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Es war Abend. Heinz Wilbrandt stand am Fenster seines Stübchens, in gleicher Höhe mit den Wipfeln einiger Bäume, in deren Zweigen mit leiser Stimme der Abendwind seine Lieder sang. Blickte er nach links gen Osten, über das hochummauerte Gebiet der ehemals kaiserlichen Verbotenen Stadt hinaus, so sah er, wie sich die tiefe azurne Bläue des Himmels mehr und mehr verdunkelte und sich in unergründlich klare Tiefen versenkte. Drehte er den Kopf nach rechts, dann sah er, wie sich am westlichen Horizont Licht- und Flammenwogen emporhoben wie eine zunehmende Feuersbrunst. Eine jauchzende, brausende Symphonie von Farben – ein Sprühen, Funkeln und Strahlen, wie er es an den herrlichsten Abenden in der deutschen Heimat noch nie erlebt hatte.
Allmählich ebbte die Lichtflut zurück. Je mehr sich von Osten her das dunkle Blau der Nacht, hier und da schon von einem Stern durchblitzt, herandrängte, um so tiefer sank die Flammenbrandung am westlichen Rande der Erde in sich zusammen. Immer tiefer wurde das Rot, strahlender das Gold, doch auch immer kleiner der Umkreis hellen Lichtes. Bald stand nur noch ein breiter leuchtender Streif von Violett am Horizont, von purpurnen Strahlen überhaucht. Doch rastlos rollte die Nacht ihren dunklen, mit Silber beflitterten Mantel auseinander. Dann war es, als wenn unsichtbare schnelle Hände alles, was da im Westen noch glühte und leuchtete, hinwegwischten und unter den Bögen des von geheimnisvoller Bläue erfüllten Weltendomes zahllose silberne Lampen anzündeten. Allenthalben flammte es auf, hier und dort – Stern an Stern. Und mitten zwischen ihnen wandelte der Mond seine stillen Bahnen.
Es war plötzlich Nacht geworden.
Von der nahen Missionskapelle wehten wie auf leichten Schwingen die zarten Töne des Abendglöckleins herüber. Die vertrauten Klänge und das Lied einer Nachtigall waren die einzigen Laute in der tiefen Stille. Dann schwieg die Glocke. Noch ein paar halbverwehte Klänge zitterten durch die stille Luft – dann beherrschte nur noch das Lied der Nachtigall die Stille.
In solchen Stunden, fern von der Heimat, treten vor die Seele des Landfremden allerlei seltsame Gestalten, gute und böse Geister, die seinen Schritten folgen über Berge und Meere. Und sie beginnen einen stummen Reigen um ihn zu wandeln und blicken ihn aus tiefen Augen an – aus freundlichen oder mahnenden, finster drohenden oder hohnerfüllten Augen.
»Oh, ihr Erinnerungen – die ihr an den Einsamen gefesselt seid wie mit Blütenranken oder Sklavenketten! Ihr Erinnerungen, die ihr als des Menschen Freunde oder Feinde all seinen Schritten und Bewegungen stumme Gefolgschaft leistet – die ihr blumengeschmückt mit hellen Gewändern ihn umgaukelt oder in finstergrauem Kleid unhold und drohend ihn umkreist – oh, ihr Erinnerungen, wie seid ihr in der Fremde doppelt mächtig über den Menschen!«
Solche Gedanken gingen Heinz Wilbrandt durch die Seele. Er war den ganzen Tag auf sich allein angewiesen gewesen, einsam in der fremdartigen Riesenstadt. Jetzt, da der Abend gekommen war, packte ihn das Heimweh, eine unaussprechliche Sehnsucht nach Deutschland, nach den Seinen. Er hatte gegen diese Stimmung mit aller Macht angekämpft, denn er war sich klar darüber, daß solche Stimmungen seiner Aufgabe nicht zuträglich waren. Eben setzte er sich nieder, um seine Verstimmungen durch das Studium der chinesischen Sprache zu vertreiben, da wurde leise angeklopft, und auf seinen Ruf trat Käsch herein. Er lächelte auf ganz eigene triumphierende Weise.
»Herr, es ist gelungen!« flüsterte er.
