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Das Weihnachtsfest war herangekommen und hatte Pommerle wieder allerlei Freuden gebracht. Sie war so glücklich, daß sie von ihrem reichlichen Taschengeld, mit dem sie allerdings sehr sparsam umging, nicht nur die Eltern, sondern auch die Freundinnen und liebe Bekannte beschenken konnte. Ihre fleißigen Hände hatten sich emsig geregt; manches hübsche Stück war fertig geworden.
Aber auch Pommerles Gabentisch dünkte ihr schier überreich. Vor allem lag darauf ein wunderschönes rosa Kleid, Strümpfe, Schuhe, kurzum alles, was sie für die bevorstehende Hochzeit des geliebten Jugendfreundes, des Tischlers Jule Kretschmer, brauchte. Ihr gütiger Vater schenkte sogar ein neues Handtäschchen, in dem sich ein Zwanzigmarkschein für kleine Ausgaben in Glogau befand. »Ich schwimme in einem Meer«, sagte Pommerle, »die Wellen stürzen über meinen Kopf, jede Welle schüttet einen neuen Glücksrausch über mich aus.«
»Wenn du so berauscht bist, mein liebes Pommerle, können wir dich nicht allein nach Glogau reisen lassen.«
»Meine erste Reise, die ich allein unternehme, Väterli. Leider ist es nicht weit. Ich werde sicher und wohlbehalten am siebenundzwanzigsten Dezember nachmittags in Glogau ankommen.«
»Das glaube ich gern«, lachte der Vater. »In den letzten vier Briefen hat dir der Jule alle Stationen aufgeschrieben, dir genau die Zeit angegeben, wann du ankommst – «
»Ja, Väterli, Bahnsteig zwei. Auf der linken Seite steht der Bahnhof. Jule steht auf dem Bahnsteig. Ich soll ihn nicht eher verlassen, als bis Jule da ist. Meinen Koffer brauche ich keinem Gepäckträger zu geben, er schätzt sich glücklich, die Koffer seiner Ehrengäste zu tragen. Genau so hat er geschrieben!«
»Drei- oder gar viermal. Ja, ja, Pommerle! Hoffentlich ist er auch am Nachmittag um fünf Uhr zweiundzwanzig Minuten pünktlich zur Stelle.«
»Die erste Hochzeit, die ich mitmache, Väterli. – Wie freue ich mich darauf! Eure Hochzeitsgeschenke werde ich ihm schon am Polterabend geben. Wie wird sich das junge Paar freuen, ein Bild von Hirschberg zu bekommen! Aber auch der Jule wird sich freuen, wenn er plötzlich das Bild seiner Mutter sieht. Du hast es ihm vergrößern lassen.«
»Ja, mein liebes Mädelchen, ihm ist die Mutter gar früh gestorben. Eine fleißige, mühebeladene Frau, die durch Austragen von Zeitungen sich und ihren Jule ernährte. Ihre Ehe war sehr kurz.«
»Appi wird schon sorgen, daß der Jule recht glücklich wird. Sie hat ihn kennengelernt und wird den Kribbelkopf richtig behandeln.«
»Hast du den Kristalleuchter gut verpackt, Pommerle, damit du als Hochzeitsgeschenk nicht Scherben bringst? Sage dem Jule auch, daß du diesem Leuchter eine besondere Bedeutung gegeben habest.«
»Ja, Väterli, ich denke noch immer an deine Erzählung von dem kleinen Leuchter. Sie hat mir so gut gefallen. Das ist gerade für den temperamentvollen Jule das richtige. Er soll nun auch einen Versöhnungsleuchter bekommen. – Oh, ich werde ihm schon erzählen, wozu der Leuchter da ist!«
»Es wird den Jule besonders freuen, daß der Leuchter in unserer schlesischen Josephinenhütte hergestellt wurde. Schlesische Kristallindustrie!«
»Wenn mir nur am Polterabend meine Überraschung glückt. Ich bin ein wenig ängstlich, Väterli!«
»Ach was, Pommerle, du wirst es schon machen. Am Polterabend herrscht immer eine sehr fröhliche Stimmung, da überkommt keinen die Angst.« – –
Am siebenundzwanzigsten Dezember fuhr Pommerle nach Glogau ab. Frau Bender brachte ihre Tochter zur Bahn, ermahnte sie nochmals zur Vorsicht, aber Pommerle befand sich in solch einer überglücklichen Stimmung, daß sie auf die gutgemeinten Worte der Mutter kaum hörte. Unterwegs ging ihr der Mund über, da das Herzchen gar voll war. Alle Mitreisenden wußten, daß das junge Mädchen zur Hochzeit des Jugendfreundes fuhr, der die Tochter des Tischlermeisters Rispe morgen heimführte.
