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Sechzehntes Kapitel

Als Nechludoff von Maslinnikoff kam, ließ er sich direkt nach dem Gefängnis fahren. Er sagte den Aufsehern, er wolle mit dem Direktor sprechen, und wandte sich sofort dem Bureau dieses Beamten zu.

Wieder hörte er, genau wie beim ersten Mal, die Töne eines schlechten Pianos. Anstatt der »Rhapsodie« von Liszt spielte man jetzt eine Etüde von Clementi; doch es war noch immer derselbe übertriebene Eifer, dieselbe mechanische Fertigkeit, dieselbe Schnelligkeit.

Die Magd, welche öffnete, sagte, »der Hauptmann wäre zu Hause«, und führte ihn in einen kleinen, mit einem Divan, einem Tisch, drei Stühlen und einer ungeheuren Lampe ausgestatteten Salon. Einen Augenblick später erschien der Direktor selbst mit seinem müden, bekümmerten Gesicht.

»Meine Hochachtung, Fürst. Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte er, indem er seine Uniform zuknöpfte.

»Ich war beim Vizegouverneur und er hat mir diesen Erlaubnisschein gegeben,« versetzte Nechludoff. »Ich möchte die Maslow sprechen!«

»Die Markow?« fragte der Direktor, der infolge der Musik den Namen nicht verstehen konnte.

»Die Maslow!«

»Ach ja, ich weiß,« sagte er, erhob sich und ging zu der Thür, aus der die Rouladen Clementis kamen.

»Ich bitte dich, Marussja, höre wenigstens eine Minute auf,« sagte er; »man hört ja sein eigenes Wort nicht!«

Das Klavier verstummte, Stühle wurden ärgerlich fortgeschoben, und jemand öffnete die Thür, um einen müden Blick in den Salon zu werfen.

Augenscheinlich erleichtert, nahm der Direktor eine dicke Cigarette aus einem Etui und bot Nechludoff eine an.

»Kann ich die Maslow sprechen?«

»Was willst du hier?« fragte der Direktor ein kleines Mädchen von fünf bis sechs Jahren, das in den Salon geschlichen war und sich, ohne Nechludoff mit den Augen zu verlassen, bemühte, seinem Vater auf den Schoß zu klettern. – »Nimm dich in acht, du wirst fallen,« fuhr er mit nachsichtigem Lächeln fort.

»Nun gut! Wenn es möglich ist, möchte ich Sie bitten, mir die Maslow vorführen zu lassen,« wiederholte Nechludoff.

»Die Maslow! Die können Sie leider heute nicht sprechen!«

»Weshalb nicht?«

»Hören Sie, das ist Ihre Schuld!« versetzte der Direktor mit leichtem Lächeln, »Fürst, glauben Sie mir, geben Sie ihr kein Geld mehr! Wenn Sie wollen, übergeben Sie es mir für sie; aber Sie haben ihr jedenfalls gestern welches gegeben, sie hat sich Schnaps verschafft – dieses Uebel werden Sie nie ausrotten, und heute ist sie vollständig betrunken, so daß sie Lärm gemacht hat.«

»Nun, und?«

»Infolgedessen hat man sie bestrafen müssen und in einen andern Saal überführt. Sie ist übrigens gewöhnlich eine ruhige Gefangene; doch ich bitte Sie, geben Sie ihr kein Geld mehr in die Hand! Wenn Sie diese Sorte so wie ich kennen würden!«

»Aber könnte ich vielleicht die Bogoduschoffska von der politischen Abteilung sprechen?«

»Gewiß!«

Der Direktor nahm sein kleines Mädchen beim Arm, schob es sacht hinaus und stand auf, um Nechludoff nach dem Gefängnis zu führen.

Er hatte noch nicht seinen Mantel im Vorflur angezogen, als sich schon wieder die Rouladen Clementis hören ließen.

»Sie war im Conservatorium; aber es haben Unruhen stattgefunden, und man hat einzelne Schüler entlassen!« sagte der Direktor, während sie die Treppe hinuntergingen. »Sie hat Anlage und möchte in den Konzerten spielen!«

Nechludoff und der Direktor wandten sich dem Bureau zu. In dem Korridor kamen ihnen vier Sträflinge mit Eimern in den Händen entgegen, und Nechludoff sah, wie sie zitterten, als sie den Direktor bemerkten. Namentlich einer von ihnen senkte den Kopf und machte ein böses Gesicht, während es in seinen schwarzen Augen aufleuchtete.

