehört? Aber bitte!« Er deutete auf einen Sessel. »Die Zeitungen haben ausführlich berichtet – – ich dachte, Sie würden lesen – nein, offen: Ich habe zuerst nichts gedacht. Der Schmerz hat mich betäubt. Und dann kamen die aufregenden Pflichten. Diese Pflichten, die schmerzen und wohlthun zugleich. – Erst Ihre Karten ließen mich erkennen, daß Sie ahnungslos waren.«
»– Erst sie belebten die Erinnerung an die Verschollene!« warf sie nicht ohne Vorwurf ein.
Er ging darüber hinweg.
»Ich schrieb Ihnen dann und hätte vielleicht in ein paar Tagen ein briefliches Lebenszeichen von Ihnen erwartet, aber nicht Sie selbst. Lassen Sie mich Ihnen für Ihre Güte danken!«
Er faßte nach ihrer Rechten und drückte sie.
Sie wehrte ab.
»Ich bin meinem Empfinden gefolgt. Daß Sie mich nicht erwarteten, läßt mich schließen, daß ich Ihnen auch nicht erwünscht komme.«
»Aber ich bitte, meine gnädige Frau.«
»Wir Frauen sind besser als Sie Egoisten!« betonte sie leidenschaftlicher. »Einmal empfangene Eindrücke gehen nicht verloren, wie die Strahlen der untersinkenden Sonne.«
Ein Blick der Befremdung aus seinen kühlen Augen mahnte sie zur Vorsicht.
»Fäden, die von einem eben geschlossenen Grabe in seitab liegende Zeiten führen, pflegen nicht haltbar zu sein,« hielt er ihr ernst entgegen.
»Ich weiß,« entgegnete sie mit Beherrschung. »Ich will auch nicht rechten; ich will nicht einmal mit Ihnen trauern ...« Ihre Lider senkten sich über die blauen Sterne, um ein Blitzen zu verbergen. Sie suchte am Boden. »Sie haben mir die Einzelheiten geschrieben, und ich habe mir einige Tagesblätter nachträglich besorgen lassen, um mich weiter zu unterrichten. Das Unglück selbst ist mir demnach bekannt. Haben Sie – die Frage liegt wohl nahe und scheint erlaubt – von dem Urheber eine Spur?«
Sie fixierte ihn kühl.
»Nein,« erwiderte er. »Eine Spur, die ich persönlich aufgenommen hatte, hat sich als Irrweg erwiesen. Die Behörden hatten ebenso wenig Glück. Ich habe mindestens bis zur Stunde keine gegenteilige Nachricht. Das sagt natürlich nicht, daß die Affaire ungeklärt bleiben wird. Was das Heute undurchdringlich läßt, kann das Morgen überraschend aufhellen. Und das ist meine Hoffnung. Das ist auch das Ziel, dem ich selbst zugestrebt habe und weiter zuarbeiten werde. Dem ich zuarbeiten werde mit aller Kraft. Wir leben in einer Zeit – die Kriminalistik der großen Städte lehrt das leider – die manche Rätsel ungelöst und bedauerlich gehäufte Verbrechen, auch gegen das Leben, ungesühnt läßt. Was Menschenenergie vermag, werde ich aufbieten, den Mörder meines Glückes zur Rechenschaft zu bringen!«
Die Dame erhob sich.
»Was man Glück nennt, ist vergänglich. Wer das noch nicht wußte oder glaubte, muß es erfahren.«
Sie schaute, während sie sprach, wie abwesend auf den Balkon mit rotbelaubtem Wein und verblühten Petunien.
»Ein Glück ist,« fuhr sie fort, »daß Baum und Strauch von neuem grünen und daß dem Menschen nach Frost und Schnee ein Vergessen blüht, das ihn halb unbewußt über das Versunkene hinweg und dem Kommenden entgegenschreiten läßt, bis der Lebensmut zu neuem Lebensdurst erstarkt ist.«
»Ihre Philosophie ist einseitig und persönlich, meine Gnädige,« fiel er abweisend ein. »Sie haben keinen Verlust zu beklagen gehabt, der den Wünschen Ihres eigenen Seins ein Ziel setzte. Was ich an Wünschen hegte, ist begraben mit meinem Lieben, aber meine Liebe bleibt lebendig über den trennenden Erdenhügel hinaus, die Liebe zu der Einen, die der Welt gestorben ist, nicht mir, nicht meinem Erinnern. Ich würde denken müssen, zwei Augen schauten tottraurig aus dem Grabe, wenn ich einem anderen Weibe mich zuneigen wollte – –«
Sie musterte ihn fast drohend.