»Dann bist du ja ein Hexenmeister, Käsch!« rief Wilbrandt vergnügt. All seine Verstimmung war plötzlich verschwunden. »Aber ich kann es noch nicht glauben.«
»Es ist so, Herr. Ki-kui, Tso-tsing-wus Schreiber, ist mein Freund. Oh, das ist ein Gauner! Schlecht durch und durch! Aber ich weiß jemand, der noch schlauer ist als er.«
»Das bist wohl du?«
Käsch nickte und lachte über das ganze Gesicht. »Ich kannte Ki-kui erst zehn Minuten, da wußte ich schon, daß er seinen Herrn haßt wie den Teufel. Er sagt seinem Herrn jede Schandtat nach. Dabei lacht er über ihn und seine grenzenlose Dummheit. Ki-kui behauptet, sein Herr wäre –« Käsch brach verlegen, aber kichernd ab und seine Augen senkten sich vor dem durchdringenden Blick seines deutschen Herrn.
»Nun, mein Junge, fahr doch fort! Was sagte der vortreffliche Ki-kui über seinen Dienstherrn?«
»Es war was ganz Dummes, Herr! Wirklich, reiner Unsinn!«
»Schön, aber ich will jetzt den Unsinn kennen lernen«, beharrte Wilbrandt, der Unrat witterte. »Nun, Käsch, wird's bald?«
»Er hat gesagt – gesagt – sein Herr wäre – wäre – noch dümmer als ein Europäer.« Die letzten Worte kamen wie aus der Büchse geschossen heraus, zugleich zog sich der vorsichtige junge Mann bis zur Tür zurück und blickte von hier aus verschmitzt lachend auf Wilbrandt. Und Wilbrandt blickte auf Käsch – aber nicht verschmitzt lachend.
»So so, noch dümmer als ein Europäer!« brummte er. »Das will was heißen, wie, Käsch? Aber sag doch mal, mein Junge, warum hält denn eigentlich dein Freund Ki-kui die Europäer für so rettungslos dumm?«
»Sehr einfach, Herr: weil sie für viel Geld all den Plunder kaufen, den Tso-tsing-wu überall zusammenkauft oder herstellen läßt und als Altertümer ausgibt.«
»Ach so – darum. Weißt du, damit hat dein Freund nicht einmal ganz unrecht. Aber jetzt erzähle mir mal, wie ihr Freunde geworden seid, du und Ki-kui!«
»Ich kam gerade dazu, wie Ki-kui von seinem Herrn schreckliche Prügel bekam. Mit einem Bambusrohr schlug Tso-tsing-wu auf seinen Schreiber los. Der schrie, als wenn er geschlachtet würde. Ich stand dabei und sah zu, denn das geschah vor Tso-tsing-wus Laden. Als der grausame Mensch nicht mehr konnte und in sein Haus ging, habe ich Ki-kui getröstet. Da hat der gelacht und mir erzählt, daß er seinen Herrn belügt, betrügt und bestiehlt, wo er nur kann. Und all die Prügel, die er bekäme, würde er Tso-tsing-wu eines Tages mit Zinsen wieder heimzahlen – wenn er nur einen vertrauten Freund hätte, mit dem er das zusammen machen könnte. Nun, da habe ich ihm meine Freundschaft und Hilfe angeboten.«
»Aber Junge, wie konntest du das!« regte sich Wilbrandt auf. »Du hast doch nicht die Absicht, dich in Wirklichkeit an Tso-tsing-wu zu vergreifen?«
»Zu vergreifen? O nein! Nur durchprügeln wollen wir ihn. Übermorgen. Dann geht der Alte auf sein Landgut in Föng-tai. Von da kehrt er immer erst spät abends zurück. Dann wollen wir ihm an einer einsamen Stelle auflauern und ihm sein Teil geben. Zum Dank will Ki-kui mir alles erzählen, was er von seinem Herrn weiß.«
Obwohl diese Schlußfolgerung Wilbrandt ziemlich einleuchtete, war er dennoch mit dem ganzen Handel keineswegs einverstanden. Er dachte an die Unannehmlichkeiten, in die er dadurch kommen konnte.