»Gewiß muß das Talent ermutigt werden, und man hat kein Recht, es zu beeinträchtigen; doch in einer kleinen Wohnung, wie der unsrigen, ist dieses Klavier, das nie aufhört, oft störend,« fuhr der Direktor fort, ohne auf seine Gefangenen zu achten, während er Nechludoff in den großen Saal führte.

»Wie heißt die Gefangene, die Sie sprechen wollen?«

»Bogoduschoffska!«

»Sie ist im andern Gebäude bei den Politischen. Sie müssen schon ein bißchen warten. Ich werde sie holen lassen.«

»Könnte ich nicht inzwischen den Gefangenen Mentschoff sprechen, der wegen Brandstiftung verurteilt ist?«

»Er sitzt in seiner Zelle. Wollen Sie ihn dort sprechen?«

»Gewiß, das wird mich interessieren!«

»O, daran ist gar nichts Interessantes!«

In diesem Augenblicke trat der elegante Unterdirektor in den Saal.

»Führen Sie den Fürsten in Mentschoffs Zelle,« sagte sein Chef zu ihm, »und dann ins Bureau zurück. Ich werde inzwischen die Bogoduschoffska holen lassen.«

»Wollen Sie mir gefälligst folgen?« sagte der Unterdirektor mit liebenswürdigem Lächeln zu Nechludoff. »Sie interessieren sich für unser Gebäude?«

»Ja, vor allem aber interessiere ich mich für diesen Mentschoff, der an dem Verbrechen, dessen man ihn angeklagt hat, unschuldig sein soll.«

Der andere zuckte die Achseln und erwiderte ruhig, nachdem er Nechludoff aus Höflichkeit in einem stinkenden Korridor hatte vorangehen lassen, »Aber sie lügen auch oft ... Bitte, nach Ihnen!«

Er ließ Nechludoff den ganzen großen Korridor durchschreiten und führte ihn durch eine eiserne Thür in einen zweiten, noch engeren, noch finsteren Gang, in dem es noch entsetzlicher stank.

Auf diesen Korridor führten zu beiden Seiten mit kleinen Guckfenstern versehene verschlossene Thüren. Dieser zweite Korridor war leer; nur ein alter Aufseher mit mürrischem und traurigem Gesicht ging darin auf und ab.

»Mentschoff? In welcher Zelle?«

»Zelle acht links!«

»Und alle diese Zellen sind bewohnt?« fragte Nechludoff.

»Alle, bis auf eine!«


Nechludoff näherte sich einer der Thüren und fragte seinen Gefährten:

»Darf ich hineinsehen?«

»Wie Sie wollen,« versetzte dieser mit seinem liebenswürdigen Lächeln und fing an, mit dem Aufseher zu plaudern.

Nechludoff zog den Deckel von dem Schiebefenster und blickte hinein. In der Zelle saß ein junger Mann von hoher Gestalt, der nur mit einem Hemde bekleidet war und hastig auf und ab ging. Als er Geräusch hörte, warf er einen Blick auf die Thür, zog die Stirn kraus und nahm seine Wanderung dann wieder auf.

Nechludoff blieb vor einer andern Zelle stehen, wo sein Blick dem seltsamen und beunruhigenden Blick eines großen schwarzen Auges begegnete. Schnell schloß er den Deckel wieder. In einer dritten Zelle sah er einen Mann, der mit bedecktem Kopfe zusammengekauert auf einem Bette schlief. In der folgenden Zelle saß ein Mann mit gesenktem Kopfe, die Ellenbogen auf die Kniee gestützt. Als er hörte, wie das Schiebefenster sich öffnete, hob der Mann den Kopf und drehte ihn mechanisch nach der Thür; doch sein ganzes blasses Gesicht und seine tiefliegenden hohlen Augen zeigten zur Genüge, daß es ihn wenig kümmerte, wer in seine Zelle sah.

Der Anblick dieses verzweifelten Gesichts flößte Nechludoff Furcht ein, und er ging direkt nach Mentschoffs Zelle.

Der Aufseher öffnete die doppelt verschlossene Thür, und Nechludoff bemerkte einen muskulösen jungen Mann, mit langem Halse, kleinem Knebelbart und gutmütigen, runden Augen, der an seinem Lager stand und mit erschrockener Miene schnell seine Jacke anzog.