»Der frische Schmerz gefällt sich in Uebertreibungen,« entgegnete sie in scharfer Auflehnung. »Und was Sie meine Philosophie nennen – – muß ich es Ihnen denn erst sagen, daß es nichts ist als die vorurteilslose, wenn Sie wollen, nüchterne Beobachtung des Lebens? Die Gefühlsschwärmerei kommt mir vor wie ein Gelegenheitsgedicht, aus der Veranlassung und Stimmung des Augenblicks erwachsen, aber ohne Wert und Dauer.«
Dr. Bendring schritt ein paarmal im Zimmer auf und ab, ohne zu erwidern. Frau Herlet trat an die Balkonthür, öffnete sie und wies auf die Straße.
»Herr Doktor, kommen Sie, treten Sie auf Ihre kleine Warte hinaus und sehen Sie mit sehenden Augen! Ein Bild im Kleinen da unten, und doch ein Bild des Lebens – ein Fließen, ein Strömen, ein ewiger Wechsel! Nicht den Bruchteil einer flüchtigen Minute bleibt das kleine Bild im Auf und Ab und Licht und Lärm das unverändert gleiche; wollen Sie, können Sie leugnen, daß auf den Menschen, den, der sieht und denkt, die Eindrücke in tausendfach bunterem, in tausendfach wirkungsvollerem Wechsel einstürmen, daß sie einer den anderen verdrängen, verwischen, verlöschen? Und haben Sie dann noch den Mut zu dem Paradox, daß allein in Ihrer Brust die Flucht der Erscheinungen am ewigen Einerlei einer Anschauung, eines Gedankens, eines Gefühls wirkungslos abprallen soll? Haben Sie den Mut dazu? –«
Er trat zu ihr.
»Gnädige Frau, ich finde den Mut, Ihnen schlicht zu erklären, daß ich meine Tote geliebt habe und an ein Vergessen nicht denken mag und will. – Wollen Sie mir von Ihrer Reise plaudern?«
Sie wandte sich ins Zimmer zurück und reichte ihm die Hand.
»Nein, mein Freund. Sie haben dafür keinen Sinn und ich auch nicht. Leben Sie wohl und erinnern Sie sich meiner, wenn die Zeit gekommen ist. Ich harre und hoffe ...«
»Ich harre und hoffe.« Das Wort brauste ihm in den Ohren.
Er sah ihr vom Balkon nach, so lange das rollende Gefährt ihm sichtbar blieb.
»Ich harre und hoffe.«
Das Wort hallte in dem Raume nach und klang aus geweckter Erinnerung lebendig herauf.
Einst lebte ein Hoffen auch in ihm. Ein stolzes Hoffen, Freuen, ein Triumphieren ...
Ein Triumph über die Neigung des schönen Weibes, ein schwellender Stolz, daß die Königin ihn über die Alltagsmenschen emporhob.
Ein Freuen an dem blendenden Sterne, der ihm im Süden aufgegangen war und der leuchtend vorausstrahlte in Heimat und Zukunftsplänen ...
Er ließ sich in einen niederen Sessel abseits vom Schreibtisch gleiten und versenkte sich in Grübeln ...
Starrer, eisiger Winter im Norden, blühender, lachender Frühling im Süden – das war der Kontrast, der in ihm nachwirkte, als er das junge blonde Weib zum erstenmale sah und unter ihren Bann geriet. Einer seiner Mandanten war es, der in Nizza weilte und ihn zu einer Besprechung dorthin berief; durch ihn lernte er die blühende Witwe, den Stern der Kurgesellschaft, kennen – und durch den wohlmeinenden alten Herrn wurde er zugleich, wenn auch unter der Maske des Scherzes, vor der glänzenden Weltdame gewarnt.
