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Dr. Bendring trat während der kurzen Pause zu der Angeklagten und unterhielt sich mit ihr.
»Bewahren Sie Ihre Ruhe,« bat er. »Auch nachher, wenn der Staatsanwalt sprechen und alles hervorsuchen und zusammenbauen wird, was sich irgend im Sinne der Anklage ausnützen läßt. Ja?«
Sie versprach es.
Als erster erhielt nach Wiederaufnahme der Verhandlung der Sachverständige Kreisphysikus Dr. Eßfeld das Wort. Er beschränkte sich auf eine Zusammenfassung des Thatbefundes und Feststellung der Todesursache aus dem Ergebnisse der Obduktion.
Ihm folgten der Amtsvorsteher, Hansen und Kietz, die ebenfalls über den Thatbestand gehört wurden, ohne über die ersten Ermittelungen des Amtsrichters hinaus neues Material beibringen zu können.
Auf die stereotype Frage des Präsidenten, ob kurz vor oder kurz nach dem Morde eine fremde Person in der Gegend bemerkt worden sei, erfolgte ein ebenso stereotypes Nein der Zeugen.
»War Herr Dr. Bendring in der Gegend nach irgend einer Seite hin verfeindet?«
Die Zeugen verneinten übereinstimmend.
Die Möglichkeiten der zufälligen Tötung oder der durch Strolche, die der Amtsrichter von Goos bereits an der Leiche erörtert hatte, wurden von dem Präsidenten wiederholt, ohne einen Anhalt zur Aufklärung zu ergeben.
Die Verhandlung verflachte sich, bis sie durch die Vernehmung Bendrings und des Kommissars Wilden sich neu belebte und in dem Verhör der Zeugin Blanche du Midi ihren Höhepunkt erreichte.
Dr. Bendring übertrug für die Zeit seiner Vernehmung die Verteidigung dem für diesen Zweck anwesenden Kollegen, eine Formsache, der aber genügt werden mußte, weil die Angeklagte auch nicht vorübergehend ohne Verteidigung bleiben durfte.
Der Vorsitzende ersuchte den Anwalt, seine Beziehungen zu der Angeklagten zu erläutern.
Bendring kam der Aufforderung in kurzem, sachlichem Vortrage nach. Er bestätigte in vollem Umfange die Angaben der Angeklagten, wo und durch wen er sie kennen gelernt, daß er sie in Santerrenzo besucht und sie auch in Berlin gesehen habe.
»Herr Rechtsanwalt,« fragte der Ankläger, »haben Sie – zu irgend einer Zeit – die Absicht gehabt, sich um die Hand der Angeklagten zu bewerben?«
»Ob ich sie hatte, scheint mir nebensächlich; sie ist jedenfalls nicht zur Ausführung und auch nicht zur Kenntnis der Frau Herlet gelangt.«
»Ich möchte doch um deutlichere Erklärung bitten,« beharrte der Staatsanwalt. »Frauen pflegen für eine ihnen entgegengebrachte Neigung ein feines Empfinden zu haben; war ein wärmeres Interesse in Ihnen aufgekeimt, so dürfte es der Angeklagten nicht verborgen geblieben sein, und Ihr Schweigen hätte einen ersten Grund zur Erbitterung in ihr gelegt.«
»Zur Erbitterung?« wiederholte der Zeuge fragend. »Nicht höchstens zur Enttäuschung, vielleicht zur Entmutigung?«
»Nein, bei dem energischen Charakter dieser Frau nicht!« stritt der Staatsanwalt.
»Ein willensstarker Charakter überwindet,« betonte der Anwalt.