»Hier ist ein Herr, der dich wegen deiner Sache fragen will,« sagte der Unterdirektor zu ihm.

»Ja, man hat mir von Ihnen gesprochen,« sagte Nechludoff, indem er in das Zimmer trat und sich an das Gitterfenster stellte. »Ich möchte aus Ihrem eigenen Munde den Bericht über das Vorgefallene hören.«

Mentschoff näherte sich ebenfalls dem Fenster und begann sofort seine Erzählung. Er sprach zuerst schüchtern, indem er unruhige Blicke auf den Unterdirektor warf; doch nach und nach wurde er mutiger, und als der Unterdirektor seine Zelle verließ, verschwand seine Schüchternheit ganz und gar. Er hatte die Sprache und Manieren eines ehrlichen und einfachen Bauern, und Nechludoff empfand ein seltsames Gefühl, als er diesen braven kleinen Muschik in Sträflingskleidern in einer düsteren Zelle sah. Der Gefangene erzählte, daß ihm der Schenkwirt seines Dorfes gleich nach seiner Heirat seine Frau geraubt hatte. Er hatte sich überall hingewendet, um Genugthuung zu erlangen, doch überall hatte der Schenkwirt die Behörden bestochen und war straflos ausgegangen. Eines Tages hatte Mentschoff seine Frau mit Gewalt nach Hause zurückgebracht, doch schon am nächsten Tage war sie ausgerückt. Nun war er wieder zu dem Schenkwirt gegangen und hatte seine Frau verlangt. Der Schenkwirt hatte ihm geantwortet, seine Frau wäre nicht bei ihm, und ihn dann fortgewiesen; er war aber nicht gegangen, und nun hatte ihn der Wirt mit Hilfe eines Arbeiters blutig geschlagen. Am nächsten Morgen hatte die Scheune des Wirtes Feuer gefangen, und man hatte Mentschoff und seine Mutter angeklagt. Doch Mentschoff hatte das Feuer nicht angelegt, denn er war an diesem Tage bei einem Freunde.

»Ist das auch wirklich wahr, daß du das Feuer nicht angelegt hast!«

»Ich habe nicht einmal daran gedacht, Ew. Excellenz; sicher hat der Hallunke das Feuer selbst angelegt. Man hat behauptet, er hätte seine Scheune versichert, und dabei hat man meine Mutter und mich angeklagt, wir hätten ihn mit der Brandstiftung bedroht. Allerdings habe ich ihn an dem Tage, an dem ich meine Frau zurückverlangte, geschimpft und bedroht, doch das Feuer habe ich nicht angelegt. Er hat es selbst gethan und uns nachher beschuldigt.«

»Ist das wahr?«

»So wahr ich vor Gott spreche, Excellenz. Haben Sie Mitleid mit mir,« sagte er und versuchte dabei, vor Nechludoff niederzuknieen, »hindern Sie es, daß ich ohne Grund umkomme.«

Von neuem zitterten seine Lippen, er fing an zu weinen und trocknete sich dann mit dem Aermel seines schmutzigen Hemdes die Augen.

»Sind Sie fertig?« fragte der Unterdirektor.

»Ja,« erwiderte Nechludoff, wandte sich dann zu Mentschoff und sagte:

»Na, verzweifle nicht, wir werden alles Mögliche thun.«

Mentschoff stand beim Eingang, so daß der Aufseher, als er die Thür schloß, ihn ins Innere zurückstoßen mußte; doch bis die Thür sich vollständig geschlossen hatte, blickte der Unglückliche noch immer durch den Spalt.


Der Unterdirektor ließ Nechludoff von neuem durch den großen Korridor gehen. Es war die Stunde des Mittagsmahles, und alle Saalthüren waren geöffnet. Aus einem der Säle kamen, als er vorüberging, mehrere Gefangene und stellten sich mit tiefen Verneigungen vor ihm auf.

»Wir flehen Sie an, Excellenz, sorgen Sie dafür, daß man etwas für uns thut.«

»Ich gehöre nicht zur Verwaltung, ihr irrt euch, ich kann nichts für euch thun.«

»Gleichviel,« versetzte eine unzufriedene Stimme, »Sie können mit einem von der Verwaltung über uns sprechen. Wir haben nichts verbrochen und seit zwei Monaten behält man uns hier.«

»Wieso, weshalb?« fragte Nechludoff.

