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Fürst Andreas logierte in Brünn bei einem Bekannten, dem russischen Diplomaten Bilibin.
»Ah, lieber Fürst, kein Gast könnte mir angenehmer sein,« rief Bilibin bei der Begrüßung. »Franz, trage die Sachen des Fürsten in mein Schlafzimmer,« befahl er dem Diener, der den Fürsten hereingeführt hatte. »Sie kommen als Siegesbote, nicht wahr? Ausgezeichnet! Ich aber sitze hier als Kranker, wie Sie sehen.«
Fürst Andreas kleidete sich um und begab sich dann in das elegante Arbeitszimmer des Diplomaten, um das schnell bereitete Mahl zu sich zu nehmen. Bilibin machte sich's am Kamin bequem.
Nach der langen Reise und nach allen Unbequemlichkeiten des Feldzuges genoß Fürst Andreas die Ruhe in der eleganten Umgebung, wie er sie von Kindheit an gewöhnt war, um so mehr. Auch war es ihm lieb, nach dem österreichischen Empfang, wenn auch nicht russisch (sie sprachen französisch), so doch mit einem Russen zu sprechen.
»Nun, erzählen Sie mal von Ihren Heldentaten,« sagte Bilibin.
Bolkonskij erzählte ohne Phrasen und ohne seiner selbst zu erwähnen von dem Gefecht und vom Empfang beim Kriegsminister. »Sie haben mich mit meiner Nachricht empfangen wie einen Hund, der in ein Kegelspiel geraten ist,« schloß er.
Bilibin lächelte.
»Aber, mon cher,« sagte er, indem er angelegentlich seine Nägel betrachtete, »bei aller Hochachtung für das rechtgläubige russische Heer muß ich gestehen, daß euer Sieg nicht gerade einer der glorreichsten ist. Ihr habt euch mit der ganzen Masse der Truppen auf die eine einzige Division des armen Mortier geworfen, und dieser Mortier ist euch durch die Finger geschlüpft! Wo ist da der Sieg?«
»Aber ernsthaft gesprochen,« erwiderte Fürst Andreas, »wir können wohl ohne Prahlerei behaupten, daß das etwas besser ist als die Geschichte bei Ulm.«
»Warum habt ihr nicht einen, wenigstens einen Marschall gefangen genommen?«
»Weil nicht alles so geschieht, wie man es voraussetzt, und wie es bei einer Parade zugeht. Wie ich Ihnen schon sagte, wir hatten gehofft, um sieben Uhr morgens dem Feind in den Rücken fallen zu können, aber wir waren auch um fünf Uhr abends noch nicht so weit.«
»Warum gelang es Ihnen nicht um sieben Uhr morgens? Es hätte gelingen müssen,« erwiderte Bilibin lächelnd; »es hätte um sieben Uhr morgens gelingen müssen.«
»Warum haben Sie nicht Bonaparte auf diplomatischem Wege dazu bringen können, daß er Genua lasse?« fragte Fürst Andreas im selben Tone.
»Ich weiß,« unterbrach ihn Bilibin, »Sie meinen, es ist sehr leicht, Marschälle gefangen zu nehmen, wenn man vor dem Kamin auf dem Divan sitzt. Das ist ja wahr, aber immerhin, warum haben Sie keinen Marschall gefangen genommen? Und wundern Sie sich nicht, daß nicht nur der Kriegsminister, sondern auch Seine Majestät Kaiser Franz über Ihren Sieg nicht allzu glücklich sein werden; und auch ich, der unglückliche Sekretär der russischen Gesandtschaft, verspüre keinen Drang zu besonderer Freude.« Er blickte dem Fürsten Andreas grade ins Gesicht.
»Jetzt ist die Reihe an mir, mein Lieber, zu fragen, warum?« sagte Bolkonskij, »ich muß gestehen, ich begreife das nicht; vielleicht gibt es da irgend welche diplomatische Feinheiten, die meinen schwachen Verstand übersteigen, aber ich begreife nicht: General Mack verliert eine ganze Armee, Erzherzog Ferdinand und Erzherzog Karl geben kein Lebenszeichen von sich und begehen einen Fehler nach dem andern; Kutusow endlich trägt einen wirklichen Sieg davon, vernichtet den Charme der Franzosen, und der Kriegsminister interessiert sich nicht einmal für die Einzelheiten!«
»Eben deshalb, mein Lieber. Voyez-vous, mon cher: Hurra für den Zaren, für Rußland, für den Glauben! Tout ça est bel et bon, aber was haben wir – ich meine, was hat der österreichische Hof mit eurem Sieg zu tun? Bringen Sie uns die schöne Nachricht von einem Siege des Erzherzogs Karl oder Ferdinand, wenn's auch nur ein Sieg über das Feuerwehrkommando Bonapartes wäre, – das ist eine andere Sache. So aber ist's ja, als wenn ihr uns nur verspotten wolltet. Einen General, den wir alle lieben, Schmidt, laßt ihr totschießen, und dann gratuliert ihr uns zum Sieg! Geben Sie zu, daß es nichts Ärgerlicheres geben kann, als die von Ihnen überbrachte Nachricht! Im übrigen aber, was kann ein glänzender Sieg, und sei es selbst ein Sieg des Erzherzogs Karl, am allgemeinen Lauf der Dinge noch ändern? Jetzt ist's schon zu spät, da Wien bereits von französischen Truppen besetzt ist.«
»Besetzt? Wien von französischen Truppen besetzt?«
»Nicht nur das: Bonaparte sitzt in Schönbrunn, und unser lieber Graf Wrbna begibt sich zu ihm, um nach seinen Befehlen zu fragen.«
Bolkonskij fühlte, daß er nach der Ermüdung und den Eindrücken der Reise, nach dem Empfang und besonders nach dem Diner die volle Bedeutung der Worte, die er hörte, nicht begriff.
