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Zehntes Kapitel

In der Nacht nach ihrer Verurteilung hatte die Maslow, die vor Ermüdung zusammenbrach, in einem wahren Bleischlummer gelegen; in der zweiten Nacht dagegen konnte sie nicht schlafen. Sie wachte allein in dem ganzen Saale, blieb mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett liegen und grübelte.

Sie dachte daran, daß sie um keinen Preis der Welt sich mit einem Sträfling verheiraten würde, wenn sie erst auf der Insel Sachalin wäre, wohin man sie, wie man ihr sagte, zweifellos bringen würde. Sie wollte es bestimmt so einrichten, daß das nicht geschah, und versuchen, sich mit einem Inspektor oder Sekretär oder auch nur mit einem Aufseher zu verheiraten. »All diese Leute sind leicht zu verführen,« sagte sie sich. »Wenn ich nur nicht zu sehr abmagere, denn dann wäre ich verloren.«

Sie erinnerte sich, wie die Verteidiger, die Geschworenen, die Richter sie angeblickt und wie alle Männer sie auf dem Wege durch die Stadt mit lüsternen Augen angeschaut. Sie erinnerte sich, wie ihr ihre Freundin Klara, die sie im Gefängnis besucht, erzählt, ein Student, ihr »Lieblingskunde«, wäre untröstlich, daß sie nicht mehr bei Frau Kitajeff wäre. Sie dachte an alle Männer, die sie geliebt hatte, an alle, nur nicht an Nechludoff.

An ihre Kindheit und ihre Jugend, vor allem aber an ihre Liebe zu Nechludoff dachte sie niemals. Das waren für sie zu peinliche Erinnerungen, die sie irgendwo in den tiefsten Grund ihres Herzens versenkt hatte, um nicht mehr daran zu rühren. Selbst im Traume sah sie Nechludoff niemals wieder. Wenn sie ihn im Schwurgerichtssaal nicht erkannt, so kam das nicht allein daher, daß das Alter ihn verändert hatte, daß er einen Vollbart trug, sein Schnurrbart lang gewachsen und seine Haare spärlicher geworden waren; trotz alledem hätte sie ihn erkannt, hätte sie sich nicht angewöhnt, niemals an ihn zu denken. Diese Gewohnheit hatte in der schrecklichen, düsteren Nacht begonnen, da Nechludoff, als er aus dem Kriege zurückkehrte, am Hause seiner Tanten vorübergekommen war, ohne dasselbe zu betreten.

Katuscha wußte damals schon, daß sie Mutter wurde, doch so lange sie gehofft hatte, Nechludoff wiederzusehen, so lange hatte ihr der Gedanke an das Kind nicht nur keine Sorgen bereitet, sondern sie war sogar manchmal ganz fröhlich und gerührt darüber.

Die beiden alten Tanten, welche wußten, Nechludoff würde an ihrem Hause vorbeikommen, hatten ihn gebeten, bei ihnen abzusteigen, doch er hatte telegraphisch geantwortet, er könne sich nicht aufhalten, sondern müsse so schnell wie möglich in St. Petersburg sein. Sofort hatte Katuscha den Entschluß gefaßt, nach dem Bahnhof zu laufen, um ihn bei der Durchfahrt wiederzusehen.

Der Zug fuhr bei Nacht, um zwei Uhr, in den Bahnhof. Katuscha hatte, nachdem sie ihre Herrinnen zu Bett gebracht, große Stiefel angezogen, ein Tuch um den Kopf genommen und war in Begleitung der Tochter der Köchin, eines Mädchens von zehn Jahren, fortgegangen.

Die Nacht war schwarz und kalt. Bald begann der Regen in dichten Tropfen zu fallen, bald hörte er wieder auf. Auf den Feldern konnte man den Weg noch unterscheiden, doch im Gehölz herrschte tiefe Finsternis, so daß Katuscha, obwohl sie den Weg ganz genau kannte, sich fast verirrt hätte; infolgedessen kam sie erst spät zu der kleinen Station, als der Zug schon da war.