»Man hat uns ins Gefängnis gesteckt, seit zwei Monaten sind wir hier und wissen selbst nicht, warum.«

»Das ist wahr, aber die Sache ist rein zufällig,« sagte der Unterdirektor. »Man hat alle diese Leute verhaftet, weil ihnen die Pässe fehlten, und sie sollten in ihre Gouvernements zurückgeschickt werden; doch dort ist das Gefängnis abgebrannt, und deshalb hat man uns gebeten, sie nicht fortzuschicken. Die von den andern Gouvernements sind fortgeschickt worden, doch diese hier mußten wir behalten.«

»Ist es möglich?« fragte sich Nechludoff, näherte sich der Thür und warf einen Blick in den Saal.

Eine Gruppe von etwa vierzig Männern, sämtlich in Gefängniskleidung, umstanden Nechludoff und den Unterdirektor. Mehrere erhoben gleichzeitig die Stimme, bis einer von ihnen, ein schon grauhaariger, kräftiger Bauer, das Wort ergriff, um im Namen seiner Gefährten zu sprechen. Er erklärte, man hätte sie ins Gefängnis gebracht, weil sie keine Pässe hätten. Sie hätten zwar Pässe, aber diese wären seit vierzehn Tagen abgelaufen.

»Wir sind alle Steinsetzer und gehören demselben Zuge an,« meinte er. »Wir wollten alle hier zusammen arbeiten, und man sagt uns, in unserm Gouvernement wäre das Gefängnis abgebrannt. Wir sind aber nicht schuld daran, wir haben es nicht angesteckt; um Gotteswillen, thun Sie etwas für uns.«

Nechludoff hörte diese Rede etwas zerstreut an, denn seine Aufmerksamkeit wurde unwillkürlich von einer ungeheuren großen Laus abgelenkt, die dem braven Steinsetzer aus den Haaren kroch und ihm über die Wangen lief.

»Ist es möglich?« sagte Nechludoff von neuem zu dem Unterdirektor.

»Was wollen Sie, das Gesetz befiehlt es einmal, sie in ihr Gouvernement zurückzuschicken.«

Der Unterdirektor hatte kaum ausgeredet, als ein kleiner Mann aus der Gruppe trat, das Wort ergriff, um sich bitter darüber zu beklagen, wie die Aufseher sie ohne Grund quälten.

»Aber man behandelt uns schlechter, als die Hunde,« erklärte er.

»Na, na, ihr dürft unsere Nachsicht aber auch nicht mißbrauchen,« sagte der Unterdirektor; »schweig', sonst weißt du ...«

»Was soll ich wissen?« versetzte der kleine Mann verzweifelt; »haben wir das verdient?«

»Ruhe!« rief ein Aufseher, und der kleine Mann schwieg.

»Ist es möglich?« sagte sich Nechludoff, während er weiter über den Korridor schritt.

»Aber es sollte nicht gestattet sein, Unschuldige im Gefängnis zu behalten,« sagte er zu seinem Gefährten, als sie den Korridor verlassen hatten.

»Was wollen Sie dagegen thun? ... und dann lügen diese Leute auch sehr viel; wenn man sie hört, sind sie alle unschuldig.«

»Aber diese hier sind doch wirklich unschuldig!«

»Nun, nehmen wir das bei diesen hier an, aber es ist eine ganz verrohte Sorte, ohne Strenge richtet man bei ihnen nichts aus. Wir haben hier schreckliche Taugenichtse, die sich gern auf uns stürzen möchten. So hat man gestern zwei bestrafen müssen ...«

»Was nennen Sie »bestrafen«?«

»Man hat sie auf höheren Befehl gepeitscht.«

»Ich glaubte, die körperlichen Züchtigungen wären verboten.«

»Nicht bei den Gefangenen, denen man die Ehrenrechte genommen hat, bei diesen hat man sie nicht unterdrückt.«

Nechludoff erinnerte sich jetzt an die Scene, der er am vorigen Tage in dem großen Saale beigewohnt, und begriff, daß man, während er auf den Inspektor wartete, die Bestrafung vorgenommen. Ohne weiter auf den Unterdirektor zu hören oder sich nach ihm umzusehen, eilte er nach dem Bureau. Der Direktor befand sich dort, doch er war so beschäftigt gewesen, daß er ganz vergessen hatte, die Bogoduschoffska rufen zu lassen. Erst als er Nechludoff eintreten sah, erinnerte er sich seines Versprechens und sagte:

