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Nach einer für Wilbrandt recht beschwerlichen Reise kamen die beiden endlich in Tientsin an. Der Deutsche war mehr tot als lebendig, und kaum war er im Hause des Landsmannes Rixkens angelangt, da warf ein neuer Fieberanfall ihn nieder. Wilbrandt aber war sich klar darüber, daß es sich nicht um einen Rückfall in seine alte Krankheit handelte, sondern nur um eine große Schwäche, dadurch entstanden, daß er sich zu früh den Strapazen dieser langen Reise zu Pferd ausgesetzt hatte.
Seine Meinung erwies sich als richtig. Die sorgsame Pflege im Hause des deutschen Kaufmanns und eine zweckmäßige Ernährung brachten ihn schnell wieder auf die Beine.
In Tientsin herrschte eine schwüle und gedrückte Stimmung. Gerüchte von schlimmen Dingen, die bevorstanden, schwirrten umher. Die Furien der Empörung aller gegen alle lauerten in den Winkeln. Für die Fremden war es gegenwärtig in China wieder einmal äußerst ungemütlich. Nur die Deutschen konnten sich frei und ungehindert bewegen. Sie genossen in allen chinesischen Volkskreisen ein besonderes Ansehen. Das hatte seine ganz besonderen Gründe. Vor dem Kriege hatte Deutschland wie alle anderen Nationen versucht, aus dem unglücklichen »Reiche der Mitte« herauszuholen, was nur zu bekommen war. Im Jahre 1917 ist China auf unablässiges Betreiben der deutschlandfeindlichen Mächte widerwillig in den Krieg eingetreten, verlockt durch allerlei Versprechungen, getrieben durch mehr oder weniger offenkundige Zwangsmaßnahmen. von den den Chinesen gegebenen »feierlichen Zusagen« ist nicht eine einzige erfüllt worden. Deutschland allein hat freiwillig auf alle seine Rechte in China verzichtet. In allen Wirren dieses unglücklichen Landes haben die Deutschen nach dem Weltkrieg eine vollkommene Parteilosigkeit und Zurückhaltung bewahrt, in keiner Weise sich in die ausschließlich chinesischen Angelegenheiten eingemischt. Alles das haben die Chinesen den Deutschen hoch angerechnet. Sie haben die Deutschen als wahre und offene ehrliche Freunde erkannt, hinzukommt, daß die Chinesen eine gewisse Ähnlichkeit in den Schicksalen der beiden Länder China und Deutschland zu erkennen glaubten – eine gewisse Rechtlosigkeit in der Behandlung seitens der anderen Staaten. Alles das hat dazu geführt, daß man die Deutschen sehr schätzte und sie als angenehme Gäste und ehrliche Freunde betrachtete. Die chinesischen Behörden gaben den Deutschen abgestempelte Armbinden, die von allen Chinesen ohne Unterschied der Parteien anerkannt und berücksichtigt wurden.
Auch Heinz Wilbrandt wurde durch Herrn Rixkens mit einer solchen Armbinde versehen; Ben Rubber und Harlington, die zwar keine Deutschen waren, sich aber gleich diesen in China als Gäste betrachteten und sich als wahre Freunde der Bewohner dieses Landes erwiesen, hatten durch die Vermittelung des deutschen Kaufmanns ebenfalls Armbinden zugestellt erhalten und waren darüber nicht wenig erfreut.
