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II.

Der junge Gutsherr hatte – wie er seiner Tante geschrieben – Regeln aufgestellt, nach denen er nun handeln wollte; sein ganzes Leben und alle seine Beschäftigungen waren nach Stunden, Tagen und Monaten eingeteilt. Der Sonntag war für den Empfang der Bittsteller, der Hofleute und Bauern bestimmt, ferner für den Rundgang durch die armen Bauernhöfe und für Hilfeleistungen im Einverständnis mit dem Gemeinderat, der sich an jedem Sonntagabend versammelte und zu entscheiden hatte, wem und wie geholfen werden sollte. In solcher Tätigkeit war mehr als ein Jahr vergangen, und der junge Mann war nun weder in der Praxis noch in der Theorie der Landwirtschaft ein Neuling.

Es war ein klarer Junisonntag, als Nechljudow nach dem Kaffee und der Lektüre eines Kapitels aus » Maison rustique«, das Notizbuch und ein Päckchen Papiergeld in der Tasche seines leichten Überziehers, aus dem großen, von Säulen und Terrassen umgebenen Gutshause trat, in dessen unterem Stock er ein kleines Zimmer bewohnte. Er schritt über die ungeputzten, verwachsenen Wege des alten englischen Gartens dem Dorfe zu, das zu beiden Seiten der Landstraße lag. Nechljudow war ein hochgewachsener, schlanker, junger Mann mit langem, dichtem, gelocktem, dunkelblondem Haar, mit hellem Glanz in den schwarzen Augen, mit frischen Wangen und roten Lippen, über denen sich eben erst der zarte Flaum der Jugend zeigte. Aus seinem Gange, aus allen seinen Bewegungen sprachen Kraft, Energie und die gutmütige Selbstzufriedenheit der Jugend. Das Landvolk kehrte in bunten Gruppen aus der Kirche heim; Greise, junge Mädchen, Kinder, Frauen mit Säuglingen, alle in Feiertagskleidern, gingen mit tiefem Bückling an dem Herrn vorbei, traten ihm aus dem Wege und verteilten sich in ihren Hütten. Als Nechljudow die Dorfstraße erreicht hatte, blieb er stehen, zog sein Notizbuch aus der Tasche und las auf der letzten, mit kindlichen Schriftzügen bedeckten Seite einige Bauernnamen und Randbemerkungen. »Iwan Tschurißjonok – bittet um Stangen,« las er obenan. Er bog in die Straße ein und näherte sich dem zweiten Bauernhause auf der rechten Seite.

Tschurißjonoks Wohnung bestand aus einer Hütte von morschen, an den Ecken verfaulten Balken, die auf die Seite geneigt und so in den Boden gesunken war, daß das eine zerschlagene Schiebefenster mit dem halb zerfallenen Laden und ein zweites, mit Wollabfall verstopftes, sich dicht über der Düngergrube befanden. Ein aus Brettern errichteter Flur mit niedriger Tür und verfaulter Schwelle, ein – zweiter kleiner Holzverschlag, noch verfallener und noch niedriger als die Flur, ein Tor und ein kleiner Speicher aus Flechtwerk lehnten sich an die Hütte. Alles dies war einst mit einem gemeinsamen, unregelmäßigen Dache überdeckt gewesen, jetzt aber hing nur noch auf einer Seite dichtes, schwarzes, faulendes Stroh, während oben an manchen Stellen das Lattenwerk und die Sparren zu sehen waren. Vor dem Tor befand sich ein Brunnen mit zerfallener Einfassung und den Überresten eines Pfostens und des Brunnenrades, umgeben von einer schmutzigen, vom Vieh ausgetretenen Pfütze, in welcher Enten plätscherten. Neben dem Brunnen standen zwei alte, rissige und gebrochene Weiden mit wenigen blaßgrünen Zweigen. Unter einer dieser Weiden, die davon zeugten, daß irgendwann und durch irgendwen für die Verschönerung dieses Platzes gesorgt worden war, saß ein etwa achtjähriges blondes Mädchen und ließ ein anderes, zweijähriges, um sich herumkriechen. Als der junge Hofhund, der neben den Kindern lag, den Herrn erblickte, stürzte er auf das Tor los und brach in ein erschrecktes, zitterndes Gekläff aus.