»Herr Zeuge,« nahm der Präsident das Wort wieder auf, »Sie könnten doch vielleicht – die Sache ist ja freilich delikat – entgegenkommen. Die Angeklagte hat die Antwort auf die Frage, ob sie Ihnen mit – mit ihrem Empfinden und Wünschen – nennen Sie es Liebe oder Sympathie – zugethan war, abgelehnt. Aber ich meine doch, daß Sie minder zart an Rücksichten gebunden und deshalb recht wohl in der Lage sind, uns zu sagen, ob ein Band der Liebe zwischen Ihnen bestand.«
»Ich will Ihren Wunsch erfüllen, soweit ich dazu berechtigt bin, also so weit er mich selbst angeht. Herr Präsident« – Bendring sprach fest und nachdrücklich – »die heutige Angeklagte machte bei unserer ersten Begegnung Eindruck auf mich; ich stehe aber zu lange in der Welt, ich habe zu viel Eheelend kennen gelernt, und ich bin zu ernst geschult und zu besonnen veranlagt, als daß ich mich von dem äußeren Eindruck ohne Kritik hätte fortreißen und zu einer Erklärung bestimmen lassen können. Ich sah die Dame im Glanze des Reichtums, und ich bewunderte ihre blendenden Eigenschaften; aber ich mißtraute der bestechenden Hülle – ich will es offen sagen: ich zweifelte an der Tiefe ihres Gemütslebens. Das hielt mir den Mund geschlossen, das dämpfte mein Empfinden ab, das machte die Frau mir ungefährlich, so oft ich ihr begegnen mochte. Das bewirkte auch, daß ihr Bild erlosch, als die andere in meinen Gesichtskreis trat, die ich, je länger, um so wahrer verehren und lieben lernte. Lassen Sie mich hinzufügen, daß ich einen echten und großen Charakterzug erst jetzt in ihrem Leide an der Angeklagten kennen und achten gelernt habe: die starke Kraft des Ertragens, die Kraft, dem gewohnten Glanze tapfer, ja mühelos zu entsagen und eine schwere Unbill standhaft und mit echter Seelengröße abzuwehren –«
»Die Verteidigung ist wohl noch nicht angebracht, Herr Rechtsanwalt,« fiel der Vorsitzende ein. »Ueber die Empfindungen der Frau für Sie wollen aber auch Sie Schweigen bewahren?«
»Ich glaubte die Antwort auch nach dieser Richtung gegeben zu haben: wenn ich die Dame für oberflächlich hielt, konnte ich tiefere Regungen in ihr nicht voraussetzen.«
»Sie glauben auch heute nicht daran?« fragte der Staatsanwalt.
»Ich glaube heute, daß ich die Frau in ihrem Werte unterschätzt habe.«
Der Staatsanwalt bohrte weiter.
»Daß sie also der Neigung zu Ihnen fähig war?« fragte er lauernd.
»Allgemeiner: daß Glätte und Gewandtheit nicht der hohle Kern, sondern die Hülle waren.«
»Sie sind vorsichtig –«
»Es wäre schlimm, wenn Sie mir das Gegenteil nachsagen könnten!« parierte der Zeuge.
Der Präsident beugte einem weiteren Wortgefechte mit der Frage vor:
»Hat die Angeklagte auch Ihres Wissens Ihre Braut persönlich nicht gekannt?«
»Haben Sie seinerzeit der Angeklagten Ihre Verlobung angezeigt?«
»Bedaure.«
»Hat die Angeklagte Ihnen gratuliert?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Angeklagte, hatten Sie von der Verlobung Kenntnis?«
»Ja.«
»Auf welchem Wege?«
»Durch die Zeitungen.«
»War die Verlobung inseriert?«
»Das weiß ich nicht. Ich las davon im redaktionellen Teil.«
»Herr Zeuge, besprachen die Tageszeitungen Ihre Verlobung?«
»Ja. Auch mir sind Notizen zu Gesicht gekommen.«
»Angeklagte, wo lasen Sie die Nachricht?«
»In Berlin. Ich stand im Begriff, die Stadt zu verlassen.«
»Sie reisten nicht infolge der Nachricht?«
»Bewahre.«
»Ich kann den Herrn Zeugen seiner Aufgabe als Verteidiger zurückgeben. – Herr Kommissar Wilden!«
Dr. Bendring trat ab und der aufgerufene Kommissar an seine Stelle.