Er blieb im südlichen Paradiese, so lange die Geschäfte es ihm erlaubten.
Als er wieder in Berlin eintraf, nach Wochen, trug eine Flut von dringenden Arbeiten dazu bei, daß die thörichte, die Sinne benebelnde Schwärmerei zurückgedrängt wurde.
Am Schlusse der herbstlichen Gerichtsferien sah er Rose Herlet in Santerrenzo. Nicht zufällig. Das Idyll am Plöner See verlor an Reiz, wenn die Karten vom leuchtend blauen Golfe von Spezzia herangeflattert kamen. Frühzeitige herbstliche Stürme verleideten ihm den Angelsport und den Aufenthalt am waldbekränzten norddeutschen Landsee und trieben ihn dem Süden zu, der Sonne und dem lockenden Weibe entgegen.
Es kam zu keiner Aussprache. .. Wenn die stahlblauen Augen der Witwe aufflammend sein Werben herausforderten, hielt die scheue Frage ihn zurück, ob die Dame der großen Welt in seinem Heim Ersatz finden würde für das, was sie aufgeben mußte, ob sie, die das Schwimmen im breiten Strome der Geselligkeit gewohnt war, sich einleben würde in den engen Kreis häuslicher Pflichten ...
Hedwig von Viersen verdrängte das Bild der reichen Witwe. Die kleinen Mittel der flatternden Grüße und die großen der geistvollen, versteckt werbenden Briefe versagten, selbst das Wiedersehen in den heimischen geselligen Kreisen blieb ohne nachteiligen Einfluß. Das stolze Mädchen mit der herben Reinheit errang über die glänzende Weltdame den ungeteilten Siegespreis ...
Der Grübelnde strich sich mit der Hand über die Stirn.
Es war! Es war einmal –!
Was wollten die alten Bilder?
Was wollte die Frau, die in ihrer sieghaften Schönheit neu vor ihn hintrat, als ob nicht der Tod sich zwischen ihn und sie geworfen hätte?
Was wollte sein Grübeln und Martern, das ihn nicht einmal die Aufdringlichkeit ihres Werbens erfassen und peinlich empfinden ließ?
Er richtete sich horchend auf.
Es war ihm gewesen, als hätte er ein Klopfen gehört.
Ja, da, wiederholt.
»Herein!«
»Herr Wilden aus Kiel,« meldete die Wirtschafterin.
»Ah!«
Der Besuch spannte andere Saiten seines Geistes.
Er trat dem Kommissar belebt entgegen.
»Woher des Weges, Verehrtester?«
»Alles beim Alten – oder – Neues?«
»Die gleiche Frage wollte ich stellen.«
»Sie ist bald beantwortet: David Vermissen heißt der Mörder nicht.«
»Nein. Gestatten Sie, daß ich Ihnen zustimme. Ich habe Ihren Bericht an den Untersuchungsrichter gelesen, und ich unterschreibe ihn. Ob der Maler sich in Ungarn oder wo anders umhertreibt – wir hätten uns das Kundschaften in Löbtin und Sie sich die Fahrt nach Siofok – oder wie das Nest heißen mag – schenken können.«
»Sie behaupten das mit einer Bestimmtheit –«
»Ganz recht: daß Sie nicht fehl gehen, wenn Sie gute Gründe bei mir voraussetzen.«
»Soll das heißen, daß Sie den Thäter – – – Herr Kommissar, Sie belieben, mich auf die Folter zu spannen!«
»Durchaus nicht. Zügeln Sie Ihre Ungeduld nur ein wenig.«
»Der Thäter ist entdeckt?« drängte Bendring erregt.
»Ja.«
»Und ist – ist – ist?«
»Sie werden mir erlauben müssen, daß ich den Namen bis zum Schlusse verschwiegen halte. Ich verzichte auf das Vergnügen, Sie zu überraschen, Herr Rechtsanwalt; ich stelle mir vielmehr die Aufgabe, Sie Schritt für Schritt meinen Entdeckungen folgen zu lassen, um damit gleichzeitig zu erzielen, daß Sie auch überzeugt werden.«
»Nur eine Frage, eine einzige: Ist der Verbrecher mir bekannt?«
Der Kommissar wich aus.