Sie stürzte auf den Perron und erkannte Nechludoff, der am Fenster eines Waggons erster Klasse saß, sofort. Der Waggon war hell erleuchtet. Auf den Sammetbänken saßen zwei Offiziere und spielten Karten, während er ihnen lächelnd zusah.

Sobald sie ihn bemerkte, wollte das junge Mädchen auf die Plattform des Wagens klettern und ihn anrufen; doch in demselben Augenblick pfiff die Maschine, und die Waggons setzten sich langsam in Bewegung. Der Zugführer hatte Katuscha heruntergejagt, bevor er selbst wieder in den Waggon stieg, und so sah sich das junge Mädchen wieder auf dem Perron, wahrend der Waggon erster Klasse schon an ihr vorübergefahren war. Sie war ihm nachgelaufen, um ihn einzuholen; doch der Zug fuhr schneller; sie sah die Wagen zweiter Klasse, dann die dritter Klasse, und endlich den letzten Wagen mit seiner roten Laterne vorübergleiten. Am Ende des Perrons angelangt, war sie den Schienenweg weitergelaufen. Der Wind, der heftig blies, hatte ihr das Tuch vom Kopfe gerissen, und sie lief mit wirren Haaren, während sie bei jedem Schritte in die Schmutzlachen einsank.

»Tantchen Katuscha,« rief die Kleine, die hinter ihr dreinlief, »dein Tuch ist heruntergefallen!«

Von diesem Schrei erwachend, war Katuscha endlich stehengeblieben und hatte plötzlich eine unendliche Leere empfunden.

»Da sitzt er in diesem warmen Waggon in einem Sammetsessel und lächelt und amüsiert sich,« sagte sie sich, »und ich stehe hier allein in Wind und Wetter, in der dunklen Nacht!« Sie hatte sich auf die Erde gesetzt und war in so lautes Schluchzen ausgebrochen, daß das kleine Mädchen vor Schreck nicht wußte, was sie ihr zum Troste sagen sollte.

»Tantchen,« bat die Kleine, »wir wollen gehen, komm' schnell nach Hause!«

Doch Katuscha blieb in Sturm und Regen sitzen. »Ein Zug wird vorüberfahren; ich werde mich auf die Schienen legen, und alles wird vorüber sein!« Schon wollte sie diese Absicht ausführen, als das Kind, das sie unterm Herzen trug, zu zittern begann, und auf der Stelle beruhigte sich ihre Verzweiflung. Alles, was sie noch kurz vorher mit Angst erfüllt, das Gefühl, unmöglich weiter leben zu können, ihr Haß gegen Nechludoff, ihr Verlangen, sich an ihm zu rächen, indem sie sich tötete, alle diese bösen Gedanken waren verschwunden. Sie war aufgestanden, hatte ihr Tuch wieder umgebunden und war nach Hause zurückgekehrt.

Aus jener Nacht stammte die vollständige Umwälzung ihrer Seele; damals hatte sie angefangen, das zu werden, was sie jetzt geworden war. In jener Nacht hatte sie aufgehört, an Gott zu glauben, an den sie bis dahin geglaubt, und hatte gedacht, auch die andern glaubten an ihn; doch in jener Nacht hatte sie sich gesagt, es gebe keinen Gott, niemand glaube an ihn, und die, die von Gott und seinen Gesetzen sprächen, hätten keine andere Absicht, als sie zu täuschen. Der Mann, den sie liebte und der auch sie geliebt, der sie verführt und verlassen, war noch der beste von allen. Die andern waren noch schlimmer! Alles, was Katuscha in der Folge zugestoßen war, hatte nur dazu beigetragen, sie in dieser Ueberzeugung zu bestärken. Nechludoffs alte Tanten, diese frömmlerischen alten Weiber, hatten sie an dem Tage fortgejagt, da sie nicht mehr im stande war, so viel wie früher zu arbeiten. Von verschiedenen Personen, mit denen sie zu thun gehabt, hatten die einen – vor allem die Frauen – nur eine Ware, mit der sie Geld verdienen konnten, die Männer, von dem Stanovoj bis zu den Gefängnisschließern, nur die Befriedigung ihrer sinnlichen Lüste in ihr gesehen. Niemand in der Welt kümmerte sich um etwas anderes, als um die Befriedigung seiner Lüste. Das hatte ihr namentlich der alte Schriftsteller begreiflich gemacht, dessen Geliebte sie einst gewesen war; er hatte ihr offen heraus erklärt, die Befriedigung der sinnlichen Lüste wäre die einzige Klugheit, die einzige Schönheit des Lebens.