»Heute morgen war Graf Lichtenfels hier,« fuhr Bilibin fort, »und zeigte mir einen Brief, in welchem eine Parade der Franzosen in Wien genau beschrieben ist. Sie sehen, Ihr Sieg ist nichts allzu Freudvolles, und Sie können nicht erwarten, wie ein Retter aus schwerer Not empfangen zu werden.«
»Mir ist's wirklich gleichgültig, vollkommen gleichgültig,« sagte Fürst Andreas, der zu begreifen anfing, daß die Nachricht von der Schlacht bei Krems im Verhältnis zu den Ereignissen und der Einnahme der österreichischen Hauptstadt durch die Franzosen in der Tat wenig Bedeutung hatte. »Wie konnte Wien eingenommen werden? Und die Brücke? Und der berühmte Brückenkopf und Fürst Auersperg? Man erzählt bei uns, daß Fürst Auersperg Wien verteidige,« sagte er.
»Fürst Auersperg steht auf dem diesseitigen Ufer, und Wien liegt auf dem jenseitigen. Nein, die Brücke ist noch nicht genommen, und ich hoffe, sie wird auch nicht genommen werden, denn sie ist unterminiert, und es ist Befehl erteilt, sie in die Luft zu sprengen. Andernfalls wären wir schon längst in den böhmischen Bergen, und ihr mit eurer Armee hättet eine unangenehme Viertelstunde zwischen zwei Feuern erlebt.«
»Das bedeutet aber immer noch nicht, daß der Feldzug zu Ende ist,« sagte Fürst Andreas.
»Ich denke, er ist zu Ende; und ich glaube, alle andern hier denken dasselbe, sie wagen nur nicht, es auszusprechen. Es wird so kommen, wie ich am Anfang des Feldzuges prophezeit habe: nicht Ihre echauffourée von Dürnstein wird die Entscheidung bringen, – die Entscheidung wird überhaupt nicht durch Pulverdampf kommen, sondern von denen gebracht werden, die den ganzen Krieg ersonnen haben,« sagte Bilibin, »es handelt sich nur darum, was die Berliner Zusammenkunft des Kaisers Alexander mit dem preußischen König zu bedeuten hat. Wenn Preußen der Allianz beitritt, on forcera la main à l'Autriche, und es wird weiter gekämpft werden. Wenn nicht, so wird nur zu entscheiden sein, wo die ersten Paragraphen des neuen Campo Formio zu entwerfen sind.«
»Aber welch ungewöhnliche Genialität!« rief Fürst Andreas aus, indem er seine kleine Hand zur Faust ballte und auf den Tisch schlug, »und welch ein Glück dieser Mensch hat! Aber glauben Sie wirklich, daß der Feldzug zu Ende ist?«
»Ich denke folgendes: Österreich ist zum Narren gehalten worden, und daran ist es nicht gewöhnt. Es wird sich rächen. Entre nous, mon cher: ich ahne, daß man uns hintergeht; ich ahne Verhandlungen mit Frankreich und Pläne zu einem heimlichen Frieden, der ohne uns abgeschlossen werden wird.«
»Das kann nicht sein,« erwiderte Fürst Andreas, »das wäre zu häßlich.«
» Qui vivra – verra,« sagte Bilibin.
Als Fürst Andreas in das für ihn hergerichtete Zimmer kam und sich in das saubere Bett mit den weichen Pfühlen und gewärmten, duftigen Kissen legte, war's ihm, als läge die Schlacht, von welcher er zu berichten hatte, weit, weit hinter ihm. Die Allianz mit Preußen, Österreichs Untreue, Bonapartes neuer Triumph, die morgige Parade und seine Audienz bei Kaiser Franz beschäftigten ihn. Er schloß die Augen, doch im selben Augenblick klang in seinen Ohren wieder die Kanonade, er hörte wieder das Knattern des Gewehrfeuers, den Lärm der Räder, und er sah im Geist abermals die französischen Truppen den Berg herunterstürmen, sein Herz erbebte wieder, er durchlebte nochmals den Augenblick, da er neben General Schmidt dem Feinde entgegengeritten war, da die Kugeln lustig um ihn pfiffen und er eine Lebensfreude empfand, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr gekannt hatte. Er erwachte.
»Ja, das alles ist gewesen,« sagte er zu sich selbst mit glücklichem, kindlichem Lächeln und versank in den festen Schlaf der Jugend.