»Möglich.«
»Und das Motiv der That?«
»Haß.«
»Gegen Hedwig? Gegen die, die niemand etwas gethan hatte?«
»Das können Sie nicht wissen ...«
»Doch, doch!«
»Herr Rechtsanwalt, wollen Sie mich ruhig erzählen lassen?« fragte Wilden.
Bendring warf sich in seinen Arbeitssessel und wies für den Kommissar auf einen anderen.
»Beginnen Sie!« forderte er ungeduldig.
Wilden suchte ruhig nach dem Faden.
»Wir können uns Zeit lassen,« meinte er ... »Die Verhaftung der in Frage stehenden Person ist angeordnet und wahrscheinlich in diesem Moment schon ausgeführt.«
»Aber nur wahrscheinlich –«
»Sie können sich beruhigen. Der – Verbrecher ist in Sicherheit gewiegt und ahnungslos, daß wir ihm auf den Fersen waren. Er war im Auslande und ist unbefangen auf deutschen Boden zurückgekehrt.«
»Weiter!»
»Unser Fall hat mich aufs neue belehrt, daß der Kriminalist den Kopf kühl behalten muß, daß er sich nicht ins Schlepptau nehmen lassen und sich keinen vorgefaßten Meinungen ohne ruhige Nachprüfung anschließen darf. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich Ihren Anschauungen, so lange wir am Plöner See zusammen thätig waren, etwas befangen untergeordnet hatte. Als Sie abgereist waren, sah ich mich vor die Pflicht gestellt, entweder der von Ihnen gewiesenen Spur energisch und zäh weiter zu folgen oder aber durch eigene Thätigkeit eine andere zu ermitteln. Ich begann mit einer Kritik Ihrer Hinweise, Mutmaßungen und Folgerungen und kam zu dem Ergebnisse, daß Sie – ich bitte um Verzeihung – als eifersüchtiger Liebhaber einer etwas einseitigen Richtung gefolgt sein möchten. Wird aber ein Kriminalbeamter derart in seiner Ueberzeugung schwankend, so muß er augenblicklich Halt machen und das Feld der Verfolgung auf etwaige Seitenwege gründlich nachprüfen. Ich that das und hatte das Glück, durch Zufall auf eine Entdeckung zu stoßen, die auf einen anderen als den von Ihnen vorgezeichneten Weg hinwies, vorläufig freilich auch nichts als die Hypothese für sich hatte, in dieser aber durchaus möglich erschien. Ich wollte nichts verderben, Herr Doktor. Im Gegenteil, Ihre Mitarbeit war mir wertvoll, Ihre Verfolgung der ersten Spur durchaus erwünscht ... So weihte ich Sie, als ich bei Ihnen war, nicht ein, ließ Sie Ihren Weg gehen und mich den meinigen.«
Der Anwalt trommelte mit den Fingern nervös auf der Schreibtischplatte, ohne den Erzähler zu unterbrechen.
