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Vierzehntes Kapitel

Nechludoff war schon lange im Gefängnis. Er war sehr früh gekommen und hatte der Schildwache und einem Aufseher den Erlaubnisschein des Staatsanwalts gezeigt.

»In diesem Moment ist es unmöglich,« erklärte der Aufseher; »der Direktor ist beschäftigt.«

»Im Bureau?« fragte Nechludoff.

»Nein, hier, im Sprechzimmer!« versetzte der Aufseher mit einer gewissen Verlegenheit.

»Ist Besuchstag?«

»O nein, in einer andern Angelegenheit!«

»Und wie kann ich den Direktor sprechen?«

»Sie müssen hier auf ihn warten. Er wird gleich vorbeikommen, dann können Sie mit ihm sprechen.«

Einige Minuten darauf sah Nechludoff einen jungen Unteroffizier mit glitzernden Galons, schneidig und mit hochgedrehtem Schnurrbart in den Saal treten; als derselbe ihn bemerkte, wandte er sich mit strenger Miene zu dem Aufseher und sagte:

»Warum haben Sie hier Leute hereingelassen? Nach dem Bureau sollen Sie doch alles schicken.«

»Man sagte mir, der Direktor würde hier durchkommen; ich habe mit ihm zu sprechen!« sagte Nechludoff überrascht, als er auf dem Gesicht des Unteroffiziers denselben verlegenen Ausdruck bemerkte, der ihm schon bei dem Aufseher aufgefallen war.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür, durch die der Unteroffizier eingetreten war, von neuem, und ein Aufseher, ein wahrer Koloß, trat erhitzt, ganz in Schweiß gebadet, ein. Das war der berüchtigte Petroff.

»Daran wird er denken!« erklärte er, sich an den Unteroffizier wendend.

Doch dieser machte ihn mit einer Kopfbewegung auf die Anwesenheit eines Fremden aufmerksam, und Petroff ging, ohne ein Wort hinzuzufügen, durch eine andere Thür hinaus.

»Wer wird an etwas denken? Und warum sehen sie alle so verlegen aus?« fragte sich Nechludoff.

»Hier wird nicht gewartet! Gehen Sie gefälligst ins Bureau!« sagte der Unteroffizier zu ihm, und Nechludoff wollte bereits hinausgehen, als er durch dieselbe Thür, wie die beiden andern, den Direktor erscheinen sah. Er schien noch verlegener, als seine Untergebenen, und sah vor Aufregung ganz entstellt aus.

Nechludoff sprach ihn an und zeigte ihm den Erlaubnisschein des Staatsanwalts.

»Fedoroff!« rief der Direktor einem der Aufseher zu; »holen Sie mal gleich die Maslow! Fünfter Frauensaal! Sie soll in das Advokatensprechzimmer geführt werden.«

Dann wandte er sich zu Nechludoff:

»Gestatten Sie mir, Sie zu begleiten?«

Sie stiegen eine Wendeltreppe hinauf und traten in ein kleines Zimmer, das mit einem Tisch und einigen Stühlen möbliert war.

Der Direktor setzte sich und sagte seufzend, während er eine dicke Cigarette aus seinem Etui nahm:

»Welch hartes Handwerk! Welch hartes Handwerk!«

»Sie scheinen abgespannt?«

»Mein ganzer Dienst ist mir zuwider! Es sind wirklich zu harte Verpflichtungen! Man möchte diesen Elenden ihr Schicksal erleichtern, und alles, was man thut, macht die Sache noch schlimmer. Wenn ich wenigstens ein Mittel wüßte, von hier wegzukommen! Ein hartes, hartes Handwerk!«

Nechludoff wußte nicht, worin die harten Verpflichtungen des Direktors bestanden; doch ohne sie zu kennen, glaubte er an diesem Tage an ihm ein außergewöhnliches Leiden, eine ganz besonders traurige und verzweifelte Stimmung zu bemerken.