»Herr Kommissar, wie kamen Sie zu dem Verdacht gegen die Angeklagte?«
»Durch eine Eingebung des Augenblicks. Die den Akten beigefügten Postkarten, die der Anwalt weggeworfen hatte, boten mir zu denken. Auffällig war mir die eckige, eigensinnige, winkelzügig verschnörkelte Schrift –«
»Beschäftigen Sie sich mit Graphologie?«
»Nur gelegentlich. Ich will auf meine Deutung auch keinen großen Wert legen. Aber die Schrift fesselte und beschäftigte mich. Und dann das Datum – das Datum des Mordtages! Das Zusammentreffen war ja ein oberflächliches und konnte ein rein zufälliges sein – aber es hielt mich in seinem Bann. Wir hatten bis dahin ausschließlich mit einem Nebenbuhler des Herrn Anwalts gerechnet – der Gedanke kam mir und festigte sich, daß das Verbrechen auch das Werk einer Nebenbuhlerin der ermordeten Braut sein konnte.«
»Hm. Fußabdrücke am Thatort, die auf eine Dame deuteten, waren nicht vorhanden?«
»Nein.«
»Andere Anzeichen auch nicht?«
»Keine. Nur die Handschrift der Karten stand mir vor Augen, und sie deutete meines Erachtens wenigstens darauf hin, daß Herr Dr. Bendring thatsächlich mit einer anderen Dame in Beziehungen stand, während eine in die Gegenwart reichende Verbindung zwischen der Ermordeten und ihrem in Verdacht gezogenen ehemaligen Bewerber nicht nachzuweisen war.«
»Auf dieser Basis stellten Sie Ihre Nachforschungen an?«
»Ja. Zunächst bei dem Anwalt selbst.«
»Hm. Und –?«
»Durch den Herrn Rechtsanwalt wurde ich in meinem Verdachte bestärkt. Ich erfuhr, daß er die in Frage kommende Dame in Nizza kennen gelernt, sie in einem Orte am Golf von Spezzia wiederholt aufgesucht und weiterhin dauernd mit ihr in Briefwechsel gestanden hatte. Aus einem Bilde, das sie ihm geschenkt hatte, schloß ich auf ein für ihn seinerzeit lebendig gewesenes Interesse, aus dem zuletzt einseitig von ihr fortgeführten Briefwechsel aber, daß dieses Interesse ihrerseits Dauer behalten hatte. Das ließ mir die weitere Verfolgung der Spur geboten erscheinen, umsomehr, als eine andere – der verdächtige Maler schien völlig verschollen – überhaupt zurzeit nicht vorhanden war. Herr Dr. Bendring hatte die Güte, mir das von der Dame gemalte Bild – eine kleine Landschaft, die sie gemeinsam besucht hatten – zu verehren. Er war so liebenswürdig, die Namen der Künstlerin und der dargestellten Landschaft sowie eine Widmung eigenhändig auf die Rückseite des Bildes zu schreiben und mir damit die Aufgabe abzunehmen, den Namen der Dame erst anderweitig zu ermitteln. Auch ihren Aufenthalt in Nizza erfuhr ich gesprächsweise.«
Der Präsident lächelte fein, und der Staatsanwalt blinzelte schadenfroh.
Bendring bemerkte es und erklärte gelassen:
»Ich behalte mir vor, auf dieses Zwischenstück in der Leistung des Herrn Kommissars zurückzukommen.«
Die weitere Vernehmung folgte in ermüdender Breite den Ermittelungen des Kommissars in Nizza; und die Zuhörer schienen aufzuatmen, als der Polizeibeamte endlich abtrat.
»Die Zeugin Blanche du Midi!«
Der Gerichtsdiener rief den Namen auf den Flur.
Die Mienen der Zuhörer spannten sich.
Die Zeugin hatte nichts von der frauenhaften Würde der Angeklagten, jede ihrer Bewegungen war mädchenhaft und graziös. Zu dem Eindruck der Jugendlichkeit stimmten auch ihre mittelgroße, schlanke, geschmeidige Figur und der eindrucksvolle, feingeschnittene Kopf mit der üppigen Haarfülle. Ihr rauschendes Seidenkleid verriet nach Farbe und Eleganz den Pariser Ursprung, ebenso der zum Kleide passende Hut mit lila Federn, den sie aber abgenommen hatte und in der Hand trug.
Die Frauen im Zuschauerraume musterten sie neugierig, während die Zeugin ihre Aufmerksamkeit ruhig dem Gerichtshofe zuwandte und ihr dunkles Auge besonders auf dem weißhaarigen Vorsitzenden haften blieb. Die Feierlichkeit der deutschen Gerichtssitzungen schien keinen Eindruck auf sie zu machen; sie stand unbefangen wartend.
Der Präsident verlas fragend den Namen.
Sie antwortete mit einem klaren Ja.
»Sind Sie der deutschen Sprache so weit mächtig, daß wir einen Dolmetscher entbehren können?« flocht der Präsident vorsichtig ein.