»Es muß ein fabelhaftes Unternehmen sein«, sagte Pommerle, »wahrscheinlich das größte von ganz Schlesien. Mein Julchen schreibt, er habe noch niemals etwas so Großartiges gesehen. Das alles werde ihm einmal gehören.«
»Nun«, sagte einer der Mitreisenden, »ich bin aus Glogau, ich kenne die Tischlerei genau. Ein kleines, aber gut fundiertes Unternehmen. Rispe ist ein sehr tüchtiger Mann, der gute Arbeit leistet, zwei bis drei Lehrlinge und einen Gesellen beschäftigt.«
Pommerle kicherte. Da hatte der Jule wieder einmal aufgeschnitten, wie er das so gern tat!
Pünktlich fuhr der Zug in Glogau ein. Jule stand wartend auf dem Bahnsteig und winkte Pommerle erregt zu. Er hatte es so eilig, an ihr Abteil zu kommen, daß er mit drei Fahrgästen zusammenrannte, die heftig zu schelten begannen. Der Jule hörte es nicht, er sah nur das strahlende Gesicht seines geliebten Pommerle, stürmte zum Abteil hinan und preßte die Jugendfreundin stürmisch an seine Brust.
»Julchen, liebes Julchen, laß mich erst aussteigen, andere wollen auch hinaus!«
»Morgen habe ich Hochzeit. Pommerle, bist du auch gesund angekommen? Hast du dich nicht verfahren?«
»Gehen Sie doch endlich von der Tür fort – machen Sie Platz«, sagte eine Frau, die auch aussteigen wollte.
Pommerle war es, die dafür sorgte, daß der Jule endlich ausstieg. Auf dem Bahnsteig erfolgte eine zweite Umarmung. »Nun komm rasch, jetzt gehen wir heim.«
»Nein, Jule, mein schwerer Koffer liegt noch im Netz.«
»Ach so«, lachte Jule verlegen, stieg nochmals in das Abteil und holte den Koffer heraus. »Schwer nennst du den? Den Koffer trage ich mit dem kleinen Finger. Ich bin andere Lasten gewöhnt! – Was meinst du, wenn ich einen schweren Schrank allein auf meinen Rücken lade und kilometerlange Strecken trage.«
»Julchen, du bist das liebe, alte Julchen geblieben«, strahlte Pommerle und schaute wieder in das glückliche Gesicht ihres Jugendfreundes.