»Ja, ich glaube gern, daß es ein hartes Handwerk ist,« sagte er zu ihm. »Aber wenn es Sie in einen solchen Zustand bringt, warum verzichten Sie nicht darauf?«

»Der Mangel an Vermögen, die Familie ...«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort:

»Das ist noch nicht alles. Denn schließlich thue ich nach meinen Kräften alles, was ich kann, um das Schicksal der Gefangenen zu lindern, und in gewissen Punkten gelingt es mir ja auch; ein anderer würde sie an meiner Stelle ganz anders behandeln. Glauben Sie, es sei eine Kleinigkeit, fast zweitausend Menschen, und Menschen dieser Art, zu dirigieren? Man muß wissen, wie man sie zu nehmen hat. Es sind doch Menschen, und sie thun einem immerhin leid. Doch wenn man sie verzieht, ist alles verloren.«

Der Direktor begann nun eine erst kürzlich passierte Geschichte zu erzählen; eine Prügelei zwischen zwei Gefangenen, die mit dem Tode des einen geendet hatte.

Seine Erzählung wurde durch den Eintritt der Maslow unterbrochen, die in Begleitung eines Aufsehers erschien.

Nechludoff sah sie bereits auf der Schwelle, bevor sie die Anwesenheit des Direktors noch bemerkte. Ihr Gesicht war rot und glühend. Sie schritt schnell hinter dem Aufseher her, ohne ihr Lächeln einzustellen. Als sie den Direktor bemerkte, blieb sie einen Augenblick mit erschrockener Miene stehen, wandte sich aber sofort in fröhlicher Laune nach Nechludoff und sagte zu ihm mit lächelnder Miene: »Guten Tag!«

Dabei drückte sie ihm kräftig die Hand, anstatt sie, wie beim vorigen Mal, nur einfach zu berühren.

»Ich habe Ihnen Ihre Berufung mitgebracht,« sagte Nechludoff, der sich wunderte, sie so lebhaft zu sehen. »Der Advokat hat sie aufgesetzt; Sie brauchen sie nur zu unterzeichnen; wir schicken sie dann nach St. Petersburg.«

»Nun gut, dann werden wir sie eben unterzeichnen; nichts einfacher als das!«

Sie fuhr fort zu lächeln, und eins ihrer Augen schielte stärker, als gewöhnlich. Nechludoff zog das Papier aus der Tasche und näherte sich dem Tische.

»Kann man das hier unterzeichnen?« fragte er den Direktor.

»Setz' dich hierher,« sagte der Direktor zu der Maslow. – »Da ist eine Feder und Tinte. Kannst du denn schreiben?«

»Ich habe es früher gekonnt!« versetzte sie lächelnd, hob ihren Rock hoch, warf ihren Aermel zurück, setzte sich an den Tisch, ergriff energisch die Feder und fragte, sich wieder lächelnd zu Nechludoff wendend, was sie thun sollte. Er erklärte ihr, wo und in welchen Ausdrücken sie unterzeichnen müßte.

»Das ist alles?« fragte sie und sah abwechselnd Nechludoff und den Direktor an.

»Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen!« sagte Nechludoff, während er ihr die Feder aus der Hand nahm.

»Nun, so sprechen Sie!«

Ihr Gesicht wurde plötzlich wieder ernst, als wäre ihr irgend ein Gedanke in den Sinn gekommen oder als hätte sie eine heftige Schlafsucht befallen.

Der Direktor erhob sich und verließ das Zimmer, und Nechludoff blieb mit der Maslow allein.


Der entscheidende Augenblick war für Nechludoff endlich gekommen. Er hatte sich fortwährend Vorwürfe gemacht, daß er nicht schon bei seiner ersten Zusammenkunft mit der Maslow gewagt, ihr die Hauptsache zu sagen, daß es seine Absicht war, seine Schuld dadurch zu büßen, daß er sie heiratete. Doch diesmal wollte er ihr alles sagen, mochte kommen, was da wollte!

Er bestärkte sich in seinem Entschlusse, als er der Gefangenen gegenüber am andern Ende des Tisches Platz nahm.

