Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6.

Da Sergey Iwanowitsch nicht wußte, wann er Moskau würde verlassen können, hatte er nicht an seinen Bruder telegraphiert, daß man ihn abhole.

Lewin war nicht daheim, als Katawasoff und Sergey Iwanowitsch in einem kleinen Tarantaß, der auf der Station gemietet worden war, staubbedeckt wie Araber um zwölf Uhr mittags vor der Freitreppe des Herrenhauses von Pokrowskoje vorfuhren.

Kity, welche mit ihrem Vater und der Schwester auf dem Balkon gesessen hatte, erkannte den Schwager und eilte hinunter, ihn zu bewillkommen.

»Wie unrecht von euch, uns nicht Nachricht zu geben,« sagte sie Sergey Iwanowitsch die Hand reichend und ihm die Stirn darbietend.

»Wir sind ganz wohlbehalten hierher gelangt und haben euch nicht erst Umstände gemacht,« antwortete Sergey Iwanowitsch. »Ich bin so voll Staub, daß ich mich fürchte, jemand anzurühren. Ich war auch so beschäftigt, daß ich nicht einmal wußte, wann ich mich würde losmachen können. Aber ihr haltet es nach altgewohnter Weise,« lächelte er, »ihr freut euch eures stillen Glückes fern von Zeitläuften in eurem stillen Heim. Da hat sich auch mein Freund Fjodor Wasiljewitsch endlich mit aufgemacht.«

»Ich bin indessen kein Neger, sondern werde mich waschen – und dann einem Menschen ähnlich sehen,« sagte Katawasoff mit seinem gewohnten Humor, einen Händedruck wechselnd und mit seinen schimmernden Zähnen in dem geschwärzten Gesicht eigentümlich lächelnd.

»Mein Konstantin wird sich sehr freuen. Er ist nach dem Vorwerk hinaus und muß bald kommen.«

»Er beschäftigt sich nur mit der Landwirtschaft; so macht man es eben hier,« sagte Katawasoff, »bei uns in der Stadt aber ist außer dem serbischen Kriege auch nichts weiter zu sehen. Wie geht es denn meinem Freunde? Was macht er? Ein wenig Sonderling, nicht?« –

»Nun, ja, ein wenig;« antwortete Kity etwas verlegen werdend, mit einem Blick auf Sergey Iwanowitsch, »doch ich will nach ihm schicken. Auch Papa ist bei uns auf Besuch. Er ist erst unlängst aus dem Ausland angekommen.«

Nachdem Kity befohlen hatte, nach Lewin zu schicken, die staubbedeckten Gäste zur Toilette zu führen, den einen in das Kabinett, den anderen in Dollys ehemaliges Zimmer, und ein Frühstück für sie zu servieren, eilte sie, wieder in dem Vollbesitz hurtiger Beweglichkeit, dessen sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft beraubt gewesen war, auf den Balkon hinauf.

»Es ist Sergey Iwanowitsch und Katawasoff, der Professor,« sagte sie.

»O weh,« sagte der Fürst.

»Er ist aber sehr liebenswürdig, Papa, und Konstantin hat ihn sehr lieb,« sagte Kity lächelnd, ihm gleichsam zuredend, indem sie den Ausdruck von Ironie auf dem Gesicht des Vaters bemerkte.

»Nun, meinetwegen.«

»Geh doch zu ihnen Herzchen,« wandte sich Kity zu ihrer Schwester, »und unterhalte sie. Sie haben Stefan auf der Station gesehen, er befindet sich wohl. Ich aber will zu Mita laufen. Wie unangenehm aber, ich habe seit dem Thee nicht wieder angelegt. Der Kleine wird jetzt wach geworden sein und wahrscheinlich schreien,« und mit schnellen Schritten ging sie, den Andrang der Milch verspürend, nach der Kinderstube.

Sie hatte in der That den Andrang der Milch nicht bloß vermutet – sie legte das Kind noch an – sondern kannte an dem Andrang der Milch bei ihr die Zeit des Bedürfnisses bei demselben genau.

Sie wußte, daß der Kleine schrie, noch bevor sie zur Kinderstube gelangt war. Und wirklich schrie er. Sie vernahm seine Stimme und beschleunigte ihren Schritt, aber je schneller sie ging, um so lauter schrie das Kind. Seine Stimme war gut, gesund, nur hungrig und ungeduldig.

»Schreit es schon lange?« frug Kity eilig die Kindermuhme, sich auf einen Stuhl setzend und zum Anlegen vorbereitend. »Gebt es schnell her. Ach, Muhme, wie langweilig Ihr doch seid; nun, bindet doch das Häubchen später!«

Das Kind zappelte schreiend vor Gier.

»Das geht aber nicht, Matuschka,« sagte Agathe Michailowna, die fast stets in der Kinderstube zugegen war. Man muß es hübsch ordentlich putzen;« »Eia, eia«, sang sie über dem Kinde, ohne von der Mutter Notiz zu nehmen.

Die Kinderfrau trug das Kind zu der Mutter. Agathe Michailowna folgte ihm mit vor Zärtlichkeit leuchtenden Zügen.

»Es weiß es ja, er weiß es; glaubt mir bei Gott, Matuschka Katharina Aleksandrowna, er hat mich erkannt!« rief Agathe Michailowna dem Kinde zu.

Doch Kity hörte ihre Worte nicht. Ihre Ungeduld war ebenso hoch gestiegen, wie die des Kindes, und vor Ungeduld wollte die Sache lange nicht von statten gehen. Das Kind faßte nicht, wo es fassen sollte und wurde ungebärdig.

Endlich aber, nach einem verzweifelten, erstickten Schrei und hohlklingenden Schmatzen war es gelungen, und Mutter wie Kind fühlten sich gleichzeitig befriedigt und wurden still.

»Er ist doch ganz in Schweiß gebadet, der arme Kleine,« sprach Kity, das Kind befühlend. »Weshalb denkt Ihr denn, daß das Kind euch kennt?« fügte sie hinzu, seitwärts auf die verschmitzt, wie ihr schien, unter dem emporgerückten Häubchen hervorschauenden Äuglein des Kindes, die taktmäßig schwellenden Bäckchen und sein Ärmchen mit der roten Hand blickend, mit dem es kreisende Bewegungen machte. »Kann nicht sein! Wenn es schon jemand erkännte, so müßte es mich erkennen,« sagte Kity auf die Versicherung Agathe Michailownas hin und lächelte.

Sie lächelte darüber, daß sie, wenn sie auch sagte, es könne noch niemand erkennen, in ihrem Herzen wußte, es kenne nicht nur Agathe Michailowna, sondern wisse und verstehe alles, wisse und verstehe noch mehr von Dingen, die niemand kenne, und die nur sie, die Mutter selbst, nur dank dem Kinde kennen lernte und begriff. Für Agathe Michailowna, die Kinderfrau, den Onkel und selbst ihren Vater war der kleine Mitja nur ein lebendiges Wesen, welches für sich lediglich materielle Pflege verlangte, aber für die Mutter war es schon längst ein Geschöpf mit Charakter, in dem sich bereits eine ganze Geschichte seelischer Beziehungen abgespielt hatte.

»Er erwacht, gebe Gott, daß Ihr es selbst seht! Wenn ich es so mache, glänzt er nur so auf, der Liebling. Er glänzt so auf wie der helle Tag,« sprach Agathe Michailowna.

»Nun gut, gut; wir werden ja dann sehen,« flüsterte Kity, »geht jetzt; der Kleine schläft ein.«


 << zurück weiter >>