»Eine Hochzeit wird es morgen, von der ganz Glogau schon seit acht Tagen spricht. Meister Rispe ist sehr glücklich, daß er mich hat. Bald setzt er sich zur Ruhe – «
»Aber Julchen, er ist doch noch ziemlich jung!«
»Nun, er altert doch mit jedem Tage. Einmal setzt er sich schon zur Ruhe. Dann werde ich Meister Rispe. – Ja, ja– «
»Du kannst niemals Meister Rispe werden, höchstens Meister Kretschmer.«
»Pommerle, das ist ja einerlei! Jedenfalls geht aus unserem Hause weltberühmte Arbeit hinaus. – Ja, was wir leisten, kann kein anderer! Stell dir mal vor: Das nackte Holz liegt vor dir, nur Bretter. Auf einmal ist ein herrlicher Schrank, eine Anrichte mit Intarsien daraus geworden. – Na«, Jule blieb stehen, stellte den Koffer auf die Erde und blickte Pommerle herausfordernd an, »das verstehst du natürlich nicht. Auch nicht, wenn ich dir sage, daß ich schon vieles furniert habe – gebeizt. – Nischt weißt du von alledem. – Aber ich weiß das alles!« Der Jule hämmerte mit beiden Fäusten so stark auf seine Brust, daß es dröhnte. »Ich, der zukünftige Meister!«
»Julchen, du bist eben ein prächtiger Kerl. Aber was du mir eben sagtest, verstehe ich schon.«
»Nein, das verstehst du nicht! Dazu gehört fachmännische Ausbildung. Pommerle, ich habe massenhaft gelernt. Ganz anders ist es als früher.«
»Sogar Englisch hast du gelernt, Julchen, weil du nach Italien reisen willst.«
Jule nahm den Koffer wieder auf und beschleunigte seine Gangart. Er war immer zwei Schritte dem Pommerle voraus. »Nach Amerika wollte ich«, rief er grob zurück, »wegen des dunklen Punktes.«
»Renne nicht so, Jule. Es ist doch so schön, wenn wir uns gemütlich etwas erzählen. Nachher sind die vielen Menschen da, und ich habe dich nicht mehr allein. Nach Amerika wolltest du? Mit deiner Appi?«
»Nein, ganz allein! Es ist wegen des dunklen Punktes.«
»Was ist das für ein Punkt, Jule?«
Er schaute erst nach rückwärts, ob niemand in der Nähe wäre, dann trat er dicht an Pommerles Seite. »Eine Schande klebte an mir. Die hat mich so bedrückt, daß ich nach Amerika gehen wollte. Ich konnte keinem mehr ins Auge sehen.«
»Armer Jule! Klebt sie nun nicht mehr an dir?«
Jule holte tief Atem. »Nein, die Schande ist ausgelöscht – ich habe alles gestanden.«
»Was hattest du denn verbockt?«
»Auch dem tüchtigsten Tischler kann mal ein Unglück zustoßen. – Wahrscheinlich war es der Rübezahl, der mich noch immer foppt. – Die ganze Beize hatte ich ausgegossen und – ein Prachtstück war futsch! – Ich bin davongelaufen. Nachher hat der Meister gemeint, der Karl, unser Lehrling, sei es gewesen. Na, das war 'ne schöne Geschichte! Ich hörte, was der Meister sagte. – Schrecklich war es, Pommerle!« Des Jules Augen rollten fürchterlich. »Gesagt habe ich nichts, zwei Tage habe ich den Karl als den Schuldigen umherlaufen lassen. – Pommerle, ich konnte keine Nacht schlafen. Da packte ich meine Sachen zusammen und wollte nach Amerika. Die Meisterin hat es gemerkt. Sie nahm mich vor und war so gut zu mir, daß ich alles gestand.«
»Dann hast du aber dein Fett bekommen.«
»Feste, Pommerle! Daß ich die Beize umgeworfen habe, erschien dem Meister nicht schlimm, daß ich aber so ein elender Feigling war und den Karl beschuldigen ließ, hat er mir nicht so bald vergessen. Beinahe hätte er mir meine liebe Appi wieder fortgenommen, weil ich nun einen dunklen Punkt in meinem Leben habe.«
»In Zukunft wirst du es anders machen, Jule!«
»Ja, ja – wenn nur nicht immer eine solche Wut in mir wäre! Manchmal habe ich 'ne Wut im Leibe – –
»Das tut in der Ehe nicht gut, Jule!«
»Ach, was weißt du denn von der Ehe! Verheirate dich erst mal, dann gib mir Lehren!«
»Aber Julchen, man muß doch nett zu seinen Ehrengästen sein!«
