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1.

Zwölf Stunden lang hatte der Taifun gewütet und mit seinen gewaltigen Fäusten an dem Eisenrumpf des Schiffes gezerrt, um es in die Tiefe zu reißen. Doch es war ihm nicht gelungen. Das Schiff war auf einer deutschen Werft gebaut, und eine wohlbekannte deutsche Maschinenfabrik hatte ihm die »Seele« gegeben – nämlich die Maschine. Und diese Maschine war stark und zuverlässig. Und ein alter erfahrener deutscher Seemann stand in diesen Stunden drohender Gefahr auf der Kommandobrücke, ruhig und besonnen. Er hatte schon mehr als einen Taifun in den chinesischen Gewässern erlebt und wußte genau, was sich in dieser Lage tun ließ und was zu geschehen hatte.

Und als der Abend gekommen war, da war der Sturm eingeschlafen und das finstere flatternde Gewölk hatte sich verzogen, der Mond stieg silbern empor und Millionen Sterne schimmerten seltsam erdennah durch die milde klare Nacht. Und nur die Unruhe des Meeres war letztes Anzeigen des eben überstandenen Sturmes.

Still war es auf dem Schiff. Das Stampfen und Schlingern hatte fast ganz aufgehört. Nur das Klatschen der Wellen, die sich am eisernen Schiffsrumpf zerschlugen, war hörbar. Die Fahrgäste lagen in ihren Kojen und ruhten nach zwölfstündiger schwerer Besorgnis und Angst.

Aus der Schiffsküche drang hin und wieder das leise Klappern und Rasseln von Geschirren, ein Zeichen, daß der Smut, der damit rechnete, daß die Fahrgäste nach einem Tag der Angst und einer Nacht tiefer Ruhe Hunger und Durst haben würden, sich schon mit den Vorbereitungen zum ersten Frühstück beschäftigte. Auf der Brücke stand, in seinen Mantel gehüllt, der erste Offizier, unbeweglich wie ein Schattenbild. Und der Rudergast saß still an seinem Rad, den Blick wachsam voraus auf das Meer gerichtet.

Und noch ein dritter Mensch befand sich zu dieser frühen Morgenstunde an Deck. Ein junger Mann, an seiner Kleidung als Fahrgast zu erkennen. Er lehnte an der Reling, sein Blick war träumerisch in die Ferne gerichtet. Er schien trüben Gedanken nachzuhängen, denn hin und wieder hob ein Seufzer seine Brust. Er erwachte aus seinem Brüten, als ein frischer Wind aus Osten ihn ansprang, daß er zusammenschauerte. Zugleich sah er, wie dort, wo am fernen Horizont ein letztes ziehendes Gewölk sich mit den grauen unruhigen Gewässern vermischte, ein Licht aufzuckte, das sich schnell vergrößerte. Wie ein Ruck ging es durch die Schöpfung. Ein plötzliches jubelndes Erwachen. Das Licht wuchs, wurde röter und röter – und füllte bald den ganzen Horizont. Strahlen wie ungeheure glühende Arme hoben sich empor und vergoldeten im Nu das weite Firmament. Die rollenden Wellen blieben stehen, hoben ihre Stierköpfe nach dem leuchtenden Licht und sanken in sich zusammen.

Tiefe Stille war nun über dem Meer, wie von tausend hurtigen Zauberhänden angezündet, loderten auf allen Wassern goldene Feuerflämmchen. In einer Fülle von Licht und goldenem Glast rauschte das stolze Schiff durch das chinesische Meer, der Reede von Taku zu.

»Guten Morgen, Doktor Wilbrandt!« ertönte neben dem Einsamen eine tiefe Stimme. Der fuhr zusammen, beinahe erschrocken.

»Ah, Sie sind es, Kapitän Hansen! Guten Morgen! Auch schon wieder auf – nachdem Sie eben erst zwölf Stunden ununterbrochener Arbeit hinter sich haben?«

Der alte Seemann lächelte, ging aber auf die Worte des jungen Mannes nicht ein. Er deutete mit der Rechten gen Osten.

»Nicht wahr, die Welt ist mit Wundern erfüllt!« sagte er andächtig. »Das alles so plötzlich erwachen und aufglühen zu sehen, ist ein Anblick von großer Erhabenheit.«

»Ich sah niemals etwas so Gewaltiges wie dieses plötzliche Aufsteigen der Sonne über den Meereshorizont«, bestätigte Doktor Wilbrandt.