»Das geht wirklich nicht, Käsch! Denke, wenn du erwischt würdest!«
»Erwischt – o Herr!« rief der junge Chinese lachend und schüttelte belustigt den Kopf. »Käsch läßt sich bei so was nicht erwischen.«
»Ganz einerlei. Ich darf's nicht dulden. Die Verantwortung würde auf mich fallen.«
»Gut, Herr, ich werde Tso-tsing-wu nicht verhauen.«
Diese schnelle Umkehr erfüllte Heinz Wilbrandt mit Mißtrauen. Er betrachtete den jungen Mann mit einem durchdringenden Blick, den Käsch ruhig aushielt. Aber er schmunzelte auf ganz besonders pfiffige Weise. Und nach einer Weile wollte er sich still zur Türe hinausschlängeln. Der Deutsche aber faßte ihn schnell beim Jackenzipfel.
»Holla, guter Freund, so haben wir nicht gewettet. Jetzt machen wir mal einen Spaziergang durch Peking.«
»Jetzt, Herr?« fragte Käsch äußerst erstaunt. »Es ist ja finstere Nacht!«
»Nun ja, was macht denn das!«
»Herr, das geht nicht. Das würden Sie sicher bereuen, Wissen Sie nicht, daß nachts Räuber, Diebe, wilde Hunde und böse Geister auf den Straßen umgehen? Und so finster ist es, daß wir Laternen mitnehmen müßten.«
»Also nehmen wir Laternen mit. Ich bemerke, daß du ein furchtsamer, abergläubischer Tropf bist.«
»O nein, mein Gebieter, ich bin ein mutiger Mann. Befehlen Sie mir, Tso-tsing-wu zu verhauen, und ich verhaue ihn. Aber jetzt auf die Straße gehen? Ohne daß wir es nötig haben? Nein, Herr, es geht wirklich nicht. Sie würden nichts sehen, was Ihnen Freude macht.«
»Gut, wir gehen dann morgen früh. Sobald die Sonne scheint, brechen wir auf. Sorge dafür, daß du pünktlich zur Stelle bist.«
*
Heinz Wilbrandt war am anderen Morgen kaum angekleidet, als Käsch zu ihm ins Zimmer trat. Er bot dem jungen Mann die Hälfte von seinem Frühstück an, das der gutmütige und höfliche Hoi-so-ping ihm selbst aufs Zimmer gebracht hatte. Zu seinem Erstaunen lehnte Käsch dankend ab. Nicht aus Bescheidenheit, sondern wegen Mangel an Bedürfnis. Er hatte schon gefrühstückt – und nachdem er seinem Herrn geschildert hatte, was er gefrühstückt hatte, erschien es diesem durchaus glaubhaft, daß der gute Käsch auch nicht das kleinste Bröckchen mehr in seinem Magen verstauen konnte.
Nun konnte der Bummel durch Peking losgehen. Wilbrandt nahm Abschied von seinem freundlichen Wirt, der es sehr lebhaft bedauerte, daß er ihn nicht persönlich begleiten konnte. Zu Wilbrandts Erstaunen stand Käsch vor dem Hause und hielt ein kleines, aber nettes Pferd am Zügel – das Leibroß des Herrn Hoi-so-ping, lammfromm, wie er versicherte, und an den Lärm des Pekinger Straßenlebens gewöhnt. Käsch sah, daß sein Herr einen Augenblick zögerte.
»Steigen Sie schnell auf, Herr!« drängte er eifrig. »Sie können nicht zu Fuß gehen. Sie würden umgestoßen und zertreten werden.«
»Dummes Zeug!« rief der Deutsche. »Ich bin an europäische Großstädte gewöhnt, die es an Geschäftigkeit wohl mit eurem Peking aufnehmen können. Übrigens, was willst du denn tun, wenn ich reite?«
»Oh, ich werde das Pferd am Zügel führen, als seien Sie ein Mandarin. Dann weiß man, daß Sie ein großer Herr aus Europa sind – und daß ich der Diener eines berühmten Mannes bin.«
»Ach so!« lachte Wilbrandt. »Die liebe Eitelkeit!« Er schwang sich in den Sattel. Das Pferdchen drehte den Kopf zu dem Reiter herum, offenbar erstaunt, wo denn die zwei Zentner seines Herrn geblieben seien. Als es aber einen ganz fremden Reiter auf seinem Rücken erblickte, war es auch damit zufrieden und setzte sich auf das Zureden von Käsch willig, wenn auch mit verwundertem Kopfschütteln, in einen kleinen Trab, der aber sofort in langsame Gangart überging, als sie aus der Nebenstraße in eine Hauptstraße einbogen.