Als Wilbrandt endlich wieder gesund war, wurde ihm zu seiner großen Freude ein umfangreicher Brief seines Vaters ausgehändigt. Er zog sich mit dem Schreiben in einen stillen Winkel zurück und vertiefte sich in den Inhalt. Da erfuhr er nun zu seinem nicht geringen Erstaunen, was sich drüben in Deutschland seit seiner Abreise zugetragen hatte. Der alte Herr erzählte von den ferneren Besuchen der beiden Chinesen, die das Kästchen an ihn verkaufen wollten, und von ihrem plötzlichen Ausbleiben, ferner erzählte er von seiner mehrtägigen Haft im Hause des Chinesen Li-chu-ang, und er konnte es offenbar heut noch nicht begreifen, daß ein ehrsamer und angesehener Bürger einer deutschen Großstadt von der Straße weg in ein mitten im Verkehr liegendes Haus verschleppt und hier tagelang festgehalten werden konnte. Li-chu-angs Verschwinden konnte der alte Herr ebenfalls nicht begreifen, aber er fürchtete, daß beide Parteien hinter ihm, dem Sohn Heinz, her seien. Er bat und beschwor seinen Sohn, unverzüglich zurückzukommen, wenn auch unverrichteter Sache – auf alle Fälle aber äußerst vorsichtig zu sein. Im übrigen bekannte er, daß er keinen Groll gegen den geheimnisvollen Li-chu-ang hege, denn dieser habe ihn durch den Kaisersäbel geradezu großartig für die erlittene Gefangenschaft entschädigt. Überhaupt schienen diese Chinesen soweit gar keine üblen Leute zu sein. Auch die beiden Verkäufer, General und Mandarin, seien ihm gegenüber von einer vollendeten Liebenswürdigkeit gewesen und hätten wegen des Verlustes des Kästchens weit mehr ihn als sich selbst bedauert (ein Satz, über den Heinz Wilbrandt still für sich lächeln mußte). Den Schluß des Briefes bildeten erneute Beschwörungen zur Vorsicht, diesmal von der guten alten Mutter stammend.
Dieser Brief wurde am Abend Gegenstand eines Gesprächs, an dem der Hausherr und seine Tochter, der Gast aus Deutschland, Ben Rubber und Harlington teilnahmen.
Ben Rubber triumphierte. »Na, sehen Sie nun, wie recht ich hatte, als ich Ihnen von der Kupfermine erzählte? Wenn ein Chinamann ein vernünftiges Chinesisch spricht, dann versteht ihn Ben Rubber schon. Nur wußte ich nicht mehr genau, war es Gold oder Silber. Nun ist's Kupfer – auch nicht schlecht.«
Heinz Wilbrandt unterließ es, seinen Freund zu berichtigen, sondern nickte ihm nur lächelnd zu. Es handelte sich augenblicklich um Wichtigeres, als den guten Ben wegen seines Chinesisch zu necken.
»Die Vermutung Ihres Vaters, die Leute seien Ihnen nach China gefolgt, trifft das Richtige«, nahm Rixkens das Wort. »Einer von ihnen hat Ihre Spur gefunden, denn er war hier im Hause – Li-chu-ang.«
»Das ist der, dem angeblich die Mine gehört!« rief Wilbrandt.
»Leider war ich nicht zu Hause, als er kam«, berichtete der Kaufmann weiter, »Meine Tochter hat mit ihm gesprochen. Erzähle uns doch mal, Kind!«
»Ja, ich habe mit Li-chu-ang gesprochen«, nahm Helene das Wort. »Er ist ein gebildeter Mann und hat auf mich einen guten Eindruck gemacht – den Eindruck eines Mannes, der von schwerer Not und Sorge bedrückt ist. Er erzählte mir, er sei lange Zeit in Deutschland gewesen und habe mit dem Museumsdirektor Wilbrandt in freundschaftlicher Verbindung gestanden –«
»Das ist unzutreffend«, bemerkte Wilbrandt. »Mein Vater gibt davon eine ganz andere Darstellung.«
»Er berichtete mir weiter, er habe mit Herrn Wilbrandt viele Besprechungen gehabt wegen eines wichtigen Papiers, das sein Eigentum sei und das der Lohn des Herrn Wilbrandt aus Versehen mitgenommen hätte nach China. Der alte Herr habe ihn sehr dringlich gebeten, hinter seinem Sohn herzureisen, teils wegen des besagten Papiers, teils aber auch wegen wichtiger Mitteilungen, die er dem Sohn im Auftrag des Vaters machen müsse, Kurz, er wünschte zu wissen, wo er Sie finden könne. Da mein Vater nicht zu Hause war und ich ohne meinen Vater nicht handeln und nichts verraten wollte, konnte ich nichts anderes tun, als ihn zu bitten, wiederzukommen. Leider hat er das nicht getan.«
»Wie lange ist das her?« fragte Bett Rubber.