»Waren Sie noch nie in den Polarmeeren?« fragte der Kapitän. Und als jener verneinte, fuhr er fort: »Dort können Sie Naturwunder erleben, die dem Menschen mit Macht an die Seele greifen. Auch dort ist es die Sonne, die sie wirkt, doch sollte man meinen, es sei eine ganz andere Sonne. Hier wirft sie über die Schöpfung einen leuchtenden Königsmantel von Purpur, Gold und Edelsteinen. Im Norden dagegen malt sie Bilder von einer ganz anderen Schönheit – von einer düsteren, ergreifenden Pracht.«

Wilbrandt wunderte sich ein wenig, den Kapitän so gesprächig zu sehen. Es war das erstemal, daß er ihn so in zusammenhängenden Sätzen reden hörte. Kapitän Hansen war der schweigsamste Mensch, der ihm jemals begegnet war. Sogar an der Mittagstafel, an der Hansen meist den Vorsitz führte, beteiligte er sich an der Unterhaltung nur durch wenige hin und wieder eingestreute Worte.

»Die Welt ist wahrlich voller Wunder!« sagte Wilbrandt nach einer Pause, während der die beiden Männer ganz in dem Anblick der in immer goldigerem Glanz funkelnden Meeresflut versunken waren. »Immer von neuem zeigen sie uns die Größe des Meisters, der in dem Laboratorium der Welt auf so geheimnisvolle Weise schafft.«

Über das wetterbraune Gesicht des Kapitäns ging ein Lächeln.

»Ich freue mich, Sie so sprechen zu hören. Der Gedanke, den Sie da aussprachen, beschäftigte mich, seit ich auf den verschiedenen Weltmeeren herumfahre. Und immer bin ich dabei zu dem Vergleich gekommen zwischen dem Universum und meinem Schiff. Scheint nicht so ein Schiff ebenso lebendig wie ein Mensch? Ist nicht alles an ihm so planvoll und durchdacht und so äußerst zweckmäßig? Wer es anschaut, wie es trotz Sturm und Wellen seinen bestimmten weg geht, sollte es wohl für ein Wesen halten, in dem ein lebendiger Gedanke und zielbewußter Wille lebt. Wir Wissenden aber sehen nur ein totes Ding von Stahl, Eisen und Holz. Die Seele, die es belebt, ist die Maschine. Diese Maschine aber ist nichts anderes als ein kunstvoller Aufbau von Stangen, Röhren und Rädern. Das scheinbare Leben, das darin wohnt, ist nichts anderes als der Menschengeist, der das alles erdacht hat, beherrscht und lebendig macht. Nun sehen Sie: erscheint nicht dem Auge des Kurzsichtigen die Welt so, wie dem Unwissenden mein Schiff? Als ein selbständig denkendes lebendes und handelndes Wesen? Wie aber das Schiff vom Menschengeist abhängt, so hängt die Welt vom Gottesgeist ab. Unsere Augen sehen sein Werk, aber unsere Seele sieht ihn selber in seinen Werken und Wundern. So wie die Schrift ihn uns zeigt. Die Menschen in den steinernen Meeren der Großstädte sind ihm so fern – und ihre Augen sind von vielen Nebeln verdüstert. Aber solch eine stille Nacht auf dem Meere – und dann solch ein Sonnenaufgang – oh, wie ist man dem Schöpfer dann so nahe!«

»Ich habe das während dieser Seefahrt in mancher stillen Nachtstunde empfunden«, sagte Wilbrandt.

»Ja«, nickte der Kapitän, »jeder Mensch mit einem fühlenden Herzen muß das empfinden. Und darum trägt jeder, der einmal das Meer im stillen Glanz der Sterne durchfahren hat, sein Leben lang die große Sehnsucht danach mit sich herum. Ich bin ein alter Mann und habe nur noch den einen Wunsch, in einer milden Sommernacht, wenn der Himmel über mir voll von Sternen steht und in der tiefen schimmernden Bläue das Kreuz des Südens hängt, auf dem Deck meines Schiffes zu sterben. Ich kann mir denken, daß das Sterben in den dumpfen Zimmern der Großstädte viel Angst und Qual bereitet, hier aber, wo unter mir das Wasser rauscht und hoch über mir der Mond zieht, ist das Sterben sicher leicht.«

Er strich langsam mit der Hand über seine Stirn, dann lachte er leise auf.