Jeder in der Welt lebte nur für sich, und alles, was man von Gott und dem Guten sprach, war nur Schwindel! Das dachte die Maslow, und wenn sich ihr zufällig die Frage aufdrängte, warum alles in der Welt so schlecht eingerichtet wäre und die Menschen sich nur gegenseitig quälten, anstatt das Leben in Ruhe zu genießen, dann drängte sie diese lästige Frage schnell zurück. Eine Cigarette, ein Glas Branntwein, und sie fühlte sich wieder vollständig beruhigt.


Der folgende Tag war ein Sonntag. Um fünf Uhr morgens, sobald der Pfiff des Wächters im Gange des Gefängnisses ertönte, weckte die Korablewa ihre Nachbarin, die erst gegen Morgen hatte einschlafen können.

»Zwangsarbeit!« sagte sich die Maslow entsetzt, während sie sich die Augen rieb und unwillkürlich die stinkende Pestluft des Saales einatmete. Sie wäre gern wieder eingeschlafen, um sich von neuem in das Reich der Bewußtlosigkeit zu flüchten, doch die Gewohnheit und die Furcht hatten den Schlaf verjagt, und so setzte sie sich denn in ihrem Bette auf, ließ die Füße herunterhängen und fing an, sich umzusehen.

Sämmtliche Weiber waren schon wach, nur der kleine Junge und das Mädchen schliefen noch. Ihre Mutter zog vorsichtig an dem Kittel, auf dem sie lagen. Die wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilte Frau breitete vor dem Ofen Strohwische aus, die als Windeln für den Säugling dienten, während dieser auf Fenitschkas Armen zappelte, weinte und schrie, ohne daß die zärtlichen Worte der jungen Frau ihn zu beruhigen vermochten.

Die Schwindsüchtige hatte mit blutunterlaufenem Gesicht, während sie ihre Brust mit beiden Händen hielt, ihren Morgenanfall, und stieß in den Zwischenpausen tiefe Seufzer aus, die wie Schluchzen klangen. Die Rothaarige blieb auf dem Rücken liegen und zeigte auf dem Bett ihre dicken, nackten Beine; dabei erzählte sie mit lauter, heiterer Stimme einen verwickelten Traum, den sie eben gehabt hatte. Das alte bucklige Weib stand vor dem Heiligenbild, murmelte immer dieselben Worte und schlug, sich tief verneigend, das Kreuz. Die Tochter des Kirchendieners hatte sich auf ihr Bett gesetzt und starrte mit ihren großen, von der Schlaflosigkeit erschöpften Augen vor sich hin, während die »Schönheit« ihre fettigen, schwarzen Haare über ihre Finger rollte.

Schwere Männerschritte ließen sich auf dem Gange hören, die Thür öffnete sich, und zwei Gefangene traten ein, zwei Männer mit mürrischer, brummiger Miene, die graue Leinwandjacken und graue, bis über die Kniee hochgekrempelte Hosen trugen. Sie hoben den stinkenden Nachteimer auf und trugen ihn auf ihren Schultern fort. Die Weiber traten eine nach der andern in den Korridor, um sich an der Wasserleitung zu waschen. Die Rothaarige zankte sich, während sie darauf wartete, daß die Reihe an sie kam, mit einer andern Frau aus einem Nebensaal, und von neuem hörte man Schimpfworte, Geschrei und Beleidigungen.

»Du hast dir wohl vorgenommen, ins Karzer zu kommen?« rief der Aufseher, näherte sich der Rothaarigen und versetzte ihr einen so heftigen Schlag auf den Rücken, daß man es auf dem ganzen Korridor hören konnte.

»Ich will deine Stimme nicht mehr hören,« fuhr er, sich entfernend, fort.

»Der Alte hat wirklich eine kräftige Faust,« sagte die Rothaarige, ohne sich über diese etwas schroffe Liebkosung aufzuregen.