Das Zimmer, in dem sie sich befanden, war hell, und Nechludoff konnte das Gesicht der Maslow in Ruhe betrachten; er sah die Runzeln um den Mund und an den Augen, die angeschwollenen Lider, den allgemeinen Ausdruck frühzeitiger Ausschweifung und Erniedrigung, es beschlich ihn eine tiefe Traurigkeit, und sein Mitleid mit ihr ward noch größer.

Er stellte sich so an den Tisch, daß er von dem Aufseher, der die Maslow hergebracht, weder gehört, noch gesehen werden konnte; der Aufseher blieb im Winkel am Fenster, am andern Ende des Zimmers sitzen. Jetzt neigte sich Nechludoff zu der Maslow hinüber und sagte zu ihr:

»Wenn die Berufung nicht durchdringt, werden wir ein Gnadengesuch an den Zaren richten. Wir werden alles Mögliche thun.«

»Welch Unglück, daß Sie mich nicht früher gefunden haben! Sie hätten mir einen guten Advokaten verschafft! Denn der, den ich hatte, ist an allem schuld! Dieser Dummkopf! Alle beglückwünschen sie mich Ihretwegen,« setzte sie hinzu und fing an zu lachen. »Ach, hätte man am Tage der Verhandlung gewußt, daß Sie mich kennen, die Sache hätte eine ganz andere Wendung genommen. Dagegen so ... Ach was, haben sie sich gesagt: das ist ganz einfach 'ne Diebin!«

»Wie seltsam sie heute ist!« dachte Nechludoff und wollte eben die große Frage berühren, als sie von neuem das Wort ergriff:

»Hören Sie nur, was ich Ihnen zu sagen habe ... In unserem Saale ist eine alte Frau, über die sich jeder wundern muß! Eine merkwürdige, kleine, alte Frau, wie Sie eine zweite nicht sehen werden! Man hat sie und ihren Sohn verurteilt, Gott weiß, warum; und jeder weiß, daß sie unschuldig sind; und dabei hat man sie angeklagt, sie hätten Feuer angelegt! Da hat sie gehört, daß ich Sie kenne, und daraufhin zu mir gesagt: »Täubchen, sag' ihm, er solle mit meinem Sohn sprechen, der wird ihm alles erklären!« Mentschoff ist ihr Familienname. Wenn Sie wüßten! Eine so merkwürdige kleine Frau! Man sieht gleich, daß sie nicht schuldig ist! Nicht wahr, mein Schatz, Sie werden sich mit ihr beschäftigen?« sagte sie und sah ihm mit vertraulichem Lächeln in die Augen.

»Gut, ich werde mich damit beschäftigen und Erkundigungen einziehen,« versetzte Nechludoff, der sich über ihre Gesprächigkeit immer mehr wunderte. »Aber ich möchte mit Ihnen von einer persönlichen Angelegenheit sprechen. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen neulich gesagt habe?«

»Sie sagten mir neulich so viel! Was haben Sie mir denn gesagt?« fragte sie.

Sie hörte nicht auf, ihm zuzulächeln und neigte den Kopf bald nach dieser, bald nach jener Seite.

»Ich habe Ihnen gesagt, ich wäre gekommen, um Sie um Verzeihung zu bitten,« sagte er.

»Ach ja, ganz recht. Da ist nichts zu verzeihen. Sie thäten besser ...«

»Ich habe Ihnen noch zu sagen,« fuhr Nechludoff fort, »daß ich meine Schuld wieder gutmachen will, aber nicht durch Worte, sondern durch Thaten ... Ich bin entschlossen, Sie zu heiraten!«

Bei diesen Worten nahm das Gesicht der Maslow wieder einen Ausdruck der Angst an. Ihre Augen hörten auf zu schielen und richteten sich strenge auf Nechludoff.

»Weiter fehlte nichts!« sagte sie in bösem Tone.