»Wie Ihr Bericht über die Fahrt nach Ungarn mich belehrt hat,« fuhr Wilden ruhig fort, »hatten unsere Reisen das gemein, daß sie beide ins Ausland führten. Der, den ich für den mutmaßlichen, jedenfalls möglichen Verbrecher hielt, hatte Briefe in die deutsche Heimat gelangen lassen, die seinen Aufenthaltsort Nizza bekannt gaben.«
»Wie –?«
»Ja, wie der Zufall mitunter spielt. Ich war davon zuerst selbst überrascht. Uebrigens, um das vorweg zu nehmen – ich sehe ja, daß Sie gespannt sind: Ihre Frau Rose Herlet habe ich natürlich getroffen. Leider ließ es mein Beruf nicht zu, mich ihr zu nähern, selbst wenn dies leichter gewesen wäre, als es den Anschein hatte. Ich gönnte mir ein paarmal ein Bewundern aus der Ferne – dann führten unsere Wege wieder auseinander. Ich wurde auch durch die sich rasch folgenden Feststellungen, die den mutmaßlichen Thäter schwer belasteten, derart in Anspruch genommen, daß ich für nichts anderes Zeit und Sinn hatte. Was ich entdeckte, kann ich Ihnen – ich gehe sofort dazu über – in der gleichen Reihefolge vortragen, wie gestern spät abends dem Untersuchungsrichter. Zuerst, Herr Doktor: der Verdächtige hatte über seinen Aufenthalt in Nizza Mitteilungen nach der Heimat gelangen lassen, die, gelinde gesagt, mit der Wahrheit nicht im Einklange standen. Er verlegte in seinen Briefen die Ankunft in Nizza auf die Mitte der zweiten Hälfte des Juli, während er thatsächlich bereits fünf Wochen früher in dem Orte angelangt war. Zum zweiten: der Verdächtige ließ zur Zeit des Mordes briefliche Nachrichten von Nizza nach der Heimat gelangen, während er selbst gar nicht dort anwesend war. Er hatte die Briefe im voraus geschrieben, sie dem Hotelpersonal übergeben und bestimmte Tage für die Absendung festgesetzt. Zum dritten, Herr Rechtsanwalt, und dieser Punkt ist von einleuchtender Wichtigkeit: der Verdächtige war zur Zeit des Mordes, und während seine Nachrichten von Nizza nach Deutschland flatterten, nach Paris gereist, hatte seinen Diener dort zurückgelassen und war selbst für eine Reihe von Tagen verschwunden. Verschwunden, wie ich zuverlässig ermitteln konnte, gerade an den Tagen, die für uns in Frage kommen, das heißt, die er allein zur Ausübung des Verbrechens – wenn er dieses plante – ausnutzen konnte. Er kam am achtundzwanzigsten Juli früh in Paris an, reiste am Abende des gleichen Tages, unbekannt wohin, wenn auch angeblich zu einem Freunde, weiter, kam am zweiten August heim und ging am vierten wiederholt nach Nizza. – Ich weiß nicht, ob Sie den angeblichen Besuch bei dem Freunde ernst nehmen. Ich nicht. Das wäre harmlos gewesen, den hätte er nicht zu verdecken, darum nicht die unwahren Briefe zu versenden brauchen. Diese Briefe sollten einen Aufenthalt dokumentieren, den er zur Ausführung der That notwendig wechseln mußte; diese Briefe sollten von dem Personal des Hotels harmlos aufgegeben werden, darum wurde die kleine Reise nach Paris vorgeschützt, von der die Angehörigen in der deutschen Heimat nichts zu wissen brauchten – eine Heimlichkeit, du liebe Zeit, wie sie gleich nichtig oder wichtig oft genug vorkommt. Aber die Pariser Reise wurde nicht nur vorgeschützt, sondern wirklich ausgeführt, weil sie dem doppelten Zwecke diente, unauffällig die für das Verbrechen nötige Waffe zu beschaffen und zugleich den Aufenthaltsort weiter zu verschleiern. Ging der Alibibeweis für Nizza in die Brüche, so blieb der für Paris; der Verbrecher hatte damit sogar eine brillante Rechnung aufgestellt, hatte den Chauvinismus, die Abneigung selbst der französischen Behörden gegen uns Deutsche, in seinen Dienst gezogen!«
Bendring unterbrach mit einem reservierten »Hm«.
»Wie beliebt –?« fragte Wilden.
»Ich meine, daß Ihre Folgerungen doch vielleicht etwas willkürlich erscheinen –«
»Aha, aus Ihnen spricht der Verteidiger –«
»Allerdings. Zum Beispiel will mir nicht einleuchten, warum der Besuch bei dem Freunde absolut erfunden sein soll. Sie werden mich recht verstehen: Ihre Annahme kann ja die richtige sein. Aber es fehlt, dünkt mich, an dem notwendigen Muß. Rechnen Sie einmal mit einer kleinen Verschiebung: der Mann besuchte nicht einen Freund, sondern eine Freundin – –«
»Wäre schon möglich!« warf der Kommissar doppelsinnig ein.