Die Zeugin bestätigte es. Sie sprach nicht ohne fremden Anklang, aber vollkommen geläufig.
»Darf ich fragen, woher Ihnen diese Kenntnis einer in Ihrer Heimat nicht beliebten Sprache kommt?«
»Ich bin früh verwaist und im Elsaß erzogen worden.«
»Ah so. Wollen Sie uns über Ihre Eltern kurze Auskunft geben?«
»Mein Vater war Arzt in Lille. Meine Eltern starben in meinem fünften Lebensjahre.«
»Hinterließen sie Ihnen Vermögen?«
»Elftausend Francs.«
»Wurde das Vermögen auf Ihre Erziehung verwendet?«
»Nein, eine Tante – Schwester meiner Mutter – nahm mich zu sich.«
»Lebt diese Verwandte noch?«
»Nein. Sie starb vor einer Reihe von Jahren. Ich zog dann nach Paris.«
»Wie alt waren Sie damals?«
»Siebzehn Jahre.«
»Erhielten Sie Ihr Vermögen ausgezahlt?«
»Nein. Ich ging in Stellung. Als Verkäuferin.«
»Wie lange?«
»Ein halbes Jahr.«
»Und dann?«
»Ich hatte meinen Freund kennen gelernt, der für mich sorgte.«
»Er mietete Ihnen eine Wohnung und gab Ihnen, was Sie zum Leben gebrauchten?«
»Ja.«
»Er nahm Sie auch mit nach London?«
»Allerdings.«
»Dort lernten Sie Frau Herlet kennen?«
»Jawohl.«
»Bei welcher Gelegenheit?«
»Im Theater.«
Sie bestätigte in weiterer Ausführung die Aussagen der Angeklagten.
»Besuchten Sie,« fragte der Staatsanwalt, »auch andere Vergnügungen als die der Theater?«
»Ich allein, ja. Frau Herlet nicht. Sie hatte ja Trauer.«
»Sollte die sie abgehalten haben?«
»Da muß ich doch bitten –!«
»Hm. Machte es sich nicht zuweilen, daß Ihr Freund auch ihm nahestehende Bekannte in Ihren Kreis mitbrachte?« forschte der Ankläger.
»Gewiß,« erwiderte die Zeugin aufrichtig.
»Auch wenn Ihre Freundin dabei war?«
»Selten.«
»Aber doch mitunter?«
»Ein paarmal wohl. Meine Freundin zog sich dann aber bald zurück.«
»Das waren wohl etwas – etwas leichtlebige Herren, wie?« horchte der Staatsanwalt.
»Ich muß bitten, nein!« betonte sie.
»Nun, ich meine, es wurde mit der Moral nicht sehr genau genommen?«
»Ach, weil ich einen Freund hatte? Ich habe nicht das Vorurteil, daß ich meine Freundschaft mir erst kirchlich oder amtlich bescheinigen lassen müßte. Ich liebe meinen Freund, darum bin ich bei ihm, und er liebt mich, darum sorgt er für mich. Wen geht das außer ihm und mir an?« fragte sie keck.
»Wir wollen darüber nicht rechten,« vermittelte der Vorsitzende. »Unsere deutschen Begriffe sind aber strenger als die ihres Heimatlandes, und von der Anklage wird es Ihrer Freundin sogar verdacht, daß sie – daß sie gerade Ihnen sich anzuschließen beliebte.«
»Lassen Sie mir meine Ruhe!« forderte die Zeugin erregt. »Ich mache niemand Schande, und keiner von den Splitterrichtern würde mir ein Stück Brot geben, wenn ich tugendhaft hungern müßte!«
Der Präsident konnte einen leisen Tadel nicht unterdrücken.
»Das ist ein Ausspruch, den ich von einem jungen Mädchen nicht erwartet hätte.«
»Bin ich etwa angeklagt, daß Sie mich nach all dem fragen?« erwiderte die Zeugin ungehalten.
»Das nicht,« gab der Präsident zurück. »Aber wir müssen uns doch etwas näher über Ihre Anschauungen unterrichten, damit wir danach den Wert Ihrer Zeugenaussage mit einiger Verläßlichkeit abschätzen können.«
»Fragen Sie, ich sage die Wahrheit!« forderte sie.