»Ich habe das Gefühl, daß ich das vor Gott thun muß!«

»Jetzt spricht er noch obendrein von Gott! Gott! Was für'n Gott! Sie hätten besser gethan, früher an Gott zu denken, als ...«

Sie hielt offenen Mundes inne, und jetzt spürte Nechludoff zum erstenmale den starken Branntweingeruch, der ihrem Munde entströmte; er begriff die Ursache ihrer Aufregung und sagte:

»Beruhige dich!«

»Ich brauche mich nicht zu beruhigen. Du glaubst, ich bin betrunken? Nun denn ja, ich bin betrunken, aber ich weiß, was ich spreche!« versetzte sie in einem Zuge mit blutrotem Gesicht. »Ich bin eine öffentliche Dirne, eine Zuchthäuslerin, und Sie sind ein vornehmer Herr, ein Fürst. Sie haben nichts mit mir zu schaffen. Geh' doch zu deinen Fürstinnen!«

»So grausam du auch mit mir sprichst, deine Worte sind nichts im Vergleich zu dem, was ich selbst empfinde,« versetzte Nechludoff ganz leise und zitternd. »Du kannst dir nicht denken, wie sehr ich mir meiner Schuld gegen dich bewußt bin!«

»Deiner Schuld bewußt warst du!« versetzte sie mit bösem Lachen. »Als du mir die hundert Rubel zustecktest, da warst du dir ihrer nicht bewußt!«

»Ich weiß, ich weiß; doch was soll ich jetzt thun? Ich habe mir geschworen, dich nicht zu verlassen, und werde das ausführen, was ich gesagt habe.«

»Und ich sage dir, du wirst es nicht ausführen!«

»Katuscha!« sagte Nechludoff und versuchte, ihre Hand zu ergreifen.

»Rühr' mich nicht an! Ich bin eine Zuchthäuslerin, und du bist ein Fürst; du hast hier nichts zu suchen!« rief sie, toll vor Zorn ihre Hand zurückziehend. »Geh' fort,« fuhr sie fort, »ich hasse dich; alles ekelt mich bei dir an, dein Lorgnon, Und dein ganzes schmutziges, fettes Gesicht! Geh'! Geh' deiner Wege!«

Mit schneller Bewegung sprang sie auf die Füße.

Der Aufseher näherte sich ihr.

»Was hast du hier Skandal zu machen?«

»Lassen Sie sie, bitte,« sagte Nechludoff.

»Ich werde dich lehren, dich so zu vergessen,« fuhr der Aufseher fort.

»Ich bitte Sie, warten Sie noch eine Minute!«

Der Aufseher entfernte sich und setzte sich wieder ans Fenster.

Auch die Maslow setzte sich wieder. Sie schlug die Augen nieder und fing an, fieberhaft mit den zusammengedrückten Fingern ihrer kleinen Hände zu spielen.

Nechludoff stand neben ihr und wußte nicht, was er thun sollte.

»Du glaubst mir nicht?« fragte er.

»Was glaube ich nicht? Daß Sie mich heiraten wollen? Nein, nein, das wird nie geschehen! Lieber würde ich mich aufhängen! So, das merken Sie sich!«

»Gleichviel! Trotzdem werde ich dir weiter dienen!«

»Das ist Ihre Sache! Aber ich bedarf Ihrer nicht. So wahr ich es Ihnen sage! – Warum bin ich damals nicht gestorben!« fügte sie hinzu und brach in Thränen aus.

Nechludoff wollte zu ihr sprechen, doch er war nicht dazu im stande. Der Anblick dieser Thränen zerriß ihm das Herz.

Nach kurzer Pause erhob sie wieder die Augen, warf einen gleichsam erstaunten Blick auf ihn und fing an, sich mit ihrem Tuch die Thränen abzutrocknen, die ihr über die Wangen liefen.

Der Schließer, der sich wieder näherte, erklärte, der Zeitpunkt, sie zurückzuführen, wäre gekommen.

»Sie sind heute aufgeregt. Wenn es möglich ist, werde ich morgen wiederkommen. Denken Sie inzwischen nach!« sagte Nechludoff.

Sie gab keine Antwort, sondern ging, ohne ihn anzusehen, mit dem Schließer hinaus.