»Dann wäre im Grunde schon die Heimlichkeit erklärlich –«
»Sie werden diese Ansicht selbst fallen lassen.«
»Noch nicht, Herr Kommissar. Ein Fragezeichen scheint mir auch hinter den Satz zu gehören, daß diese Pariser Reise, die doch ziemlich umständlich war, zum unauffälligen Erstehen einer Waffe nötig oder aus nur halbwegs berechtigter Vorsicht ratsam gewesen wäre ...«
Der Kommissar war über die Einwürfe etwas ungehalten.
»Wollen Sie mich weiter hören?« fragte er kurz.
»Bitte –« klang Bendrings Antwort ziemlich kühl.
»Ich habe noch zwei wesentliche Punkte anzuführen, die Ihre Bedenken beseitigen dürften. Zu diesen gehört, daß der Verdächtige, der offenbar bis dahin der Handhabung der Schußwaffe unkundig war, den in den Briefen verheimlichten Aufenthalt in Nizza dazu benutzt hat, durch Wochen sich im Schießen zu üben, zuerst mit dem Teschin, dann mit dem Revolver, zuerst nach festem, dann nach beweglichem Ziel.«
»Thontauben?«
»Ja.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von dem Diener des Verdächtigen und dem Besitzer des Schießstandes.«
»Hm ... Das scheint allerdings nicht unbedenklich ...«
»Endlich, Herr Rechtsanwalt!« Wilden holte zum Hauptschlage aus und musterte sein Gegenüber mit augenfälliger Spannung. »Der – – die – Verdächtige stand zu Ihnen in einer Beziehung, aus der eine gegen Ihre Braut nichts weniger als freundliche Gesinnung, aus der die Eifersucht, aus der der Haß hervorgehen mußte!«
Bendring erhob sich mit einem Ruck.
»Von wem sprechen Sie?« fragte er stockend.
»Sie, Herr Rechtsanwalt, glaubten an die That der Eifersucht eines Mannes – ich an die eines Weibes!«
»Wollen Sie belieben, den Namen zu nennen?«
»Rose Herlet!«
»Herr, das ist ja Wahnsinn!« schrie Bendring. »Frau Herlet – – ha ha ha! Sie sprechen im Fieber, Sie gehören ins Krankenhaus!«
»Ueberlassen Sie mir, wohin ich gehöre.«
»Frau Herlet –! Herrgott, und die ist – – gegen die ist ein – ein Haftbefehl –? Unmöglich! Das darf unmöglich sein!«
»Sie werden es nicht mehr hindern können.«
Wilden verzog keine Miene.
»Das ist ja ein unverzeihlicher, ein ungeheuerlicher Mißgriff!« betonte Bendring heiser. »Ich, ich bürge für die schmählich Beschuldigte – ich, der ich sie kenne! – Ah! und ich selbst, ich selbst habe Ihnen den falschen Weg zeigen müssen! Herr –! – verbunden habe ich mich Ihnen gefühlt im gleichen Streben; eine Freundlichkeit habe ich Ihnen erweisen wollen, als Sie zu mir kamen mit der Miene des ehrlichen Beraters – und Sie haben gehorcht, Sie haben geheuchelt! Ah! die Erkenntnis ist bitter!«
»Mein Beruf entschuldigt die Winkelzüge und Härten, die er fordert!«
»Nein!« bestritt der Anwalt, hochgradig erregt. »Keine Winkelzüge, keinen Hinterhalt, keine Härte – Ihr Beruf fordert nichts als das Allereinfachste: Gerechtigkeit! Und Ihre Mannesehre mir, dem Manne, gegenüber: Gradheit! Ich habe mehr als den Beamten in Ihnen gesehen, den teilnehmenden Mithelfer, den ich wert hielt und dem ich persönlich wert zu sein glaubte – die Enttäuschung ist hart!«
»Deuten Sie meine Besuche nach Belieben, Herr Rechtsanwalt. Aber vergessen Sie nicht, daß ich zu dem ersten kraft meines Amtes das Recht, zu dem heutigen keine – Verpflichtung hatte. Ich habe die Ehre!«
Er empfahl sich gereizt.
Bendring eilte auf den Flur.
»Einen Wagen!« schrie er der erschreckten Haushälterin zu.