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Ich kehrte mit einigen Leuten nach der Dschungel zurück, um de Ruyter zu suchen, dessen lange Abwesenheit mich beunruhigte. Endlich hörte ich, wie er einen seiner Begleiter beim Namen rief und sich besorgt nach seinem französischen Schreiber erkundigte. Suchen, Schreien, Schießen war vergeblich. Die schnell einbrechende Nacht machte es ratsam, die Wiege von Tigern, Gewürm und Fieber zu räumen. Was mochte nur aus dem Franzosen geworden sein?
Dem jungen Mann hatte de Ruyter voll Teilnahme an seinem Mißgeschick und Trübsinn Freundschaft geschenkt. Er hatte ihn aus der Schreibstube eines seiner Unterhändler auf Isle de France geholt und die Reise als Ladungsaufseher mitmachen lassen. Zuerst kam er seinen Pflichten pünktlich nach, hockte jedoch untertags meist in seiner Kammer und verkehrte nur mit seinem Gönner. Scheinbar lebte er von der Luft. Lesen und Schreiben, für ihn als Dichter einziger Trost, hatten ihren Reiz verloren. Tagelang war er in schwermütige Grübeleien versunken, die er nur gelegentlich durch Selbstgespräche oder eintönige Griffe auf einer schadhaften Gitarre unterbrach. Selten sah ich ihn auf der Grab und war, durch seine Zurückhaltung verschnupft, töricht genug, sie ihm zu verübeln. Ich erkannte nicht, daß er stumm war aus Kummer, nicht aus Hochmut. Einmal saß er auf der Heckreling, seinem Lieblingsplatz. Als ich ihn etwas fragte, hörte er in seiner Gedankenlosigkeit nicht hin. Ich machte eine beißende Bemerkung. Obwohl sie ihn zu verletzen schien, blieb er ruhig und verzog sich in seinen Verschlag. Scolpvelt hatte zugehört und meinte: »Sie sind schwer im Unrecht. Er bläst Trübsal und wenn er mir nicht folgt, schnappt er sicher über. Er konsumiert mehr Opium als ein Chinese. Man möchte ihn für 'nen verträumten Philosophen halten. Seine Geisteskräfte sind durch das Narkotikum schon in Unordnung geraten. Er ist hirnschellig, – liest und macht er doch Verse! Ich hab' ihn dabei ertappt. Dummköpfe könnten sagen, er sei ›inspiriert‹ gewesen; ich weiß aber, daß es das erste, schlimmste Symptom des Irrsinns ist. Alle andern Idioten haben lichte Momente, einige sind zu bessern; die Manie der Dichter, Hunde, Musiker ist hoffnungslos! Die Erde hat kein Medikament, die Wissenschaft keine Therapie dafür.«
Ich blieb nachts an Deck und wartete auf de Ruyter, der an Land war. Alles schlief. Plötzlich kam der Franzose zur Luke herauf. Sein Antlitz war noch fahler als der flimmernde Mond. Er schritt ein paarmal ums Verdeck, als ob er jemand suche. Ich dachte an Torra: vielleicht sann auch er auf Rache, weil er sich von mir beleidigt glaubte. Indes blieb ich ruhig liegen, die Lider so weit geschlossen, daß er mich für schlummernd halten mußte. Ein Weilchen musterte er mich. Hätte er eine Waffe gehabt, ich wäre aufgesprungen; aber sein Auge war stumpf, die Hand hing schlaff herab. Er ging nach achter, schob einen Kugelkasten fort und erstieg seinen gewöhnlichen Platz auf dem Heckbord. Er schaute in den Mond, dann ins Wasser. Dabei murmelte er etwas Unverständliches, verlor das Gleichgewicht und fiel in die See. Ich riß mich sofort auf und weckte die nächsten Schläfer. »Mann über Bord! Sternboot achteraus runter!«
Der Schoner lag unmittelbar hinter uns. In der Stille hörten sie drüben meine Befehle und bestiegen ihr Boot, als ich abstieß. Den Blick fest auf der Unglücksstelle, die sich noch kräuselte, bemerkte ich nach einer bangen Pause den Körper in der viele Klafter durchsichtigen Flut. Unbedenklich warf ich mich hinein und war bald neben ihm. Ich packte ihn beim Arm, und ein guter Stoß brachte uns zur Oberfläche. Nun wechselte ich den Griff, um seinen Kopf zu heben; aber der Körper war so verkrümmt und schwer, daß ich selbst halb mit Wasser gefüllt wurde. Zwei Matrosen machten uns flott. Das Boot holte uns ein, und wir pullten mit dem Geretteten, der wie tot war, zur Grab.