»Wir werden ja sehen, wie weit dies das Gericht annimmt,« erklärte der Vorsitzende etwas reserviert. »Die Anklage gegen Ihre Freundin ist eine zu schwere und die Verdachtsmomente sprechen zu sehr gegen sie, als daß wir Ihre Aussagen ohne gewisse Vorbehalte sollten hinnehmen können. Ich muß Sie auch aufmerksam machen, daß Sie ernstlich Wort für Wort zu wägen haben, denn ehe ich jetzt auf den eventuell durch Sie zu führenden Alibibeweis für die Angeklagte eingehe, habe ich den Zeugeneid von Ihnen zu fordern.«
Der Staatsanwalt erhob Einspruch.
»Ich bitte, von der Vereidigung abzusehen!«
Der Verteidiger protestierte lebhaft.
»Ich sehe dafür keinerlei Veranlassung! Jede Verteidigung würde abgeschnitten werden, wenn es der Anklage gelänge, durch Nichtvereidigung dieser Hauptzeugin deren Aussagen wirkungs- und wertlos zu machen.«
Der Ankläger handelte.
»Ich ersuche, die Beeidigung dieser Zeugin wenigstens bis nach Abschluß der Vernehmung zu verschieben!«
»Ich widerspreche entschieden!« widerholte der Verteidiger, »denn auch dadurch würde ein Zweifel in die Glaubwürdigkeit der Zeugin gesetzt werden, der durch nichts begründet ist.«
Der Staatsanwalt drang nicht durch. Der Präsident stellte sich auf Seite der Verteidigung.
»Ich glaube,« führte er aus und musterte die Französin durchdringend, »daß die freie Anschauung der Zeugin die Ehrlichkeit der Gesinnung nicht notwendig beeinträchtigen muß. Ich halte die Zeugin auch für zu intelligent, als daß sie nicht die ernste Gefahr erkennen sollte, die ein Falscheid für sie selbst heraufbeschwören würde. An die religiöse Seite des Eides zu mahnen, darf ich mir erlassen; ich hoffe aber, daß die Jugendzeit mit ihren Lehren über die Heiligkeit des Eides in Ihnen nachklingt. Erheben Sie die rechte Hand und sprechen Sie mir nach.«
Sie wiederholte die ihr in kurzen Sätzen vorgesprochene Eidesformel laut.
Der Präsident redete gütlich:
»So, mein Fräulein, und jetzt antworten Sie auf die an Sie gestellten Fragen ehrlich und offen! Vergessen Sie einmal, daß die Angeklagte Ihre Freundin ist, und suchen Sie nicht ihr, sondern allein der Wahrheit zu dienen. Hat die Angeklagte Sie in der Zeit zwischen dem 28. Juli und dem 2. August besucht?«
»Jawohl.«
»Hat der Besuch Stunden, einen oder mehrere Tage gedauert?«
»Die ganze Zeit!«
»Das heißt: die Angeklagte kam am 28. Juli zu Ihnen und blieb bis zum 2. August?«
»Ja!«
»Ohne jede Unterbrechung?«
»Jawohl! Auch auf Ausflügen war ich stets in ihrer Gesellschaft.«
»Die Ausflüge gingen in die Umgebung von Paris, nicht etwa nach Deutschland?«
»Wir blieben in und um Paris.«
Der Präsident brach kurz ab.
»Ich habe weitere Fragen an die Zeugin nicht zu stellen.«
»Ich ersuche die Zeugin noch um Bejahung oder Verneinung einer Aussage der Angeklagten, auf die der Herr Staatsanwalt Wert zu legen schien,« bemerkte der Verteidiger. »Haben Sie,« wandte er sich an die Zeugin, »von Frau Herlet zu irgend einer Zeit eine einmalige oder fortlaufende pekuniäre Unterstützung erhalten?«
»Nein!«
»Ich danke.«
»Ist Ihnen eine solche Unterstützung oder Belohnung vielleicht in Aussicht gestellt worden?« fragte vorsichtig noch einer der Geschworenen.
»Auch nicht.«
Damit war die Beweisaufnahme geschlossen.
Die Zeit war weit vorgeschritten, und der Präsident gestattete für die Einnahme des verspäteten Mittagsmahles nur eine knappe Stunde. Dehnten die Plaidoyers sich aus, so war die Urteilsfällung nicht vor dem Abende zu erwarten.