»Zehn Tage«, antwortete der Hausherr. »Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, warum Li-chu-ang nicht wiedergekommen ist. Ich finde dafür nur eine Erklärung: er hat auf irgendeine weise erfahren, daß Sie nach Peking abgereist waren und ist Ihnen dorthin gefolgt. Dort muß er dann wohl Ihre Spur nicht wieder gefunden haben, sonst hätten Sie ja wohl etwas von ihm bemerken müssen.«
»Sollte Lui-ping-shen der Mann sein, der den Vater Li-chu-angs um den Plan der Kupfermine gebracht hat? Mein Vater berichtet darüber in seinem Brief. Li-chu-ang hat ihm erzählt, ein Freund seines Vaters habe jenem den Plan gestohlen und das Papier an einen hohen Beamten der Regierung verkauft. Dieser, ein Mann namens Tsin-huang-ti, soll den Plan in der Handschrift des Kon-fu-tse verborgen haben. Aber dieser Tsin-huang-ti hat nach dem Bericht des Li-chu-ang seine Stellung verloren und Selbstmord verübt.«
»Immerhin bestehen allerlei Möglichkeiten«, bemerkte Rixkens, »daß der Zauberkünstler mit dem Verschwinden des Plans in irgendeiner Verbindung steht, denn wenn ich richtig verstanden habe, war in dem Gespräch auf den Tempelstufen davon die Rede.«
»Aber ich weiß aufs bestimmteste, daß dieser Plan sich nicht in dem Kästchen befand!« rief Heinz Wilbrandt. »Ich habe die Handschrift wiederholt in Händen gehabt, mein Vater ebenfalls, und wir haben nichts derartiges gesehen. Und daß das Kästchen selbst irgendwelche verstecke haben sollte, glaube ich nicht. Es besteht aus dünnen schwarzlackierten Holzwänden – –«
»– – und kann mehr Verstecke enthalten, als Sie ahnen«, brummle Ben Rubber. »Jedenfalls haben Sie es auf Geheimnisse nicht untersucht. Die Chinesen sind in solchen Dingen geschickte Künstler. Sie wissen übrigens auch mit geheimen Flüssigkeiten zu schreiben, die nur durch besondere Verfahren wieder sichtbar werden.«
»Ist nicht in dem Brief Ihres Vaters irgendwo die Rede davon, daß jener Li-chu-ang nicht allein ist?« fragte Harlington.
»Doch. Mein Vater schreibt, daß Li-chu-ang einen Bruder hat, der Arzt ist und der sich ebenfalls in jenem Hause aushielt, in dem mein Vater gefangen saß.«
»Dann ist es also durchaus möglich, daß der eine während der letzten Wochen hinter Ihnen hergereist ist, während der andere Sie in Peking sucht.« So vermutete Rixkens.
Alle hielten das für durchaus möglich. Sonderbarerweise dachte keiner daran, ob nicht vielleicht der Bruder des Li-chu-ang um Herrn Rixkens Anwesen schliche, um es zu beobachten.
»Was ist also zu tun?« drängte Wilbrandt.
»Auf nach Peking!« rief Ben Rubber und sprang so stürmisch auf, als müsse die Reise im selben Augenblick angetreten werden.
»Jawohl, zunächst nach Peking«, nickte der Kaufmann.
»Wenn Sie bis übermorgen warten können, reise ich mit Ihnen«, sagte Harlington.
Da alle der Ansicht waren, daß es auf einen Tag mehr oder weniger nicht ankäme, wurde die Abreise auf den übernächsten Tag festgesetzt.
*
Obwohl der Europäer die Angehörigen anderer Rassen untereinander in der Regel nur schwer unterscheiden kann – und obwohl auch Wilbrandt den Eindruck hatte, als sähen alle Chinesen einander außerordentlich ähnlich, fiel es ihm aber doch auf, daß er beim Betreten des Bahnhofs in Tientsin einen Chinesen erblickte, den er bestimmt schon gesehen hatte und der in den gleichen Zug einstieg. Sein erster Gedanke war, der Mann könne zum Personal des Herrn Rixkens gehören. Doch gleich darauf fiel ihm ein, daß Käsch ihn dann ja kennen müsse. Er machte Ben Rubber auf den Mann aufmerksam, doch der Chinese war inzwischen im Nebenabteil verschwunden und bezeigte seinerseits nicht die geringste Neugier. Das begann erst bei den verschiedenen Haltestellen. Hier belauerte er aufmerksam das Abteil, in dem sich die Fremden befanden. Doch niemand von ihnen verließ den Zug. Das geschah erst in Peking. Hier fiel dem Deutschen plötzlich der Chinese wieder ein, den er in Tientsin gesehen hatte – und in der Tat, jener war ebenfalls ausgestiegen, und Wilbrandt bemerkte, daß der Chinese zögerte, den Bahnhof zu verlassen und offenbar die Fremden zuerst hinausgehen lassen wollte. Vor dem Bahnhofsgebäude hatte Wilbrandt Gelegenheit, dem Amerikaner unauffällig ein paar Worte zuzuflüstern. Doch jetzt war der Chinese plötzlich spurlos verschwunden. Und obwohl sie ein paar Minuten warteten, ließ sich der andere nicht wieder sehen. Ben Rubber brachte seinen Freund mit der spöttischen Bemerkung in Harnisch, er sähe mit offenen Augen Gespenster. Ein bißchen verstimmt kamen sie beim Hause Hoi-so-pings an. Keiner ahnte, daß sie vom Bahnhof bis zum Eintritt in das Haus des Chinesen von spähenden Augen verfolgt wurden.