Wilbrandt hatte Peking bisher zu drei verschiedenen Tageszeiten gesehen. Abends war er angekommen, morgens von der Mission zu Hoi-so-ping übergesiedelt und im Laufe des Vormittags hatte er dem deutschen Gesandten und Li-ping Besuch gemacht. Wann aber das Pekinger Straßenleben am geräuschvollsten war, das hatte er bisher noch nicht feststellen können. Am Abend glaubte er, die Stadt habe durch fleißiges Üben während des ganzen Tages die höchste Meisterschaft im Lärmmachen erlangt. Diese Meinung stieß er am Morgen um – natürlich, nur durch ausgiebige Nachtruhe ließ sich die Kraft und Ausdauer dazu erlangen. Mittags aber schüttelte er verwundert den Kopf und nahm an, daß der höchste Grad von Sonnenhitze wohl auch den höchsten Grad von Leistungsfähigkeit erzeuge. Wilbrandt war es ja von anderen Ländern anders gewöhnt – aber hatte er nicht erfahren müssen, daß die Leute in China in mehr als einer Beziehung von der Allgemeinheit abweichen?
»Wunderbar, höchst wunderbar, daß diese Menschen so gar nicht nervös zu sein scheinen!« murmelte er unwillkürlich vor sich hin.
Welch ein Gewühl auf den engen Straßen und Gassen der Chinesenstadt! Wegeordnungen und Verkehrsgesetze waren hier offenbar unbekannte Dinge. Nirgendwo sah Wilbrandt einen Schutzmann mit weißleuchtendem Handschuh, das lebendige Straßengesetz. Nirgendwo Schilder mit »Rechts gehen!« oder »Reiten verboten!« oder dergleichen. Hier war gar nichts verboten. Hier durfte jeder tun, was er wollte, und jeder tat es auch. Der Krämer baut seinen Stand auf, wo es ihm beliebt. Ist er ein gar zu unmögliches Verkehrshindernis, so kann es geschehen, daß der Verkehr über seine Waren und ihn selbst hinwegflutet und das Hindernis einfach fortschwemmt. Ein tolles hin und her geschäftiger Menschen! Seidengewänder reiben sich an Kulikitteln. Und über dem Ganzen ein Brausen unbestimmten Lärms, hervorgerufen von Tausenden von Menschenstimmen. Dazwischen gellen die Soloinstrumente. Ihrer sind unzählige. Wilbrandt sah einen langen dürren Kerl, der wie besessen auf ein Stück Blech trommelte. Was will er? Nun, einen Korb Äpfel verkaufen. Ein anderer entlockt einer Glastrompete langgezogene gellende Töne. Er trägt auf der Brust einen verschlossenen Kasten, auf der Nase eine unförmlich riesige Brille – ohne Gläser. Käufer sammeln sich an. Er öffnet seinen Kasten – Brillen! Brillen aller Formen und Größen. Der Brillenmann macht gute Geschäfte. Ein Chinese mit Augengläsern gilt ohne weiteres als gelehrter Mann. Doch das dumpfe Gedröhn eines Gongs lenkt die Aufmerksamkeit von dem Brillenhändler auf einen kleinen buckeligen Mann, der vor einem niedrigen Stand hockt. Er hat Elfenbeinschnitzereien und nette kleine Flechtarbeiten zu verkaufen. Wilbrandt ritt an den Stand heran und betrachtete mit Interesse die Sachen. Der Verkäufer reicht ihm wortreich die einzelnen Stücke zur Besichtigung. Bei einem hübsch aus Elfenbein geschnitzten Bonzen läßt Wilbrandt durch Käsch nach dem Preis fragen. »Zehn Dollar!« macht der Chinese unter Zuhilfenahme der Finger begreiflich. Wilbrandt legte das Ding wieder hin und wandte sich achselzuckend ab. Käsch aber zupfte ihn am Ärmel.