»Bin ich das etwa nicht?« schrie er sie an. »Ich freue mich unmenschlich, daß du gekommen bist. Ich kriege vor Freude keine Worte heraus.«
Pommerle streichelte zärtlich den Arm des Jugendfreundes. »Ich weist ja, wie du es meinst! Hoffentlich weiß es deine Appi auch, sonst gibt es in eurer Ehe viel Krach. – Aber ich habe ein Mittel dagegen.«
»Das kannst du mir gleich geben!«
»Nein, Jule, erst heute abend, wenn du deine Geschenke bekommst.«
Nachdenklich schritt Jule an Pommerles Seite dahin. Auf einmal blieb er stehen und wies auf ein Haus. Sein Gesicht verklärte sich. »Dort werden wir wohnen. Wenn wir von der Hochzeitsreise heimkommen, ziehen wir ein.«
»Wohnt ihr nicht beim Meister?«
»Nein, wir haben unsere eigene Wohnung – fein eingerichtet. Alle Möbel habe ich selber gemacht. Aber erst fahren wir nach dem Riesengebirge. Der junge Ehemann Julius Kretschmer und seine Ehefrau Apollonia Kretschmer geborene Rispe.«
»Fein, Jule, eine Hochzeitsreise ins Riesengebirge! Das würde ich auch machen, wenn ich einmal heirate. – Wo geht es hin?«
Der Jule blies sich auf. »Ins ›Hotel zur Schneekoppe‹ in Krummhübel. Wir werden in jenem Zimmer essen, in dem ich einst mit dem Professor, seiner Frau und dir gegessen habe. Dann werde ich den Braten bezahlen. – Ich werde mich bedienen lassen von dem Kellner. – Pommerle, wir werden ein feines Paar sein. – Ja, ja, nach Krummhübel geht es, dort hat mich einmal der Rübezahl geneckt.«
»Ich weiß, Jule«, lachte Pommerle, »du hattest dir meinetwegen die Hosen zerrissen, hast sie mit Stecknadeln zusammengesteckt, und als du dich zum Mittagessen hinsetztest, piekten dich die Nadeln ins Fleisch.«
»Das könntest du endlich vergessen«, meinte Jule wegwerfend. »Man muß sich nicht an alles erinnern.«
Das Grundstück, das Meister Rispe gehörte, war erreicht. Um Pommerles Mund zuckte es verräterisch. Das war kein Weltunternehmen; immerhin eine nette Tischlerei. Mit einem größeren Hof, einigen Schuppen, in denen das Material lag.
»Hier arbeite ich! Wenn sich der Meister einmal zur Ruhe setzt, werde ich Meister.«
Kurz darauf erfolgte die Begrüßung. Pommerle lernte in Meister Rispe, seiner Frau und Appi warmherzige und anscheinend sehr gute Menschen kennen. Die Braut begrüßte Pommerle besonders herzlich.
»Jule hat mir schon so viel von Ihnen erzählt, liebes Pommerle, daß ich Sie in- und auswendig kenne.«
Man führte das junge Mädchen in ein nettes Fremdenzimmer, und eine halbe Stunde später wanderte sie mit Meister Rispe durch die Tischlerei.
»Sie sind gewiß mit Jule recht zufrieden«, sagte Pommerle, »er ist zwar manchmal etwas großsprecherisch, aber ein furchtbar lieber Mensch. Ich kenne keinen besseren.«
»Ja, ja«, nickte Rispe, »er hat ein gutes Herz, ist ein lieber Mensch, nur für seine Jahre noch ein wenig unreif.«
»Er wird mit Ihrer Tochter sehr glücklich werden, denn er hat sie sehr lieb.«
Später erfuhr dann Pommerle, daß man heute abend eine kleine Gesellschaft im Hause sehen werde. Auch die morgige Hochzeit werde nur in einem bescheidenen Rahmen stattfinden. Achtzehn Personen, meistens Verwandte, waren eingeladen.
Pommerle war durchaus einverstanden. Vor einer großen fremden Gesellschaft wäre sie befangen gewesen. Nun lernte sie nacheinander die Verwandten Meister Rispes kennen, alles tüchtige, brave Handwerker, die ihr freundlich entgegenkamen. Es dauerte nicht lange, da hieß Hanna Bender im ganzen Kreise Pommerle; sie ließ es sich freudig gefallen.
In einem großen Zimmer waren die Geschenke aufgebaut. Sogar Meister Reichardt aus Hirschberg, bei dem der Jule das Tischlerhandwerk gelernt hatte, war mit einem bequemen Lehnstuhl vertreten. Jule erklärte stolz, das sei ein Beweis dafür, wie tüchtig er bei Meister Reichardt gewesen wäre.