»Und beeilt euch,« fuhr der Aufseher fort, »es ist Zeit zur Messe!«

Die Maslow hatte sich noch nicht die Haare gemacht, als der stellvertretende Direktor mit einem Register in der Hand eintrat.

»Aufstellen zum Appell,« rief der Aufseher.

Aus den andern Sälen kam andere Weiber, und alle Gefangenen stellten sich in zwei Reihen den Korridor entlang auf, wobei die aus der zweiten Reihe die Hände auf die Schultern der vor ihnen stehenden Weibern legen mußten.

Der Offizier zählte sie, rief ihre Namen auf und entfernte sich dann mit seinem Register.

Einige Augenblicke später zeigte sich die Aufseherin, die die Gefangenen nach der Messe führen mußte. Die Maslow und die Fenitschka standen in der Mitte der Kolonne, die aus mehr als hundert Frauen gebildet wurde, und alle trugen das weiße Gefängniskleid mit den weißen Kopftüchern. Nur hier und da sah man einzelne Bäuerinnen, die nach der Mode ihrer Dörfer gekleidet waren; das waren die Frauen der zur Zwangsarbeit verurteilten Verbrecher, denen man gestattet hatte, das Schicksal ihrer Männer zu teilen.

Die lange Kolonne füllte die ganze Treppe aus, und man hörte das Klappern der Schuhe auf den Fliesen, ein Stimmengemurmel und zeitweise sogar Lachen. An einer Ecke bemerkte die Maslow das boshafte Gesicht ihrer Feindin, der Botschkoff, die an der Spitze der Kolonne marschierte; sie machte die Fenitschka darauf aufmerksam.

Am Fuße der Treppe schwiegen alle Weiber und traten, das Kreuz schlagend und sich verneigend, zu zwei und zwei in die noch leere, aber schon im Lichterglanze strahlende Kapelle. Sie stellten sich rechts auf und setzten sich dann eng zusammengedrängt auf eine Reihe von Bänken. Gleich darauf kam die Reihe an die Männer, die, sämtlich grau gekleidet, sich auf der linken Seite und im Mittelpunkt der Kapelle niederließen. Einige wurden über eine kleine Treppe zur Orgel geführt, die sich auf dem obersten Punkte des Kirchenschiffes befand.

Die Gefängniskapelle war erst kürzlich auf Kosten eines reichen Kaufmannes renoviert und neu ausgestattet worden, der zu diesem Zweck mehrere tausend Rubel ausgegeben hatte. Sie glänzte im Goldschmuck und hellen Farben.

Einige Zeit lang blieb es in der Kapelle ruhig; man hörte nur das Geräusch sich schnäuzender Nasen, Husten, Kindergeschrei und zuweilen Kettengerassel. Bald aber traten die Gefangenen, die in der Mitte saßen, zur Seite, um einen Zwischenraum freizulassen, und in diesem Gange erschien mit feierlichem Schritt der Gefängnisdirektor, der bis zur ersten Reihe vortrat.

Sofort begann der Gottesdienst. Die Maslow, die in der Mitte der Gefangenenschar stand, konnte nichts weiter, als den Rücken der vor ihr stehenden Frauen sehen, doch als sich alle in Bewegung setzten, um das Kreuz und dem Priester die Hand zu küssen, war es ihr eine große Zerstreuung, die Anwesenden, den Direktor und die Aufseher zu sehen; hinter ihnen erkannte sie einen Mann mit Knebelbart und blonden Haaren, den Gatten der Fenitschka, der seine Blicke zärtlich auf seine Frau richtete.

»Die Maslow soll ins Sprechzimmer kommen,« sagte ein Aufseher, als die Weiber die Kapelle verließen.

»Welches Glück!« sagte sich die Maslow, hocherfreut über die neue Zerstreuung, die sich ihr bot. Sie dachte, es wäre jedenfalls Bertha oder ihre Freundin Klara, die sie besuchte, und so folgte sie fröhlichen Schrittes die Korridore entlang denjenigen ihrer Gefährtinnen, die man ebenfalls in das Sprechzimmer gerufen hatte.


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