»Bitte tausendmal um Entschuldigung, werde die Gefangene gleich holen lassen, setzen Sie sich inzwischen ein wenig.«


Das Bureau bestand aus zwei Zimmern, von denen das erste sein Licht durch zwei schmutzige Fenster erhielt. Dieses erste Zimmer war fast leer, nur einige Aufseher befanden sich darin. In dem zweiten größeren Zimmer befanden sich etwa zwanzig Personen beiderlei Geschlechts, die in getrennten Gruppen auf Bänken an der Wand saßen und sich mit leiser Stimme unterhielten. An einem der beiden Fenster in der Ecke stand ein Tisch, und an diesem saß der Direktor, als Nechludoff eintrat. Er ließ ihn einen Augenblick Platz nehmen und begab sich in das andere Zimmer, um den Befehl zu geben, die Bogoduschoffska zu rufen. Seine Aufmerksamkeit wurde zuerst von einem jungen Manne im Jacketanzug erregt, der vor zwei auf der Bank sitzenden Personen, einem jungen Mädchen und einem Gefangenen, stand. Etwas weiter sah Nechludoff einen Greis mit blauer Brille, der eine junge Gefangene bei der Hand hielt und eifrig auf das hörte, was sie zu ihm sagte. Ein kleiner Junge mit nachdenklichem und furchtsamem Gesicht stand bei dem Greise und verließ ihn nicht mit den Augen. In einem Winkel hinter ihnen unterhielten sich zwei Liebende in fröhlichem Tone. Das elegant gekleidete junge Mädchen war eine hübsche Blondine von vornehmem Aussehen, während ihr Geliebter, ein Sträfling, ein schönes Gesicht mit scharfgeschnittenen Zügen hatte. Einige Schritte vom Tisch bemerkte Nechludoff eine schwarzgekleidete Frau in grauen Haaren, augenscheinlich eine Mutter, denn sie betrachtete eifrig einen jungen Schwindsüchtigen, und versuchte, mit ihm zu sprechen, ohne daß es ihr gelang, denn die Thränen erstickten sie. Der junge Mann knitterte und faltete mechanisch ein Blatt Papier zusammen, das er in der Hand hielt, und Nechludoff sah neben ihm ein reizendes junges Mädchen in einem grauen Kleide mit einer Pellerine auf den Schultern. Sie saß neben der weinenden Mutter und bemühte sich, sie zu trösten, indem sie ihr leise den Arm streichelte.

Während Nechludoff diese verschiedenen Gruppen neugierig betrachtete, näherte sich ihm neugierig der kleine Junge und fragte ihn mit seinem dünnen Stimmchen:

»Auf wen warten Sie denn?«

Nechludoff war zuerst über die Frage erstaunt, doch das nachdenkliche Gesicht des Kindes rührte ihn, und mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt erklärte er, er warte auf eine Dame.

»Ist das Ihre Schwester?« fragte der Kleine.

»Nein, meine Schwester ist es nicht, aber mit wem bist du denn hier?«

»Mit Mama, sie gehört zur politischen Abteilung,« erwiderte das Kind mit offenbarem Stolze.

»Maria Pawlowna,« rief der Direktor, »rufen Sie Kolja zurück,« und das schöne Mädchen, das zwei Schritte von Nechludoff saß, trat auf sie zu.

»Er hat Sie jedenfalls gefragt, wer Sie sind,« sagte sie zu Nechludoff mit leisem Lächeln. »Das ist so seine Art, er will immer alles wissen,« fuhr sie fort und lächelte dem Kinde so sanft und zärtlich zu, daß dieses und Nechludoff selbst dieses Lächeln unwillkürlich erwiderten.

»Ja, er fragte mich, weswegen ich gekommen wäre.«

»Maria Pawlowna, Sie haben nicht das Recht, mit Fremden zu sprechen, das wissen Sie doch,« sagte der Direktor.

»Gut, gut,« versetzte sie, nahm Koljas kleine Hand in die ihrige und kehrte zur Mutter des Schwindsüchtigen zurück.

»Wessen Sohn ist er?« fragte Nechludoff den Direktor.