»Meint ihr etwa, jeder Lehrling bekommt von seinem Meister zur Hochzeit ein Geschenk? Aber an mich denkt jeder!«
»Freilich«, lachte Pommerle, »an den Lehrling denkt Meister Reichardt sein Leben lang.«
Dann packte sie das Bild von Hirschberg aus, stellte es zu den anderen Geschenken, nahm das kleinere Bild, das Jules Mutter darstellte, und hielt es Jule hin.
»Ich denke, das wird dich erfreuen. Meine Eltern ließen es nach einem kleinen Bilde vergrößern.«
Jule, der in dem Lehnstuhl Platz genommen hatte, stellte das Bild auf seine Knie. Schweigend blickte er seine Mutter an. Dann begannen die Hände, die das Bild hielten, zu zittern. In Jules Gesicht zuckte es. Er fletschte die Zähne, biß sich auf die Lippen, hustete mehrmals, schließlich sprang er auf, nahm das Bild unter den Arm und lief zur Tür. Pommerle hörte ein wildes Schluchzen und sah die Tränen, die dem Gesellen aus den Augen stürzten.
»Julchen!«
Er hörte nicht. Erschüttert von dem Wiedersehen mit der toten Mutter, lief er hinauf in seine Kammer, betrachtete das Bild erneut, und wieder kamen Tränen in seine Augen.
»Hättest auch – zu meiner Hochzeit kommen können. Bist aber tot! Mutter – ach, Mutter, deinen Wunsch habe ich doch erfüllt. Ich bin ein tüchtiger Handwerker geworden.« Immer herzbrechender weinte der Jule.
Pommerle stand unterdessen in dem großen Zimmer und wartete, daß der Freund zurückkommen möge. – Er kam nicht. Da fragte sie, wo er wohl zu finden sei. Man wies sie zurecht.
»Julchen, liebes Julchen, du darfst doch am Vorabend deines Hochzeitstages nicht weinen.«
»Ich war nicht da, als sie starb – ich suchte am Hausberg nach Gold. – Dann war sie schon tot. – Heute sehe ich sie wieder.«
»Ja, Julchen, aber darüber brauchst du nicht zu weinen. – Schau, wie froh deine Mutter aussieht! Sie ist sehr zufrieden, daß du nun ein berühmter Tischler geworden bist und einmal die größte Tischlerei der Welt bekommst. – Ich habe doch meine ersten Eltern verloren, habe nicht mal ein Bild meiner Mutter, weiß überhaupt nicht, wie sie ausgesehen hat. – Julchen, weine nicht, sonst bin ich sehr traurig darüber, daß ich dir das Bild brachte.«
»Sie sagte, ich solle ein guter Tischler werden.«
»Der bist du geworden, Julchen. Nun will sie morgen, bei deiner Hochzeit, zugegen sein, um sich über dich zu freuen. Komm, Julchen, wir bringen das Bild wieder hinunter, und du trocknest deine Tränen.«
Als es der Jule nicht tat, nahm Pommerle ihr Taschentuch und wischte ihm das Gesicht ab. Er ließ es ruhig geschehen. Pommerle durfte sich alles erlauben. Sie war ein Stück seiner Kindheit, Pommerle kannte seine Streiche, seine frühere Trägheit, Pommerle war eben sein Pommerle, der man das Herz ausschütten durfte.
Allmählich beruhigte sich der Jule. Pommerle fand so liebe Trostesworte, daß er wieder vergnügt aussah, zumal ihm das junge Mädchen von den Freuden des Hochzeitstages vorschwärmte.
»Den schwarzen Anzug, den ich morgen trage, habe ich mir selbst gekauft. Ich sehe darin sehr fein aus. Und Appi hat ein weißes Kleid mit einem Zottel hinten dran.«
»Ja, ihr werdet ein schönes Paar sein. – So, Jule, nun komm!« – –
Gegen acht Uhr stellten sich die Gäste ein. Frau Rispe hatte ein nettes Abendessen zusammengestellt. Es gab Bier und Wein; bald herrschte eine fröhliche Stimmung.