»Wenn Ihnen das Ding gefällt, Herr, dann geben Sie mir bitte einen Dollar. Ich werde handeln.«
Wilbrandt tat es – und siehe da, der Verkäufer nahm vergnügt den Dollar und der Bonze gehörte dem Deutschen. Der wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Hatte er neun Dollars gespart oder einen halben zu viel ausgegeben?
Da kommt ein Mandarin auf reich aufgezäumtem Pferd dahergeritten. Er trägt die Pfauenfeder und den Knopf, ist also von hohem Rang. Der größte Teil des Volkes erweist ihm willig Ehre, manche aber auch kehren sich nicht an seine Würde und drehen ihm in auffallender Mißachtung den Rücken zu. Der Deutsche und der Mandarin reiten nahe aneinander vorüber – und der Chinese wirft dem Fremden einen langen Blick zu, in dem Hohn, Haß und Verachtung vereinigt sind. Haßt er den Mann, weil er ihm keine Ehren erweist – oder als den Angehörigen eines fremden Volkes?
Zahlreiche Fahrzeuge drängen sich durch das Menschengewirr: Eselwagen, Schiebkarren, Lastfuhrwerke, und die meisten von ihnen quietschen gräßlich in den Radachsen. Zu was das teure Öl verschmieren? Mögen die Räder quietschen – wen kümmert's!
Ruhiger ist es in den Straßen der Handwerker. Ein großer Teil des Tagwerks spielt sich vor den Häusern im Freien ab. Ein Barbier zieht die Aufmerksamkeit des Deutschen auf sich. Sein »Laden« ist mit Wartenden angefüllt. Das Rasieren eines mit achttägigen Stoppeln bewachsenen Chinesenschädels nimmt einige Zeit in Anspruch. Damit den Wartenden die Zeit nicht lang wird, läßt ihnen der Barbier in winzigen Täßchen Tee reichen und erzählt dabei Geschichten. Er tut es offenbar mit Meisterschaft, denn seine Gäste strahlen vor Heiterkeit. Als der flinke Figaro den Fremden gewahrt und seine Anteilnahme an seiner Beschäftigung, ladet er eifrig ein, näherzutreten: »Tschin – tschin!« Wilbrandt schüttelt lachend den Kopf und schaut zu, wie der Barbier seine Kunden behandelt. Der seift die Köpfe nicht etwa ein, sondern reibt sie nur tüchtig mit lauwarmem Wasser. Dann greift er zum Messer – und an den Mienen der Rasierten kann man deutlich genug erkennen, daß die Minuten, die sie unter den Händen des Verschönerers zubringen müssen, nicht zu den angenehmen ihres Lebens zählen. Kein Wunder! Heinz Wilbrandt betrachtete die Rasiermesser etwas genauer, die auf einem Tischchen ausgebreitet lagen, und fand, daß sie kaum scharf genug waren, um damit Käse zu schneiden. Eben war einer fertig und erhob sich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung. Blitzschnell kam aus einem Winkel ein Kerl hervorgesprungen, fegte das ganze Geschabsel in ein Eimerchen und kehrte auf seinen Platz zurück.
»Was bedeutet das, Käsch?« fragte Wilbrandt.
