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10.

Solange Lewin darüber nachdachte, was er sei und wozu er lebe, fand er keine Antwort und geriet in Verzweiflung, doch als er aufgehört hatte, sich selbst darnach zu fragen, erfuhr er gewissermaßen, was er sei und wozu er lebte, weil er fleißig und zweckmäßig thätig war und lebte. Gerade in dieser jüngsten Zeit hatte er bei weitem konsequenter und zweckbewußter, als früher gelebt.

Im Anfang des Juli aufs Dorf zurückgekehrt, widmete er sich wieder seinen gewöhnlichen Arbeiten. Die Landwirtschaft, die Beziehungen zu den Bauern und Nachbarn, die Hauswirtschaft, die Angelegenheiten seines Bruders und der Schwester, die in seinen Händen lagen, sein Verhältnis zu den Verwandten, zu seinem Weibe, die Sorge um sein Kind, die ihm neue Bienenjagd, der er sich seit dem heurigen Frühling gewidmet hatte, alles das nahm seine Zeit in Anspruch.

Diese Beschäftigungen interessierten ihn nicht deshalb, weil er sie vor sich selbst mit gewissen allgemeinen Anschauungen rechtfertigen konnte, so wie er dies früher gethan hatte, sondern im Gegenteil hatte er jetzt, wo er einerseits durch das Mißlingen seiner einstigen Unternehmungen für das allgemeine Wohl ernüchtert worden, andererseits von seinen Ideen und der Menge der Geschäfte viel zu sehr in Anspruch genommen war, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, alle Gedanken über das allgemeine Wohl fahren lassen, und diese Dinge interessierten ihn nur, wie ihm schien, deshalb, weil er eben thun mußte, was er that – weil er nicht anders konnte. Wenn er sich früher bemühte, etwas zu thun (dies hatte fast von seiner Kindheit auf angefangen und sich bis zu seiner vollen Mannbarkeit mehr und mehr entwickelt) was eine Wohlthat für jedermann, für die Menschheit, für Rußland, für das ganze Dorf gewesen wäre – so hatte er bemerkt, daß das Nachdenken darüber ihm angenehm, die Thätigkeit selbst aber stets eine nicht damit harmonierende gewesen war; es hatte die volle Zuversicht dazu, daß die Unternehmung wirklich notwendig sei gefehlt, und die Wirksamkeit selbst, die ihm anfangs so erhaben erschienen war, schwand, immer mehr und mehr abnehmend, in ein Nichts zusammen. Jetzt hingegen, wo er verheiratet war und sein Leben für sich selbst mehr und mehr mit bestimmten Grenzen zu umziehen begonnen hatte, empfand er, obwohl er keine Freude mehr bei dem Gedanken an seine Thätigkeit fühlte, die Überzeugung, daß diese Thätigkeit eine notwendige sei, erkannte er, daß sie weit ersprießlicher, als sie früher war, und größer und größer werde.

Jetzt drang er, gleichsam wider seinen Willen, immer tiefer und tiefer in die Erde ein, wie ein Pflug, so daß er gar nicht wieder heraus konnte, ohne die Furchen aufzureißen.

Seiner Familie zu leben, so wie dies Vater und Mutter gewohnt gewesen waren, das heißt, unter den nämlichen Grundlagen der Bildung und Erziehung der Kinder – war ohne Zweifel die Aufgabe. Dies war ebenso notwendig, wie das Essen, wenn man Appetit hat, und zu diesem Zwecke nun war es ebenso notwendig, wie die Bereitung des Essens, das wirtschaftliche Getriebe in Pokrovskoje so zu leiten, daß Einkünfte flossen.

Ebenso sicher, wie man eine Schuld zurückzahlen muß, war es erforderlich, das angestammte Land immer in dem nämlichen Zustande zu erhalten, damit der Sohn, der das Erbe einmal empfing, dem Vater ebenso Dank wisse, wie Lewin seinem Vater für das, was derselbe gebaut und gepflanzt hatte. Hierzu aber war erforderlich, daß kein Boden mehr verpachtet wurde, sondern man diesen selbst bewirtschaftete, Vieh züchtete, die Felder düngte und Waldungen anlegte.