Hoi-so-ping war noch ganz der alte. Er begrüßte die Freunde mit größter Liebenswürdigkeit und war offenbar sehr erleichtert, als er bei ihnen allen die Armbinden sah.
»Ah, allright! Very good!« rief er und tippte mit seinem fetten Zeigefinger auf Ben Rubbers Armzier.
»Ah, so, very good!« grinste der Amerikaner höhnisch. »Ohne diese Abzeichen hätten Sie uns wohl nicht in Ihrem Hause aufgenommen, wie, alter Dickwanst?«
Hoi-so-ping war von diesen Worten keineswegs beleidigt. Mittels eines grausamen Gemisches von englischen und chinesischen Wortbrocken machte er seinen Freunden begreiflich, daß er sie natürlich unter allen Umständen gern in seinem Hause aufgenommen hätte. »Aber mit Armbinden besser, viel besser!« betonte er. »Mit Armbinde alles Deutsche. Deutscher Mann guter Freund von Chinamann. Engländer – nix gute Freund. Amerikaner – auch nix viel besser. Aber deutscher Mann sehr gut, beste Freund von Chinamann – o yes!« So setzte er mit spitzbübischem Lachen den drei auseinander, dem Deutschen, dem Engländer und dem Amerikaner. Der erstere freute sich, die beiden anderen lächelten ein bißchen säuerlich. In ihrem Inneren mochten sie wohl auch nicht mit allen Maßnahmen ihrer Regierungen einverstanden sein.
»Also wie sind zur Zeit die Verhältnisse hier?« fragte Ben Rubber, als sie nach einer reichlichen Mahlzeit mit dem Hausherrn zusammensaßen. Auch Käsch hatte man hinzugezogen, damit er bei der gegenseitigen Verständigung nötigenfalls einzugreifen habe. Der junge Mann kam sich sehr wichtig vor und war entzückt von der Art, mit der diese mächtigen Fremden ihn behandelten. Gewissenhaft übertrug er jeden Satz Hoi-so-pings ins Englische.
»Wissen Sie schon, daß behauptet wird, Doktor Sun-yat-sen sei tot?« Mit dieser Frage begann Hoi-so-ping seine Mitteilungen.
»Das hat man schon ein paarmal behauptet«, sagte Harlington nach einigen Sekunden der Stille. Zu dem Deutschen gewandt, setzte er erklärend hinzu: »Doktor Sun-yat-sen ist der Führer des Proletariats und der ganzen Revolutionsbewegung.«
»Und vermutlich ehemaliger Straßenräuber«, setzte Ben Rubber knurrend hinzu.