»Merkwürdig, daß ich zu Ihnen vom Sterben spreche – da ich doch vom tiefen schönen Leben reden wollte! Ich fürchte, Doktor, Sie halten mich für einen Schwätzer. Aber ich bin es nicht, glauben Sie mir. Wenn ich jedoch sehe, wie sich rings um mich die herrlichsten Wunder Gottes ereignen, dann geht mir altem Mann wohl mal das Herz über. Denken Sie nur, gestern der schwere Sturm – heute morgen diese Pracht! Sind Sie Astronom?«

»Nein, Arzt.«

»Also studieren Sie die Welt des winzigen, der Bazillen und Mikroben. Immerhin werden Sie wohl unterm Mikroskop ebenso seltsame Wunder schauen wie ich im Fernrohr. Aber sie wirken nicht so großartig – und nicht so überzeugend von der Größe Gottes. Das hier –« er deutete mit beiden Armen auf das Meer hinaus – »ist ja so unbeschreiblich großartig! Der gewandteste Schwätzer kann dagegen nicht vorwitzige Weltweisheit predigen. Leben Sie wohl, Doktor Wilbrandt! wir werden uns heute trennen. In einer Stunde tauchen in der Ferne die Forts von Taku auf.«

Er reichte dem jungen Arzt die Hand und ging langsam zu dem ersten Offizier hinüber, der unbeweglich am Geländer der Kommandobrücke lehnte.

*

Die Glocke gab das Zeichen zum ersten Frühstück, heute, am Tage des letzten Zusammenseins für mehrere der Schiffsgenossen, war die Tafelrunde fast vollzählig versammelt. Neben Doktor Heinz Wilbrandt saß ein englischer Ingenieur, Robert Harlington, der seit Jahren in China lebte und eine große englische Maschinenfabrik vertrat.

»Jetzt haben Sie Ihr Ziel bald erreicht«, sagte der Ingenieur, als Doktor Wilbrandt neben ihm Platz nahm. »Gedenken Sie zu Schiff bis Tientsin zu fahren?«

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete der junge Arzt. »Offen gestanden habe ich eine rechte Sehnsucht, wieder mal festen Boden unter den Füßen zu spüren. Ich habe vor, von Tongku aus die Eisenbahn zu benützen.«

»Und ich sage Ihnen, Sie werden es bereuen. Nichts Öderes gibt es als diese Eisenbahnfahrt. Die ganze Strecke führt über brackigen Boden. Sie sehen ringsum eine tote, stumpfe Ebene. Nichts als Sand und Sumpf, hier und da eine Pfütze mit gelbbraunem Wasser. Und nichts wächst in dieser Wüste als mageres Gestrüpp und graufarbiges dürftiges Gras. Zahllose verstreute Grabhügel sind auch nicht geeignet, den Anblick der Landschaft erfreulicher zu machen.«

»Aber die Fahrt den Peiho hinauf wird ein gutes Stück weiter sein.«

»Dafür aber wesentlich interessanter. Wohl macht der Fluß zwischen Taku und Tientsin große Krümmungen, aber Sie sehen allenthalben an den Ufern eine fruchtbare Landschaft mit üppigem Grün und zahlreichen Dörfern. Ich würde Ihnen raten, unter allen Umständen den Wasserweg zu wählen.«

»Gut, ich folge Ihrem Rat und danke Ihnen dafür.«

Gerade betrat der erste Offizier den Frühstücksraum.

»Meine Herrschaften, eben ist die Küste von China in Sicht gekommen. Noch eine Viertelstunde und Sie können die Befestigungen von Taku erkennen.«

Alle drängten auf Deck. Die Sonne war inzwischen schon hochgestiegen und es war bereits sehr warm. Der goldrote Schein war von den Wassern verschwunden, dafür aber schimmerte nun das Meer in wunderbar durchsichtigem Grünblau. Dort aber, wohin sich jetzt aller Blicke richteten, am westlichen Horizont, gewahrte man einen breiten Streifen Land, von der Sonne mit Purpurfarbe übergossen. Der wuchs und erhob sich höher und höher vor den Augen der Landhungrigen aus dem Wellenspiel des Meeres empor.


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