Es war ihm unmöglich, die Führung der Geschäfte für Sergey Iwanowitsch und seine Schwester und alle Bauern, die gewohnt waren, sich Rats bei ihm zu erholen, aufzugeben, ebenso wie man ein Kind fortwerfen kann, welches man schon auf den Armen hielt. Es galt, für die Bequemlichkeit der eingeladenen Schwägerin mit ihren Kindern zu sorgen, des Weibes mit dem eigenen Kinde, und er mußte auch wenigstens einen kleinen Teil des Tages bei ihnen weilen.

Alles das, zusammen mit der Jagd auf Wild und Bienen, füllte für Lewin ein Leben aus, welches für ihn selbst keinen Sinn mehr hatte, sobald er darüber nachdachte.

Wenn aber Lewin recht gut wußte, was er zu thun habe, so wußte er auch ebenso gut, wie er zu handeln habe und Welches von zwei Geschäften das wichtigere sei. Er wußte, daß er die Arbeiter so billig als möglich mieten müsse, doch sie auf eine Schuldverschreibung annehmen, indem er ihnen Vorschuß gab, war noch billiger; wie viel sie wert waren, brauchte nicht gegeben zu werden, was auch noch vorteilhaft war. Bei Futtermangel konnte er den Bauern Stroh verkaufen, wenn sie ihn dabei auch jammerten, der Gasthof und die Branntweinschenke aber mußten, obwohl sie Einkünfte brachten, beseitigt werden. Gegen das Holzhauen mu0te man so streng wie möglich vorgehen, für vertriebenes Vieh hingegen sollte keine Strafe erhoben werden. Obwohl dies freilich die Karaulschtschiks erbitterte und die Furcht verringerte, mußte man das Vieh laufen lassen.

Dem Peter, welcher an einen Wucherer zehn Prozent monatlich zahlte, mußte er Geld borgen, um ihn davon zu befreien, aber deshalb brauchte er den Bauern noch nicht den Obrok zu erlassen oder den säumigen Zahlern Frist zu bewilligen. Man konnte es dem Verwalter nicht hingehen lassen, daß eine kleine Wiese nicht gemäht wurde und das Gras darauf ungenützt verkam, aber man brauchte wieder nicht die achtzig Desjatinen zu mähen, auf denen junger Wald angepflanzt stand. Man brauchte nicht dem Arbeiter zu verzeihen, der unter der Arbeit nach Hause gelaufen war, weil sein Vater starb – so leid ihm das auch that – und mußte ihn dafür billiger für die kostspieligen Monate ansetzen, in denen es nichts zu thun gab. Aber man mußte gleichwohl den Alten, die zu nichts mehr zu brauchen waren, einen Monatsauszug geben.

Lewin wußte wohl, daß er bei seiner Rückkehr nach Hause vor allem zu seiner Frau gehen mußte, wenn diese unwohl war, aber die Bauern, die schon seit drei Stunden auf ihn gewartet hatten, konnten noch langer warten. Er wußte auch, daß er bei allem Vergnügen, welches er bei dem Einfangen eines Bienenschwarms hatte, sich dieses Vergnügens begeben und es dem Alten überlassen mußte, in seiner Abwesenheit den Schwärm zu fangen, indem er zu den Bauern ging, die ihn im Bienengarten gefunden hatten, um sich zu besprechen.

Mochte er damit gut oder schlecht handeln, er wußte es nicht, und würde jetzt nicht nur nicht den Beweis dafür angetreten, sondern vielmehr alle Gespräche und Gedanken darüber vermieden haben.

Die Grübeleien versetzten ihn in Zweifel und hinderten ihn, zu sehen, was er sehen mußte, oder was nicht. Indem er jedoch nicht mehr dachte, sondern lebte, fühlte er in seiner Seele die stete Gegenwart eines unfehlbaren Richters, der entschied, welche von zwei möglichen Handlungen die bessere und welche die schlechtere war, und sobald er dann nicht so handelte, wie es nötig war, fühlte er dies sogleich.

So lebte er denn ohne die Möglichkeit einer Erkenntnis dessen, zu sehen, was er sei und wozu er auf der Welt lebe, gequält von dieser Unkenntnis bis zu einem Grade, daß er den Selbstmord fürchtete und sich doch zugleich damit fest einen sicheren Weg durch das Leben bahnend.


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