Endlich verschwand Pommerle aus der Gesellschaft. Aus dem Schrank holte sie die Kutte des Berggeistes, die Larve mit dem langen Bart, den großen Schlapphut. Sie erinnerte sich genau ihrer Begegnung mit dem Berggeist. Damals hatte sie einen friedlichen Maler für den mächtigen Rübezahl gehalten. Ebenso hatte sich Jule bei einer Wanderung durch das Gebirge von einem Burschen erschrecken lassen. Anscheinend glaubte er heute noch an den Rübezahl. So wollte ihn Pommerle an seinem Polterabend ein wenig damit necken.
In der einen Hand trug sie einen langen Stock, in der anderen den Kristalleuchter. Sie pochte an die Tür des Wohnzimmers. Lautes Lachen ertönte, als sie das Zimmer betrat. »Rübezahl, der Berggeist Rübezahl kommt sogar zu uns!« Jule, der an der Seite seiner Braut saß, kniff für Sekunden die Augen zusammen. Dann lachte auch er auf.
Mit tiefer Stimme begann Pommerle zu reden, indem es sich vor das Brautpaar stellte:
»Der Berggeist Rübezahl hat vernommen,
Daß Jule Hochzeit hat. Drum ist er gekommen,
Um dem jungen Paar vor allen Dingen
Herzlichste Wünsche darzubringen.
Soviel Steine in meinem Reiche liegen,
Soviel Freude soll euch in das Leben fliegen.
Den Jule, den kenn' ich seit langer Zeit,
Ich habe mich oft über ihn gefreut.
Zwar hat er in der Jugend nicht lernen gewollt,
Aber sein Herz ist lauter wie Gold.
Ich hab' in den Bergen ihn oftmals geneckt,
Er hat sich gefürchtet, er hat sich versteckt.
Um einmal als Träger Verdienst zu erfassen,
Hat er sogar Pommerle im Stiche gelassen.
Dafür hat er dann büßen müssen,
Mein Wald hat ihm die Hosen zerrissen.
Wie oft hab' ich Zweifel in Jule gesetzt,
Doch ist er ein braver Tischler jetzt,
Auf den voll Stolz ganz Glogau schaut.
Bald führt er heim die liebe Braut!
Nehmt heute entgegen die kleine Gabe,
Die ich den Bergen entrissen habe.
Kehr öfter bei mir, junges Pärchen, ein,
Ihr sollt mir stets willkommen sein!
Bleibt lauter wie dieser Bergkristall,
Das wünscht der Berggeist Rübezahl!«
Dabei überreichte Pommerle den Verlobten einen zweiarmigen Kristalleuchter.
Unter lautem Händeklatschen verließ der Berggeist das Zimmer. Jule schaute verklärt drein, und auch Appi bewunderte den Leuchter.
Als Pommerle nach kurzer Zeit wieder im Zimmer erschien, sprach man ihr von allen Seiten Anerkennung aus.
»Haben Sie herzlichen Dank, Pommerle«, sagte Appi, »das ist ein wunderschöner Leuchter. Wahrscheinlich schlesische Glasindustrie.«
»Ja, aus der Josephinenhütte. – Aber es ist ein ganz besonderer Leuchter, ein Wunderleuchter, eben ein Leuchter aus Rübezahls Reich.«
Jule horchte auf.
»Ja, Julchen«, fuhr Pommerle fort, »gerade an dich hat der Rübezahl gedacht, als er diesen Leuchter für euch herstellen ließ. Nun mußt du mir versprechen, den Leuchter immer anzuzünden, wenn es nötig ist.«
»Natürlich wird er angezündet.«
»Er soll an allen Freudentagen brennen, beide Kerzen zur gleichen Zeit – Das wäre nichts Wunderbares! Das Wunderbare kommt erst.«
»Was denn?«
»Was ich euch, dem lieben Brautpaare, jetzt sage, habe ich nicht aus mir heraus, sondern von meinen guten Eltern. Bei uns im Hause gibt es auch einen kleinen zweiarmigen Leuchter. Ich habe ihn zwar noch niemals brennen sehen, aber er ist vorhanden. Und das ist so: Man zankt sich ganz gewiß einmal in der Ehe, selbst dann, wenn man sich furchtbar lieb hat. Ich habe mich doch oft mit dir gezankt, Jule. Du Dickkopf hast niemals zuerst das versöhnende Wort gefunden. Das würde aber in der Ehe schlimm sein, wenn nicht der Wunderleuchter vorhanden wäre.«
Die Anwesenden waren neugierig näher gekommen und lauschten Pommerles Worten.