»Der Sohn einer politischen Gefangenen, denken Sie sich, er ist im Gefängnis geboren.«

»Wirklich?«

»Ja, und jetzt geht er mit seiner Mutter nach Sibirien.«

»Und das junge Mädchen?«

»Verzeihen Sie, ich habe nicht das Recht, Ihnen alle diese Fragen zu beantworten; außerdem ist da auch die Bugoduschoffska.«


Thatsächlich trat die kleine, gelbe, magere Wera Bogoduschoffska mit ihrem behenden Schritt in das Zimmer.

»Ach, wie gut, daß Sie gekommen sind,« sagte sie und reichte Nechludoff die Hand, »Sie erinnern sich meiner doch noch, setzen Sie sich.«

»Ich erwartete nicht, Sie hier wiederzusehen.«

»O, ich befinde mich hier sehr wohl, so daß ich es mir gar nicht besser wünschen kann,« sagte Wera Efremowna.

Als Nechludoff sie fragte, weshalb man sie ins Gefängnis gebracht, begann sie eine ausführliche Erzählung, in der ihre eigenen Abenteuer viel weniger Platz einnahmen, als die Organisationen und Unternehmungen ihrer »Partei«, und in der die Fremdwörter »Propaganda«, »Organisation«, »Gruppen«, »Sektionen« und »Untersektionen« fortwährend wiederkehrten.

Nechludoff betrachtete ihren mageren Hals, ihre spärlichen und schlecht gekämmten Haare, ihre großen runden Augen und fragte sich, warum sie ihm das alles erzähle, und sich selbst dafür interessiere. Er beklagte sie, aber in ganz anderer Weise wie den Muschik Mentschoff, der ohne Grund in seine verpestete Zelle eingesperrt war. Er beklagte sie nicht wegen des Schicksals, das sie sich zugezogen, sondern wegen der augenscheinlichen Verwirrung, die in ihrem Kopfe herrschte. Die Unglückliche hielt sich für eine Heldin, und deshalb beklagte er sie am meisten.

Die Angelegenheit, von der Wera Efremowna ihm erzählen wollte, war ziemlich verwickelt. Eine Kameradin des jungen Mädchens, Namens Tschustoff, war vor fünf Monaten mit ihr verhaftet und eingekerkert worden, obwohl sie keiner »Untersektion« angehörte. Man hatte bei ihr nur Papiere und Bücher gefunden, die ihre Freunde in ihrem Zimmer abgestellt, und Wera Efremowna, die sich zum Teil an dieser Gefangennahme für verantwortlich erachtete, wollte Nechludoff, »der Beziehungen besaß«, bitten, sein Möglichstes zu thun, um die Freilassung der Tschustoff durchzusetzen. Was ihre eigene Geschichte betraf, so erzählte sie Nechludoff, daß sie sich nach Beendigung ihrer Studien als Hebeamme einer Sektion von »Volksbefreiern« angeschlossen, das »Kapital« von Karl Marx gelesen und den Entschluß gefaßt hatte, sich ganz dem »Fortschritt der Revolution« zu widmen. Zu Anfang war alles gut gegangen, man hatte Proklamationen erlassen und in den Minen Propaganda getrieben, doch eines Tages war eins der Mitglieder der Sektion verhaftet worden, die Polizei hatte bei ihm Papiere gefunden, und die ganze Sektion kam ins Gefängnis.

Nechludoff fragte sie, wer das schöne junge Mädchen wäre. Es war die Tochter eines Generals. Seit langer Zeit der revolutionären Partei angehörend, hatte sie sich schuldig erklärt, einen Revolverschuß auf einen Gensdarmen abgefeuert zu haben. Als die Polizei vor der Wohnung erschienen war, deren sich die Partei zu ihren Beratungen bediente, hatten die anwesenden Mitglieder die Thüre verbarrikadiert, um die dortliegenden Papiere verbrennen oder verstecken zu können. Doch die Polizei hatte die Barrikaden durchbrochen und wollte die Verschwörer verhaften, als einer von ihnen einen Revolverschuß abgefeuert hatte, der einen Gensdarmen tödlich verwundete. Man hatte sofort eine Untersuchung eingeleitet, um den Mörder zu entdecken, und das junge Mädchen hatte die Schuld auf sich genommen; obwohl sie nie einen Revolver in der Hand gehalten, so hatte man doch ihr Geständnis als vollgültig anerkennen müssen. Jetzt war sie zur Zwangsarbeit verurteilt und im Begriff, nach Sibirien abzureisen.

»Eine sehr interessante Persönlichkeit, und in hohem Grade altruistisch,« sagte Wera Efremowna, ihre Erzählung beendend.