»Das weiß ich nicht, es ist möglich«, hob Harlington die Schultern. »Ich vermute –«
»Bitte um Verzeihung«, unterbrach der Hausherr sanft. »Darf ich ein Wort – nur eines – für den verstorbenen Sun-yat-sen sprechen? Die Dinge in der Welt verändern ihr Aussehen, je nachdem man sie betrachtet und seinen Standpunkt verändert. Ein Berg – oder ein Strom – oder ein Baum. Auch ein Mensch, meine Freunde, glauben Sie es mir. Auch Sun-yat-sen. Es ist richtig, daß viele chinesische Heerführer früher Räuber gewesen sind. Aber Sun-yat-sen war ja gar nicht Heerführer, sondern Arzt. Ich weiß nicht, ob er zu irgendeiner Zeit seines Lebens kein guter Mensch gewesen ist. Aber ich weiß, daß er es zuletzt war, als er die Macht hatte. Ich glaube, meine verehrten Freunde, es ist nicht so wichtig, was ein Mensch früher gewesen ist. Viel wichtiger ist, wie Sun-yat-sen am Schluß seines Lebens war. Und da war er ein großer, ein herrlicher Mann, meine verehrten Freunde. Ein Mann, der sich nicht durch alles Gold der Welt zu einem Unrecht bewegen ließ. Ein Mann, der China und die Chinesen über alles liebte. Wir, die wir ihn näher gekannt haben, wir wissen, daß er jederzeit bereit war, für China zu sterben. Und – er ist für China gestorben.«
In den letzten Worten des Chinesen war Erschütterung spürbar. Ben Rubber aber tat in Hoi-so-pings offenkundige Bewegung hinein die rücksichtslose Bemerkung: »Aber Sie sagten doch eben, es würde behauptet, er sei tot. Vielleicht ist das Gerücht falsch. Am Ende lebt er noch.«
Hoi-so-ping richtete seine Augen auf das Gesicht des Amerikaners und alle sahen, daß diese Augen naß waren.
»Sun-yat-sen – ist – tot«, flüsterte er. »Glauben Sie mir, das ist nicht gut für China. Es ist ein schwerer Verlust für unser Land. Oh, meine Freunde –«. Kopfschüttelnd brach er ab und sein Blick irrte verstört umher, als sei er im Begriff gewesen, Dinge zu enthüllen, die ihn an den Strang hätten bringen können. Er schloß seine Augen, kniff die Lippen ein und saß ein paar Sekunden unbeweglich, wie ein Bildnis seines Trösters Buddha. Die anderen warteten mit mehr oder weniger Geduld, daß er weiterspreche. Ben Rubber war der ungeduldigste. Der räusperte sich nach einer kleinen Weile hörbar, und veranlaßte damit seinen dicken Freund, sich zu sammeln, Hoi-so-ping seufzte und sein Blick ging traurig durch die Runde. Und leise fuhr er fort: »Sie wissen, meine verehrten Freunde, daß man mich einen reichen Mann nennt. Die Lehre des Doktors Sun-yat-sen will keine Reichen und keine Armen. Sie will, daß alle Menschen in einem reinlichen Haus wohnen, genug zu essen haben und sich kleiden können, wie es nötig ist. Für diese Lehre und für Doktor Sun-yat-sen, der jetzt tot ist, hätte ich mit Freuden mein Haus und meine Schiffe und meine Warenlager und alles andere hergegeben. Ich will gerne nicht mehr reich sein, damit es keine Arme mehr gibt. Aber –«. Er hob hilflos seine Schultern und schob seine Arme bis zu den Ellenbogen in die Ärmel seines Kaftans hinauf. Es war ein Zeichen, daß er ausgesprochen hatte.
Diesmal hatte auch Ben Rubber Verständnis dafür, daß sein Freund Hoi-so-ping sich in großer innerer Bewegung befand. Er schenkte ihm zwei volle Minuten zur Sammlung und fragte dann: »Und wie stehen die Dinge sonst?«
Hoi-so-ping, der mit geschlossenen Augen gesessen hatte, hob seine Augen und schaute Ben Rubber freundlich, doch zugleich traurig an.