Schwach, steif, mit dem Gefühl des Schädelberstens, fühlte mir Van den Puls: »Sie benötigen Arznei. Seewasser ist gut für 'nen ausgepichten Magen; Sie haben sich 'ne zu starke Dosis ordiniert. Ich verschreib nie mehr als ein Trinkglas morgens nüchtern.«
»Gehn Sie zu Ihrem Kranken unten, Doktor! Wenn ich ein Tönnchen geschluckt hab, so hat er ein Stückfaß im Leibe und muß platzen, wenn Sie ihn nicht lenzpumpen.«
»Wie lange war er drin?«
»Weiß nicht, – mir kam's wie 'ne Stunde vor.«
Der Reis: »Nein! Ich hab das Minutenglas sechsmal umgekehrt.«
Van: »So? Dann brauchen Sie nicht so nervös zu sein. Sie können getrost zwanzig Minuten unter Wasser bleiben, vorausgesetzt, ich bin da. Kommen Sie, – Sie werden sehen!«
Würdevoll schritt er in die Kajüte und ließ den Franzosen entkleidet auf einen Tisch legen. Nach Wärmezufuhr, Reibung, künstliche Atmung zeigten sich schwache Lebenszeichen. Louis, der mit seiner Steinflasche daneben stand, brachte sie ihm an den Mund und hätte ihn beinahe überschwemmt; Scolpvelt schob ihn unwillig beiseite. (Trotzdem beharrte Van später dabei, nicht der »Dokter« habe den Mann gerettet, sondern er; denn er habe ihn den Duft des Schiedamers riechen lassen!) Ein Fläschchen mit Äther wurde dem Scheintoten an die Nase gehalten und später einige verdünnte Tropfen davon eingeflößt. Aber erst nach Stunden schlug er die Augen auf und bewegte sich.
Er erholte sich wieder, und wir stellten fest, daß er sich ertränken wollte. Er hatte der Kiste zwei doppelte Kanonenladungen entnommen und sich, in jeder Hand eine, über Bord gestürzt.
Von nun ab verfiel er der schwärzesten Verzweiflung und war völlig teilnahmlos. Er sprach und aß nicht, außer wenn de Ruyter in ihn drang. Die Abneigung gegen mich, seit ich ihn herausgefischt hatte, war sichtlich sein einziges, restliches Gefühl. Wenn ein Zufall uns einander nahebrachte, starrte er mich voller Abscheu an.
Ungefähr nach einem Monat unternahmen wir die Pirsch, der er sich anschließen durfte. Er war hinten im Zuge, um nicht beobachtet zu werden. Im Jagdgebiet war er bedeutend wacher, – mir kam er gradezu vergnügt vor. Er stand bei de Ruyter, als wir in das Lager des ersten Tigers zurückkehrten, ließ aber seinen Hahn in Ruh; sein Stutzen fand sich später in der Nähe. Im Drunter und Drüber mag er sich entfernt haben.
»Ich schließe aus einigen Äußerungen«, meinte de Ruyter, »daß er sich den Tigern preisgegeben hat; er hatte mir versprochen, nicht mehr Hand an sich zu legen. Ich suchte ihm nach seiner Bergung den Selbstmord zu verleiden, und er antwortete traurig und zerstreut: ›Bin ich ein Sklave, daß ich nicht über meinen Körper verfügen darf, jetzt, wo er mir eine Bürde ist?! Nur im Tode ist Ruhe. Aber jener Teufel von Engländer hat mich in diese Hölle zurückversetzt, die für mich zehnfache Qual ist!‹«
Wir waidwerkten noch drei Tage, weniger zum Vergnügen, als um ihn vielleicht doch noch aufzuspüren. Aber die Nachsuche war fruchtlos.
Später erwies sich unwiderleglich, – sofern man nämlich (was ich nicht tue) menschlichen Eiden trauen darf, – daß sein Geist auf der Grab spukte. Man hörte seine stöhnenden Klagelaute im Winde. Die Schattengestalt ruhte auf dem Heckbord; näherte sich ein Beherzter, so stürzte sie in die See und folgte im Kielwasser. Die Matrosen beteuerten überdies unter Flüchen, daß er schon kein lebendiger Mensch gewesen sei, als er hergebracht wurde; der Kapitän hätte ihn gar nicht in die Listen eintragen dürfen, – er werde sie verfolgen, bis er begraben sei. De Ruyter konnte zum Schaden des Schiffs die Leute nachts lange nicht achteraus an den Großbaum bringen.