»Dünger, Herr«, antwortete Käsch. »Das Land ist arm und die Felder zum Teil schlecht. Alles, was von Menschen und Tieren abfällt, wird aufs Land gebracht. Man hat zwar auch bei uns den künstlichen Dünger eingeführt, doch die armen Leute können ihn nicht bezahlen und behelfen sich immer noch auf die alte Weise.«
Der Nachbar des Barbiers sitzt gebückt vor einem kupfernen Ambos und hämmert emsig drauf los. Er hat ein dichtes Geflecht von dünnen Messingdrähten vor sich, das er so lange behämmert, bis aus dem Geflecht eine Platte wird. Auf diese Weise werden die sogenannten »echten Becken« hergestellt, die im Schlagzeug unserer Musikkapellen eine bedeutende Rolle spielen. Die Arbeit erfordert viel Zeit, Geduld und Kunstfertigkeit, denn die Platte muß an allen Stellen genau gleich dick sein. Der Beckenschmied schaute kaum von seiner Arbeit auf, als der Fremde langsam vorüberritt. Sein Hammer fiel in stets gleichem Zeitmaß auf das hell klingende Metall nieder. Auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Der Mann ist ein Typ seiner Nation, glücklich, ohne Leidenschaften, zufrieden durch Bedürfnislosigkeit, frei von Ehrgeiz. Wilbrandt hatte den Eindruck, als hämmere er nicht, um damit Arbeit zu leisten und Geld zu erwerben, sondern um einen Kult zu verrichten und ein edles Gesetz zu erfüllen. Und er fand, daß Menschen von der Art dieses stillversunkenen Hämmerers gleichsam die Buchstaben sind, aus denen die eigenartige Geschichte des chinesischen Volkes zusammengesetzt ist.
Wieder kommen die Entdecker in eine der Hauptstraßen. Lärm umbraust sie wie eine Meerflut. Ganz nahe bearbeitet ein junger Bursche wie besessen ein Tamtam. Neben ihm hat ein alter bebrillter Chinese einen Tisch mitten auf dem Pflaster aufgestellt. Aus einem schmutzigen Beutel bringt er allerlei Dinge zum Vorschein, aus denen man erkennt, daß der Mann ein wandernder Bankhalter ist, ein Spielunternehmer. Mehr als jeder andere »Geschäftsmann« darf er hier auf regen Zuspruch hoffen. Schon bleiben mehrere Leute stehen, die eben noch rannten, als entschiede die nächste Minute ihr weiteres Dasein. Handwerker, eben noch vertieft in ihre Arbeit, erheben die Köpfe und legen das Arbeitsstück zur Seite. Ein – zwei – drei Dutzend Menschen scharen sich um den Spieltisch – und der Junge bearbeitet das Tamtam, als wolle er es in Stücke schlagen. – Nun ist die Bank fertig, die Lotterie aufgelegt. Wer setzt? Viele setzen – alle setzen, die ein paar Käsch im Sack haben. Keine Leidenschaft ist im Land der Mitte so verbreitet wie die für das Glücksspiel – noch beherrschender als die für Opium und Haschisch. Geldstücke sammeln sich auf dem Tisch des Bankmachers. Teils streicht er sie ein, zum Teil kehren sie mit Gewinn in die Hand des Wagenden zurück. Immer dichter wird der Kreis. »Ein Menschenklumpen gleich einem Bienenvolk«, denkt Wilbrandt. Und um den Klumpen herum fluten unbekümmert die Ströme des Verkehrs. Keiner murrt oder schimpft, weder der Bankhalter, über den sich die Spieler wie ein brausender Wasserfall zu stürzen drohen, noch die Spieler, die sich gegenseitig die Füße abtreten und die Lumpen vom Leibe reißen, noch auch die vielen, die um das seltsame Unternehmen im Bogen herumgehen müssen. Der Chinese ist in jeder Lebenslage von einer erstaunlichen Geduld.