»Ist Iwan zu Hause?« fragte Nechljudow.

Das ältere Mädchen schien starr vor Staunen, riß die Augen immer weiter auf und antwortete nicht; das kleinere aber öffnete den Mund und machte sich bereit, loszuweinen. Eine kleine, ältliche Frau in zerrissenem, kariertem Leinenrock mit altem, rotem Gürtel blickte zur Tür heraus, antwortete aber ebenfalls nicht. Nechljudow näherte sich dem Flur und wiederholte seine Frage.

»Er ist zu Hause, Wohltäter!« sagte die Frau endlich mit zitternder Stimme, indem sie sich tief verneigte und in ängstliche Aufregung geriet.

Als Nechljudow ihre Begrüßung erwidert und sich durch den Flur in den engen Hof begeben hatte, folgte die Alte ihm bis zur Tür, stützte die Wange in die flache Hand, ließ die Augen nicht von ihm und wiegte den Kopf hin und her. Auf dem Hof sah es armselig aus; hier und da häufte sich nicht abgeführter alter Dünger, auf dem ein morscher Holztrog, eine Heugabel und zwei Eggen unordentlich umherlagen. Die offenen Schuppen rings um den Hof, unter denen ein Pflug, ein Wagen ohne Rad und ein Stoß zusammengeworfener, leerer, unbrauchbarer Bienenstöcke standen, waren fast ganz abgedeckt und an der einen Seite so zusammengefallen, daß die Querbalken vorne nicht mehr auf den Stützen, sondern direkt auf dem Düngerhaufen lagen. Iwan Tschurißjonok arbeitete mit der Axt an einem geflochtenen Zaune, den das Dach niedergedrückt hatte. Iwan war ein kleiner Mann von etwa fünfzig Jahren. Die Züge seines sonngebräunten, ovalen Gesichtes, das ein dichter, dunkelblonder, graumelierter Bart und ebensolches Haar umrahmten, waren hübsch und ausdrucksvoll. Seine dunkelblauen Augen blickten unter den halbgesenkten Lidern klug und gutmütig sorglos. Der kleine, regelmäßige Mund, der sich scharf von dem blonden Schnurrbart abhob, wenn er lächelte, drückte ruhiges Selbstvertrauen aus und eine gewisse spöttische Gleichgültigkeit gegen seine ganze Umgebung. Seine rauhe Haut, die tiefen Runzeln, die stark hervortretenden Adern am Halse, im Gesicht und aus den Händen, die unnatürliche Gedrungenheit des Körpers und die krummen Beine ließen darauf schließen, daß sein ganzes Leben in allzu schwerer, seine Kräfte übersteigender Arbeit hingegangen war. Sein Anzug bestand aus weißen, hanfleinenen Beinkleidern, denen an den Knien blaue Flicken eingesetzt waren, und einem ebensolchen, schmutzigen, an Rücken und Ärmeln fadenscheinigen Hemde, das mit einem Zwirnband umgürtet war; an dem Bande hing ein kleiner Messingschlüssel.

»Helf' dir Gott!« Der in Rußland übliche Gruß, wenn man sich einer arbeitenden Person nähert. (Anm. d. Übers.) sagte Nechljudow, den Hof betretend.

Iwan blickte sich um und arbeitete dann ruhig weiter. Erst als er den Zaun mit energischem Ruck unter dem Dach hervorgezogen hatte, stemmte er die Axt an einen Holzklotz, rückte seinen Gürtel zurecht und trat in die Mitte des Hofes.

»Wünsch' frohen Feiertag, Euer Durchlaucht!« sagte er, indem er sich tief verneigte und sein Haar aus der Stirn schüttelte.