»Wenn ihr euch also einmal gezankt habt, kommt der Vernünftigste und der, dem es leid tut, daß er ein hartes Wort sagte, und zündet ein Licht an. Aber nur eins! Dann stellt er den Leuchter mit dem brennenden Licht auf den Tisch – das bedeutet: Willst du nicht wieder lieb zu mir sein? – Der andere sieht das brennende Licht, ist glücklich darüber, daß wieder Frieden im Hause ist, zündet rasch das zweite Licht an und – schon ist der Frieden geschlossen! – Es wird nichts mehr von dem gehabten Krach gesagt, alles ist vergessen. Der Wunderleuchter leuchtet wieder in die Herzen hinein, und die Ehe ist glücklich!«
»Bravo, Pommerle, bravo«, riefen die Anwesenden, »das ist eine prachtvolle Einrichtung!«
»Und für den Jule das richtige«, setzte Frau Rispe hinzu. »Nun müßt ihr mir noch versprechen«, fuhr Pommerle fort, »die Lichter wirklich anzuzünden. – Jule, du versprichst es mir zuerst, sonst rufe ich den richtigen Berggeist.«
Apollonia schlang beide Arme um Pommerles Hals. »Ich will es so halten, wie du gesagt hast, Pommerle! Ich werde gern, wenn ich unrecht getan habe, zuerst das Licht anzünden.«
»Na, denkste etwa«, siel Jule ein, »ich werde es nicht anzünden? Wenn ich unrecht getan habe, tut es mir immer leid. Aber sagen kann ich es nicht.«
»Deswegen hast du nun den Wunderleuchter.«
Noch lange wurde der gute Einfall besprochen. Ein junges Pärchen, das auch zu Gast war, beschloß lachend, ebenfalls solch einen Wunderleuchter anzuschaffen.
So verlief der Polterabend recht fröhlich. Zu den Klängen eines Grammophons wurde getanzt. Appi und Pommerle waren die begehrtesten Tänzerinnen.
Um ein Uhr nachts gebot Meister Rispe endlich Ruhe. »Jetzt wird ausgeschlafen! Ein Hochzeitstag ist eine anstrengende Sache!«
Lachend und scherzend ging man auseinander. –
Pommerle hatte vorzüglich geschlafen. Nun rieb sie sich die Augen und betrachtete das kleine Zimmer, das man ihr angewiesen hatte, genauer. Vielleicht hatte der Jule an den Möbeln, die umherstanden, mitgearbeitet. So war aus dem trägen Knaben ein brauchbarer Mensch geworden, der zwar den großen Mund nicht abgelegt hatte und sich nach außen hin gern aufblies, der sich aber sein unschuldiges Kindergemüt bewahrt hatte. Er war ja nicht frech noch dreist, der liebe Jule, im Gegenteil! Pommerle wußte genau, daß er sich stets unsicher fühlte und das hinter seinen prahlerischen Reden zu verbergen versuchte.
Sie reckte und dehnte sich behaglich. Sie mußte wohl langsam ans Aufstehen denken. Da klopfte es leise an die Zimmertür. Pommerle, die nichts anderes glaubte, als daß man sie wecken wolle, rief fröhlich:»Ich bin schon munter und stehe gleich auf.«
Da wurde die Tür, die sie nicht verschlossen hatte, geöffnet. – Der Jule trat ein.
»Aber Jule!« rief Pommerle erschrocken und zog die Decke bis an den Hals hinauf. »Ich möchte mit dir reden, Pommerle.«
»Ich bin in einer halben Stunde fertig!«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Pommerle, in einer halben Stunde sind die anderen da, und ich möchte mit dir allein reden.« Dabei setzte sich der Jule auf die Bettkante.