»Na, meine Kleine, nun werden sie dich aus der Patsche ziehen!« sagte die Korablewa zur Maslow, als diese in ihre Zelle trat; »er wird dich schon 'rauskriegen! Den reichen Leuten ist ja alles möglich!«

»Das ist wahr,« versetzte die Eisenbahnwärterin mit ihrer singenden Stimme, »Der reiche Mann braucht nur etwas zu wünschen, und alles geschieht, wie er es will. Da war mal einer bei uns ...«

».Haben Sie mit ihm gesprochen?« fragte die kleine Alte.

Doch die Maslow warf sich, ohne jemandem zu antworten, auf ihr Bett und blieb, vor sich hinstarrend, bis zum Abend liegen.

Was ihr Nechludoff gesagt, hatte die Vision einer Welt in ihr erweckt, in der sie gelitten und die sie verlassen hatte; sie hatte diese Welt zu hassen angefangen und glaubte, sie auf ewig vergessen zu haben. Jetzt war diese Vergessenheit, in der sie gelebt, verschwunden; doch andererseits war ihr die helle, klare Erinnerung der Vergangenheit unerträglich. Gegen Abend kaufte sie sich eine neue Flasche Branntwein und leerte sie mit ihren Genossinnen.

»So also steht's!« sagte sich Nechludoff, während er die langen Gefängniskorridore entlangging.

Erst jetzt war er sich zum erstenmal über die Ausdehnung seiner Schuld klar. Hätte er nicht versucht, seine Schuld zu sühnen, sie wieder gutzumachen, er hätte die ganze Ausdehnung nie so gefühlt; und auch Katuscha hätte die Ungeheuerlichkeit des Leids, das er ihr zugefügt, niemals empfunden! Zum erstenmal kam das alles in seinem ganzen Greuel ans Tageslicht.

Bis dahin hatte Nechludoff über sich selbst Rührung empfunden; seine Buße war ihm als ein Spiel erschienen, doch jetzt erfaßte ihn ein wahres Entsetzen. Diese Frau zu verlassen, war jetzt für ihn etwas Unmögliches; doch was sich aus seinen Beziehungen mit ihr entwickeln sollte, das konnte er sich nicht vorstellen.

Vor der Thür des Gefängnisses sah er, wie ein Aufseher, ein Mann mit tückischer und abstoßender Miene, von stark ausgeprägtem jüdischen Typus auf ihn zutrat, der ihm geheimnisvoll ein Papier in die Hand steckte.

»Das ist für Ew. Excellenz,« flüsterte er. »Es ist ein Brief von einer gewissen Person ...«

»Von was für einer Person?«

»Ew. Excellenz mache sich die Mühe, zu lesen, dann werden Sie schon sehen! Eine Gefangene von der politischen Abteilung. Ich habe die Aufsicht über sie. Da hat sie mich denn gebeten ... Es ist verboten, aber aus Menschlichkeit ...« fügte der Aufseher in heuchlerischem Tone hinzu.

Etwas überrascht, daß ein Aufseher einen solchen Auftrag übernahm, steckte Nechludoff das Papier in die Tasche und las es schnell, sobald er das Gefängnis verlassen hatte. Man hatte ihm mit Bleistift in aller Hast folgende Worte geschrieben:

»Da ich erfahren habe, daß Sie in das Gefängnis kommen und sich für eine Gefangene der Kriminalabteilung interessieren, so möchte ich gern mit Ihnen sprechen. Kommen Sie um die Erlaubnis ein, mich sehen zu können. Man wird sie Ihnen bewilligen und ich werde Ihnen sowohl für Ihren Schützling, wie für unsere Gruppe wichtige Dinge sagen. Wera Bogoduschoffska.«

»Bogoduschoffska! Wo habe ich diesen Namen schon gehört?« fragte sich Nechludoff, der von der Erinnerung an seine Unterredung mit Katuscha noch ganz erschüttert war. »Ach ja, ich erinnere mich! Die Tochter des Kirchendieners, während der Bärenjagd!«

Wera Bogoduschoffska war Erzieherin in einem Dorfe des Gouvernements Nowgorod, als Nechludoff auf einer Bärenjagd in jenes Dorf gekommen war. Die Erzieherin hatte den jungen Mann um Geld gebeten, damit sie ihre Schule aufgeben und an der Universität studieren konnte. Nechludoff hatte ihr die gewünschte Summe gegeben und seitdem nie wieder etwas von ihr gehört. Und jetzt erschien diese Person als politische Gefangene vor ihm und versprach, ihm wichtige Dinge über die Maslow mitzuteilen!