»Man kann es nur unvollkommen schildern, meine verehrten Freunde. Sie wissen, daß sich augenblicklich die beiden Generale Tschang-tso-lin und Wu-pei-fu feindlich gegenüberstehen. Man sagt, der erstere sei vom Geiste Japans erfüllt, der andere von den Interessen Englands und Amerikas. Ob es so ist, kann ich Ihnen mit Bestimmtheit nicht sagen. Wie sehr es möglich ist, das wissen Sie selbst. Man kann von einer Vorherrschaft Englands und Amerikas in China sprechen – und Sie werden sicher verstehen, daß Japan eine solche nicht wünscht. Wir Chinesen wünschen sie ja auch nicht.« Er lächelte die beiden Angelsachsen um Verzeihung bittend an und verbeugte sich so tief, wie es ihm sein Bäuchlein im Sitzen erlaubte. »Denn – nicht wahr – China ist doch eigentlich das Land der Chinesen – unser Land. Und so viele Kämpfe, die in dieser Zeit stattfinden, werden für die Interessen fremder Länder ausgefochten, die uns nichts angehen. Ich sage das so offen, meine verehrten Freunde, damit Sie ein möglichst klares Bild bekommen. Es dürfte Ihnen bekannt sein, daß Tschang-tso-lin sich hinter die Große Mauer in die Mandschurei zurückgezogen hat. Er ist damit beschäftigt, seine Soldaten auszubilden und bereitet sicherlich große Pläne vor. Man vermutet, daß es zwischen seinen Truppen und denen des Generals Wu-pei-fu demnächst zu schweren Kämpfen kommt.«
In das Schweigen, das diese Mitteilungen in dem kleinen Kreise hervorriefen, erklang der leise Ton eines silbernen Glöckleins. Hoi-so-ping erhob sich sofort, murmelte eine Entschuldigung und eilte hinaus. Bald darauf kehrte er zurück – und wen brachte er mit? Ta-pi-kang!
»Guten Tag!« sagte der Ankömmling mit freundlichem Lächeln und nicht anders, als lägen zwischen heute und dem letzten Zusammensein höchstens ein paar Stunden. Der Reihe nach gab er jedem der Anwesenden die Hand. Dann sagte er: »Der Mandarin Li-ping läßt die verehrten Herren bestens grüßen und um baldigen Besuch bitten.«
»Sie waren bei ihm?« fragte Wilbrandt hastig. »In meiner Sache?«
»Ja«, nickte der Student, »ich habe ihm alles berichtet.«
»Und was sagte Li-ping?«
Ta-pi-kang lächelte. »Nun – was sagte er! Er wunderte sich. Sie werden verstehen, daß ein Mann wie Li-ping viele Dinge anders sieht, als Sie. vielleicht darum«, setzte er schnell hinzu, offenbar fürchtend, seine Worte hätten einen verletzenden Beiklang, »weil wir Chinesen zu langsam denken, um so manches zu begreifen, was Ihnen als Europäer wichtig erscheint. Li-ping wundert sich sehr, daß Sie immer noch einem Stück Reispapier nachhetzen, auf das jemand zum Spaß ein Kapitel aus dem ›Ch'un Ch'iu‹ hingemalt hat – das in einem Kästchen liegt, das weit wertvoller ist als das Papier –«
»Es handelt sich um die verletzte Ehre meines Vaters!« fuhr Wilbrandt gereizt auf.
»In der Tat«, verneigte sich der Student. »Ich habe die Ehre gehabt, in Europa studieren zu dürfen, und darum verstehe ich diesen Standpunkt. Li-ping war zwar auch drüben, doch das ist schon so lange her, daß er manches wieder vergessen hat. Ich habe Li-ping begreiflich zu machen gesucht, daß Ihnen äußerst wichtig ist, was ihm eine Spielerei scheint. Und er hat es auch verstanden – wenigstens sagte er so. Li-ping hat Ihnen eine Bescheinigung der chinesischen Regierung in deutscher, englischer und chinesischer Sprache erwirkt, die besagt, daß es sich um eine wertlose Fälschung handelt, deren Verschwinden keinen Verlust bedeutet und der nachzuforschen kein Anlaß vorliegt. Dieses Schriftstück trägt die Siegel der chinesischen Regierung und des deutschen Gesandten. Bitte, hier ist das Papier.«
Heinz Wilbrandt betrachtete das Schriftstück, las den deutschen und englischen Text, sah die Siegel. Und mit einer warmen Aufwallung reichte er dem Chinesen seine Hand.
»Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar!« sagte er herzlich. Und zu seinen Freunden gewendet, fuhr er fort: »Mit diesem Papier in der Hand kann ich nun ruhig nach Deutschland zurückkehren.«
Ben Rubber kniff die Lippen ein und zog finster seine Brauen zusammen. »So – hm – das ist also Ihre Meinung!« knurrte er. »Was mich betrifft, ich würde diese Sache bis zum letzten Sieg durchfechten. Was ist denn dieser Schein anders als die Bestätigung, daß Sie nicht fähig waren, Ihre Absicht zu verwirklichen! Das Kästchen, Sir, das Kästchen müssen Sie in der Hand haben! Sonst ist Ihre Fahrt nichts anderes gewesen als eine große Pleite!«
»Oho, mein lieber Rubber, das ist aber eine sonderbare Auffassung!« rief Wilbrandt lachend. »Pleite, sagen Sie? Und wenn mir diese Reise nicht mehr eingetragen hätte als die Freundschaft mit Ben Rubber, dann hätte sie sich schon reichlich gelohnt.«
»Sie denken wohl, mit Speck fängt man Mäuse?« brummte der Amerikaner. »Ich bin aber keine Maus, Sir! Ich bin mit Ihnen ausgezogen, um Abenteuer zu erleben. Und wenn Sie mich jetzt heimtückisch darum bringen, dann ist das – ist das – eine – jawohl, Sir, das ist es – – –!«
»Aber, bester Freund, so nehmen Sie doch Vernunft an! Sie hören von Mister Ta-pi-kang, daß China über uns lacht. Weil wir einem Phantom nachjagen – einem Spielzeug! Mister Li-ping –«
»Ach was, lassen Sie mich mit Li-ping in Ruhe! Li-ping ist ein Philosoph – und Philosophen sind nicht gescheit! Sie wollen mit dem Wisch da vergnügt nach Deutschland zurückkehren – schön! Aber die beiden Chinesen, der General und der Mandarin – glauben Sie, die gingen still nach Hause, wenn Sie denen den Wisch vor die Nase halten? Wenn Sie das denken, dann kennen Sie die Chinesen noch nicht. Das sind zähe Burschen, sage ich Ihnen.« Und er warf dem ganz unschuldigen Ta-pi-kang einen grimmigen Seitenblick zu.
»Nur, wenn sie im Recht sind, Mister Rubber«, sagte der Student mit einem sanften Lächeln.
»Und was meinen Sie, wie Ihr Vater darüber denkt?« wandte sich Rubber wieder an Wilbrandt. »Glauben Sie, der alte Herr würde den beiden Chinesen kaltblütig die Türe weisen, wenn diese die Handschrift zurückverlangen, ganz gleich, ob sie echt oder gefälscht ist?«
»Sie müßten gewärtig sein, auf Grund ihrer Forderung wegen Fälschung verhaftet zu werden«, bemerkte Harlington.
»Halt, meine Herren!« sagte Wilbrandt ernst, »Mister Rubber hat recht, wein Vater würde trotz dieses Scheines sich nie darüber beruhigen können, daß er nicht imstande ist, den beiden Chinesen ihr Eigentum zurückzugeben.«
»Das andere Chinesen ihm gestohlen haben – vermutlich sogar in gegenseitigem Einverständnis miteinander«, wandte Harlington ein.
»Für meinen Vater wird dieses Bedenken nicht von Belang sein«, sagte Wilbrandt kopfschüttelnd.
»Ganz abgesehen von dem Minenplan«, spielte Rubber seinen, wie er meinte, dicksten Trumpf aus.
Dazu aber machte Heinz Wilbrandt nur eine matte Bewegung der Ablehnung. »Ach Gott, der Minenplan! Erstens glaube ich gar nicht daran – und zweitens würde ich den Plan natürlich nicht behalten, wenn ich ihn fände.«
»Sondern?« rief Ben Rubber.
»Nun, das ist doch einfach – ich würde ihn seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben.«
»Sie sind ja ein feiner Geschäftsmann!« platzte der Amerikaner in heller Entrüstung heraus, »hören Sie, daraus wird nichts! Finden wir den Plan, dann werden wir feststellen, ob die Mine was wert ist. Und ist sie das, dann werden Sie den beiden Chinesen den Kaufpreis für das Kästchen und seinen gesamten Inhalt geben und die Mine ausbeuten. Das ist nämlich Ihr unbestreitbares Recht!«
»Mein lieber Mister Rubber«, sagte der Deutsche lächelnd, »wir sind ja gewiß gute Freunde, aber in diesem Stück gehen unsere Meinungen auseinander. Sie dürfen nicht vergessen, daß es in dieser Angelegenheit einen Menschen gibt, dem anscheinend Unrecht geschehen ist, nämlich Li-chu-ang. Dessen Rechte gehen vor. Und ich gebe Ihnen die heilige Versicherung: sollte dieser Plan jemals in meine Hände gelangen, dann bekommt ihn kein anderer als Li-chu-ang. Das ist auch die Meinung meines Vaters. Und daran gibt's nichts zu rütteln.«
»Meinetwegen!« brummte Ben Rubber und machte ein Gesicht, als sei er wütend. Er war ein bißchen rot geworden und beschäftigte sich auffallend emsig mit seiner Pfeife, Wilbrandt aber sah, wie es in seinen Mienen zuckte. Und plötzlich brach der gute Ben in ein beinahe kindlich fröhliches Gelächter aus. »Ein komischer Kauz sind Sie, Mister Wilbrandt, hol mich dieser und jener. Aber verwünscht anständig, muß man schon sagen. Werden aber nie ein reicher Mann werden.«
»Ist auch nicht meines Lebens Ziel«, erwiderte der Deutsche und schlug Ben freundschaftlich seine Hand auf die Schulter.