Er mußte jetzt noch erfahren, was Wera Efremowna ihm hinsichtlich der Maslow mitzuteilen hatte, und wagte endlich, sie danach zu fragen. Das junge Weib kannte, wie das ganze Gefängnis, die Geschichte der Maslow, und war von dem Interesse unterrichtet, das ihr Nechludoff entgegenbrachte. Sie wollte ihm raten, es doch durchzusetzen, daß sein Schützling zum Krankendienst versetzt wurde, wo man Hilfskräfte brauchte; vom moralischen Standpunkte aus, wie auch von jedem anderen wäre sie dort besser aufgehoben, als in ihrer Abteilung.


Die Unterredung wurde von dem Direktor unterbrochen, welcher sich erhob und erklärte, die Besuchsstunde wäre vorüber. Nechludoff nahm von Wera Efremowna Abschied, um zu gehen, blieb aber neugierig auf der Thürschwelle stehen. Die Bemerkung des Direktors hatte keine andere Wirkung, als die Unterhaltung lebhafter zu gestalten, ohne daß jemand Miene machte, fortzugehen. Bald aber begann der Abschied, und mit ihm das Schluchzen und die Thränen. Namentlich die Mutter des jungen Schwindsüchtigen schien außer sich zu sein. Ihr Sohn zerknitterte das Blatt Papier noch immer zwischen seinen Fingern, und sein Gesicht nahm fast einen boshaften Ausdruck an. Die Mutter lehnte das Haupt an die Schulter des jungen Mannes und brach wie ein kleines Kind in Thränen aus.

Das schöne junge Mädchen stand vor der betrübten Mutter und sprach noch immer tröstend auf sie ein. Der Greis mit der blauen Brille behielt die Hand des Mädchens in der seinen und nickte zu dem, was sie sagte, mit dem Kopfe. Die beiden Liebenden waren aufgestanden und blieben unbeweglich einander gegenüber stehen, ohne ein Wort zu sprechen.

»Die sind wenigstens glücklich,« sagte der junge Mann im Jacket, der ebenfalls stehengeblieben war und der Scene beiwohnte, zu Nechludoff.

»Sie verheiraten sich hier in der nächsten Woche im Gefängnis, und in einem Monat reist sie mit ihm nach Sibirien ab,« fuhr er fort.

»Und was ist er?«

»Er ist zur Zwangsarbeit verurteilt ... die sind wenigstens heiter, aber das ist zu entsetzlich anzuhören,« fügte der junge Mann hinzu, und machte Nechludoff auf das heftige Schluchzen aufmerksam, das der Greis mit der blauen Brille jetzt ausstieß.

»Vorwärts, meine Herren, ich bitte Sie,« rief jetzt der Direktor, »was soll denn das heißen? Die Stunde ist doch schon längst vorüber. Ich sage es Ihnen nun zum letztenmal,« fügte er nach einer Pause hinzu, stand auf, setzte sich wieder, that einen Zug aus seiner Cigarette, ließ sie ausgehen und steckte sie wieder von neuem an.

Endlich trennten sich Gefangene und Besucher; die einen wandten sich der Hintertür zu, die andern der großen Pforte, die in das Nebenzimmer führte.

»Ja, das sind merkwürdige Scenen,« sagte der junge Mann im Jacket, der augenscheinlich gern plauderte, zu Nechludoff. »Glücklicherweise ist der »Hauptmann« noch ein braver Mann und hält sich nicht an das Gefängnisreglement. Anderswo ist es ein wahres Martyrium, das sagt jeder.«

»Werden diese Besuche denn in den anderen Gefängnissen nicht in derselben Weise abgehalten?«

»Ach, nichts dergleichen; man kann die politischen Gefangenen höchstens durch zwei Gitter sehen, genau so, wie die schweren Verbrecher.«

Am Fuße der Treppe wurde Nechludoff durch den Direktor von seinem Begleiter getrennt; der Beamte nahm ihn beiseite und sagte zu ihm mit seiner müden Stimme:

»Sie können die Maslow also morgen sehen, wenn Sie wollen, Fürst!«

»Besten Dank!« versetzte Nechludoff und verließ das Gefängnis. Er empfand ein noch stärkeres Gefühl des Widerwillens und des Schreckens, als er es am vorigen Sonntag empfunden, da er die Korridore des Gefängnisses zum erstenmale betrat.


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