Wilbrandt hat sich etwas abseits gehalten und beobachtet vom Pferd herab das Getriebe. Käsch reckt den Hals, sieht aber nichts. Da läßt er es sein – es ist auch so gut. Auf einmal aber zupft er seinen Herrn am Ärmel und deutet verstohlen auf drei Chinesen, die dicht nebeneinanderstehen und ganz in das Spiel vertieft sind. Ihre Kleidung ist besser als der Durchschnitt, ein Beweis, daß sie wohlhabend sind. Sie setzen, gewinnen, verlieren, alles mit demselben Gleichmut. Aber was ist das? Wilbrandt sieht, wie ein vierter, ein zerlumpter Bursche, sich über die Schultern der drei beugt, scheinbar um dem Spiel zuzuschauen. In Wirklichkeit aber ist er damit beschäftigt, die Jacken der drei Spieler mittels eines starken Fadens zusammenzunähen. »Aha, ein schlechter Scherz!« denkt der Deutsche. Aber bald muß er einsehen, daß er sich geirrt hat. Plötzlich schreit einer der drei zeternd auf und greift nach einer Hand, die in seinem Kittel gesucht hat. Bewegung geht durch die Menge. Dann ein furchtbares Zetermordiogeschrei! Die drei haben bemerkt, daß sie mit den Kitteln zusammengebunden sind – und alle drei sind bestohlen worden. Sogleich ist auch ein Polizist zur Stelle. Wo ist der Dieb? Aalglatt will der sich entwinden – doch Wilbrandts Finger zeigt auf ihn. Zwanzig Hände greifen nach ihm – andere nesteln an der Schnur, die den armen Teufeln die Jacken verknüpft hat. Der Polizist hat seine linke Faust in den Kittel des Diebes gekrallt und stößt den Mann vor sich her. Der wirft dem Reiter einen furchtbaren Blick der Wut und des Rachedurstes zu, vor dem Wilbrandt unwillkürlich ein wenig zusammenzuckt. Dann aber gibt er Käsch den Befehl, dem Transport zu folgen. Der schüttelt unzufrieden den Kopf, folgt aber. Durch mehrere Straßen geht es. Plötzlich ein Geheul – der Polizist steht stocksteif und betrachtet fassungslos den schmutzigen Kittel in seinen Händen. Der Kerl aber, der noch eben in dem Rock steckte, ist fort, verschwunden, in eine Seitengasse hinein entwischt, in der Menge untergetaucht. Ein günstiger Augenblick – ein Ruck – ein Sprung – fahre hin, zerlumpter Kittel!
Ein helles, schrilles Triangelgeklapper lockte Wilbrandt und viele andere zu einer Straßenecke, wo ein phantastisch aufgeputzter Kerl stand und auf geheimnisvolle Weise tätig war. »Aha, ein Zauberkünstler!« dachte der Deutsche und faßte den Mann schärfer ins Auge. Aber es war leider nicht Lui-ping-shen. Der Künstler machte mit einigem Geschick ein paar harmlose Kunststückchen. Mit Vorliebe ließ er Münzen verschwinden – wohlgemerkt nicht seine eigenen, sondern solche, die ihm von neugierigen Zuschauern zum »Verzaubern« gereicht wurden. Er verzauberte sie so gründlich wie möglich. Er machte das Kunststück mehrere Male hintereinander und hätte es wohl noch bis in die Nacht hinein weitergemacht, wenn die Zuschauer gutmütig genug gewesen wären, ihm noch weiterhin Münzen zu reichen. Er sah aber nur noch grinsende Gesichter und ging zu anderen Kunstfertigkeiten über.
Wilbrandt fand auf einmal, daß seine Nervenkraft erschöpft war und gab Käsch Weisung, ihn nach Hause zurückzuführen. Ihm fiel ein, daß er vorhin behauptet hatte, an Großstadtverkehr gewöhnt zu sein. Und nun fragte er sich kopfschüttelnd, was er eigentlich damit gemeint hatte. Das Leben auf dem Berliner, Münchener, Wiener, Pariser, Londoner Pflaster? Er mußte lachen, als er daran dachte. Welch ein Unterschied! In den Städten, die er bisher gekannt hatte, waren Leben und Verkehr von strenger Gesetzmäßigkeit beherrscht. In dieser chinesischen Riesenstadt aber herrschte eine Art friedlichen Aufruhrs. Dort der zum Gesetz gewordene vernunftgeleitete Wille der Mehrheit – hier das durch nichts eingeschränkte Belieben jedes einzelnen. Niemand hindert ihn, sich der Hochflut des Verkehrs entgegenzustellen – sie brandet um ihn herum oder spült ihn hinweg – niemand kümmert sich darum.
»Was ist nun richtiger?« fragte sich Wilbrandt, während er langsam zum Hause seines Freundes Hoi-so-ping zurückritt. Aber er kam an seinem Ziel an, bevor er zu einer Entscheidung gekommen war. Vielleicht denkt er noch heute darüber nach.