Damit war das allgemeine Gespräch zu Ende. Die kleine Gesellschaft begab sich in den Garten, wo Tabak in den verschiedensten Formen und ein märchenhaft guter Kaffee in winzigen Schälchen gereicht wurden. Ta-pi-kang trat zu Heinz Wilbrandt, machte vor ihm eine auffallend tiefe Verbeugung und sagte ernst, mit einem merkwürdig gespannten Blick in die Augen des Deutschen: »Sir, ich zweifle nicht im mindesten, daß Sie den bewußten Plan tatsächlich in die Hand seines Eigentümers zurücklegen würden.«
Heinz Wilbrandt betrachtete den Chinesen mit großen Augen.
»Aber mein lieber Mister Ta-pi-kang, Sie setzen mich in Erstaunen. Sie behaupten zwar, Sie zweifelten nicht – aber Ihre Augen verraten mir, daß Sie innerlich sehr zweifeln.«
»Sie würden es tun, obwohl der rechtmäßige Eigentümer ein Chinese ist?« fragte der Student mit leiser Stimme.
»Natürlich! Es kommt gar nicht darauf an, wer oder was der rechtmäßige Eigentümer zufällig ist.«
»Ich bitte Sie dringend, mir nicht böse zu sein«, bat Ta-pi-kang in äußerster Verlegenheit. »Nichts in der Welt hat mir so fern gelegen als die Absicht, Sie zu beleidigen. Uns Chinesen ist millionenfaches Unrecht geschehen. Der Nation wie den einzelnen. Unsere Rechte sind millionenfach mit Füßen getreten worden. Sie werden verstehen, wie uns jungen Chinesen, die wir eine moderne Bildung genossen haben, dieses Unrecht in der Seele brennt. Können Sie es sich vorstellen, wie wohl es meinen Ohren tut, zu hören, daß ein fremder Weißer das Recht eines Chinesen so hoch achtet, daß er es aus freiem Willen und ohne Zwang gelten läßt? Das klingt so in mir wider, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, es noch einmal zu hören, als Beweis, daß es Ihnen ernst gemeint ist.«
»Mein Gott, das ist ja unerträglich!« murmelte der Deutsche erschüttert. »Hochgeschätzter Mister Ta-pi-kang, glauben Sie mir, daß ich in meiner Gesinnung ganz auf Ihrer Seite stehe.«
»Ich glaube es und bin beglückt dadurch«, sagte der junge Chinese, und seine samtbraunen Augen schimmerten feucht. »Ich beglückwünsche mich, daß ich in Deutschland war und die Deutschen kennen gelernt habe. Mein ganzes ferneres Leben wird der Aufgabe geweiht sein, die falschen Vorstellungen meiner Landsleute von den Fremden auszulöschen. Wenigstens die Deutschen sollen als unsere ehrlichen und guten Freunde anerkannt werden. Ich habe für Sie ein solches Gefühl der Hochachtung und Verehrung, daß ich glücklich wäre, Ihre Hand drücken zu dürfen.«
Dieses Glück ließ Heinz Wilbrandt ihm in reichstem Maße zukommen. Die Augen des jungen Chinesen strahlten vor Befriedigung. Die beiden schauten sich gegenseitig an, lächelnd, voll Zuneigung und wirklicher Hochschätzung – ohne aber zu ahnen, daß das Schicksal schon daran war, einen Freundschaftsbund zwischen ihnen zu schmieden, der durch nichts in der Welt wieder auseinandergerissen werden konnte.