»Ich danke, mein Lieber. Ich bin gekommen, mir deinen Hof anzusehen,« antwortete Nechljudow mit kindlicher Freundlichkeit und Befangenheit, während er die Kleidung des Bauern musterte. »Zeig' mir einmal, wozu du die Stangen brauchst, um welche du mich bei der Versammlung gebeten hast.«

»Die Stangen? Man weiß doch, wozu man Stangen braucht, Väterchen Durchlaucht! Ich wollte wenigstens ein ganz klein wenig stützen. Geruhen Sie nur hinzusehen: kürzlich ist die Ecke da eingestürzt; es war eine Gnade Gottes, daß das Vieh um die Zeit nicht hier war. Und das da hält sich kaum noch, alles will zusammenfallen,« sprach Iwan, indem er einen verächtlichen Blick auf seine abgedeckten, schiefen und zerfallenen Schuppen warf; »wenn man die Sparren, das Gewände, die Balken nur anrührt, so fallen sie schon zusammen, keine Faser gesunden Holzes ist mehr dran. Und wo soll man heutzutage Holz hernehmen? Durchlaucht wissen's ja selbst!«

»Was sollen dir also die fünf Stangen, wenn ein Schuppen bereits eingestürzt ist und die anderen bald folgen werden? Nicht Stangen brauchst du, sondern Sparren, Balken, Pfosten, – es muß ja alles neu gemacht werden!« sagte der Herr mit merklichem Stolz auf seine Sachkenntnis.

Tschurißjonok schwieg.

»Du brauchst also Bauholz und nicht Stangen; das hättest du gleich sagen müssen.«

»Natürlich brauch ich das, aber woher soll ich's nehmen? Ich kann doch nicht immer ins Herrenhaus laufen! Wenn unsereins daran gewöhnt wird, wegen jeder Kleinigkeit zu Eurer Durchlaucht auf den Gutshof betteln zu gehen, was werden wir da für Bauern sein? Wenn Sie aber die Gnade haben wollen – die Eichenkronen, die in der herrschaftlichen Scheune unnütz umherliegen –« sagte Iwan, sich verneigend und von einem Fuß auf den andern tretend, »ich könnte dann einige Balken auswechseln, andere zustutzen und so aus dem Alten so gut es geht –«

»Warum denn aus dem Alten? Du sagst doch selbst, daß alles morsch und verfault ist! Heute ist diese Ecke eingestürzt, morgen wird jene an die Reihe kommen und übermorgen die dritte! Wenn man da etwas machen soll, muß man's gleich ordentlich machen. Sag' einmal, glaubst du, daß dein Hof sich den Winter über noch halten wird?«

»Wer kann das wissen!«

»Aber was meinst du, wird er einstürzen oder nicht?«

Iwan dachte ein wenig nach.

»Er wird wohl ganz zusammenfallen,« sagte er plötzlich.

»Nun siehst du! Hättest du doch lieber bei der Zusammenkunft erzählt, daß du deinen Hof neu bauen mußt, und nicht nur um Stangen gebeten. Ich freue mich ja, wenn ich dir helfen kann.«

»Ich bin sehr dankbar für die Gnade,« antwortete Iwan mißtrauisch und ohne den Herrn anzublicken; »wenn Sie mir nur etwa vier Balken und ein paar Stangen zu geben geruhen, werde ich mich vielleicht allein durchschlagen; und was als Bauholz nicht zu brauchen ist, kann zum Stützen der Wohnstube benützt werden.«

»Ist denn auch die Stube schlecht?«

»Mein Weib und ich warten nur darauf, daß sie heut' oder morgen einen erdrückt,« entgegnete Iwan gleichmütig; »neulich erst hat eine Deckenlatte mein Weib erschlagen.«

»Erschlagen?!«

»Na ja, Euer Durchlaucht: einen Schlag auf den Rücken hat die Alte gekriegt, daß sie bis zum Abend wie tot dagelegen ist.«

»Nun, und ist's besser geworden?«

»Das wohl, aber sie kränkelt noch immer. Sie ist übrigens schon von Geburt an kränklich.«

»Bist du krank?« fragte Nechljudow die Frau, die noch immer an der Tür stand und sofort zu stöhnen begann, als der Mann von ihr sprach.

»Hier packt's mich oft, und dann ist's aus mit mir,« antwortete sie und wies auf ihre schmutzige, hagere Brust.

»Also!« sagte der junge Herr ärgerlich und achselzuckend, »warum meldest du dich denn nicht im Krankenhause, wenn dir etwas fehlt? Dazu ist das Krankenhaus doch da! Hat man euch das noch nicht gesagt?«

»Man hat's uns wohl gesagt, Wohltäter, aber ich hab' keine Zeit! Da ist die Fronarbeit, dann das Haus, die Kinder, – ich bin immer allein bei der Arbeit. Wir haben ja sonst niemand!«


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