Wie einfach und leicht war damals alles, und wie schwer und verwickelt war es jetzt! Nechludoff empfand eine wahre Erschütterung, als er sich an den Tag erinnerte, da er die Bogoduschoffska kennen gelernt.

Es war am Tage vor dem Karneval, in einem einsamen Dorfe, sechzig Werst von der nächsten Eisenbahnstation. Die Jagd war sehr glücklich gewesen. Man hatte zwei Bären erlegt, vorzüglich gespeist und wollte eben wieder aufbrechen, als der Wirt der kleinen Herberge ihnen sagte, die Tochter des Kirchendieners wolle mit dem Fürsten Nechludoff sprechen.

»Ist sie hübsch?« hatte einer der Jäger gefragt.

»Das werden wir gleich sehen,« hatte Nechludoff geantwortet, war dann mit der ernsthaftesten Miene von der Welt vom Tische aufgestanden, hatte sich den Mund gewischt und war hinausgegangen, ohne sich recht zu denken, was die Tochter eines Kirchendieners von ihm wollte.

Im Nebenzimmer stand, in einen großen Bauernpelz gehüllt, doch mit einem Filzhut aus dem Kopfe, ein mageres, knochiges junges Mädchen mit einem langen, anmutslosen Gesicht, in welchem allein die Augen einige Schönheit besaßen.

»Da ist der Fürst, Wera Efremowna,« hatte der Gastwirt gesagt und sie im Zimmer allein gelassen.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte Nechludoff.

»Ich, ich ... Sehen Sie, Sie sind reich, und geben Ihr Geld aus, um dafür zu jagen und sich zu amüsieren. Ich weiß das und wünsche nur eins, mich andern nützlich zu machen. Aber ich kann nichts thun, weil ich nichts verstehe.«

»Und was kann ich für Sie thun?«

»Ich bin hier Erzieherin und möchte zur Universität gehen, doch man läßt mich nicht hin. Oder vielmehr, man läßt mich schon hin, aber ich brauche Geld. Geben Sie mir Geld; wenn ich meine Studien beendet habe, werde ich es Ihnen zurückgeben. Ich sage mir: »Die reichen Leute gehen auf die Bärenjagd, machen die Muschiks betrunken, und das alles ist schlecht; warum sollten sie nicht auch ein bißchen Gutes thun?« Ich brauche nur achtzig Rubel; wenn Sie nicht wollen, so schadet es auch nichts ...«

»Aber im Gegenteil, ich bin Ihnen für die Gelegenheit, die Sie mir geben, sehr dankbar; ich werde Ihnen das Geld sofort bringen.«

Nechludoff war in das Gastzimmer zurückgegangen; ohne auf die Witzeleien seiner Kameraden zu achten, hatte er aus seiner Reisetasche vier Zwanzigrubelscheine genommen und sie ihr gebracht.

»Ich bitte Sie,« hatte er ihr erklärt, »danken Sie mir nicht, ich bin Ihnen Dank schuldig.«

Nechludoff erinnerte sich jetzt daran mit großem Vergnügen, wie er sich fast mit einem seiner Kameraden gezankt, der über die Geschichte hatte spötteln wollen, und wie die ganze Jagd glücklich und fröhlich gewesen war und er sich in heiterster Stimmung befunden hatte, als er von dem Dorfe zur Eisenbahnstation zurückgekommen war. Und nun war diese Wera Efremowna eine Revolutionärin geworden und wegen ihrer politischen Meinung ins Gefängnis gekommen. Nechludoff entschloß sich, sie aufzusuchen, denn vielleicht konnte sie ihm etwas Interessantes sagen, wie man der Maslow ihr Schicksal erleichtern konnte.


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