»Eigentlich müßtest du heute ein strahlendes Gesicht zeigen«, begann Pommerle liebevoll, »heute ist dein Hochzeitstag. Du siehst geradezu bekümmert aus. – Hast du vielleicht einen Kater vom Polterabend her?«
»Ich habe schlecht geschlafen, ich habe immerfort simulieren müssen. – Pommerle, darf ich zu dir reden wie immer?«
Ihr Arm kam unter der Decke hervor, ihre Hand strich über die Wange des Freundes. »Natürlich darfst du das! Du hast mir doch immer alles gesagt.«
»Ja – und du hast mich immer getröstet. Darum komme ich heute auch wieder zu dir.«
»Schieß los, Jule!«
»Es darf keiner wissen, daß ich bei dir war, ich will vor allen als Mann gelten, sonst macht das einen schlechten Eindruck. Auch auf meine Appi. Ein Mann darf nicht Zweifel haben, wie ich sie habe. Besonders nicht am Hochzeitstage. Aber du siehst ja in mir keinen Mann, Pommerle, für dich bin ich immer nur der Jule. Darum kann ich auch zu dir reden, wie mir ums Herz ist.«
»Freilich, Jule, mir darfst du alles sagen.«
»Ich werde heute heiraten! Ich werde eine Frau haben, ich werde ihr geloben, für sie zu sorgen, ihr ein treuer Ehemann zu sein, einen guten Hausstand zu haben. – Ich werde für Appi und meine Kinder arbeiten, werde Enkelkinder haben, wir werden eine große Familie sein, und alle Verantwortung ruht auf meinen Schultern.«
»Ist das nicht schön, Jule?«
Sein ohnehin bekümmertes Gesicht wurde noch kläglicher.
»Ich habe Angst vor der Hochzeit! Wenn ich daran denke, was ich mit meinem Ja auf mich nehme, gruselt es mich. Kann ich auch alles erfüllen, was ich verspreche? Weiß ich, was mir die Ehe bringt? Kann es nicht schlimm ausgehen? – Ich habe Angst, Pommerle und eigentlich möchte ich heute noch nicht Hochzeit machen.«
»Jule«, rief Pommerle beklommen, »was sind das wieder für törichte Worte! Man freut sich auf seine Hochzeit! Und du darfst dich freuen, denn du bekommst eine ordentliche und fleißige Frau, die alle Sorgen, die ihr vielleicht haben werdet, mit dir trägt. Warum aber an die Sorgen denken? Denke zunächst an das Glück, das dir winkt. Ein eigener Hausstand ist etwas sehr Schönes. – Ach, Jule, du bist ein fleißiger Mensch, du hast das Zeug, deine Frau zufrieden zu machen. Du bist ein guter Kerl, und wenn du deinen Dickkopf etwas untertauchst, wird es eine hervorragende Ehe werden, die du führst. Freilich, man nimmt in der Ehe viel auf sich, aber das tut man doch gern! Gerade daß du darüber nachgedacht hast, ist doch ein Beweis, daß du die schwere Verantwortung kennst, die du auf dich ladest.«
»Woher weißt du denn das alles? Wo hast du das gelesen?«
»Das habe ich nirgendwo gelesen, das denke ich mir so. Ich habe doch auch schon an die Ehe gedacht. Außerdem sehe ich täglich mein liebes Mütterchen, sehe ihre Pflichten, ihre Liebe, ihre Aufopferung. Ich sehe mein Väterli, wie er für seine Familie sorgt. Jule, wenn du so eine Ehe führst wie meine Eltern, wirst du immer glücklich sein und brauchst dich nicht zu graulen.«
»Meinst du wirklich?«
»Das weiß ich genau, Jule! Ich kenne dich! Du bist der richtige Ehemann!«
Er nagte an der Unterlippe. »Na, Jule, was möchtest du noch wissen?«
»Sag mir doch einen Vers, an den ich mich anklammern kann. Ich tue das immer gern. So ein Wort brauche ich, das mit einem durchs Leben geht. Damals, als ich faul war, hat Professor Bender liebe Worte zu mir gesagt, die mich begleiteten. Die passen aber heute nicht mehr. Jetzt brauche ich was für die Ehe. Etwas Schönes, Pommerle!«
»Ihr müßt euch sehr lieb haben. Nicht jeder seinen Kopf durchsetzen wollen – dann wird es werden.«
Jule zog die Stirn in Falten. »Das ist doch kein Vers zum Anklammern. Ich will was Schönes, was die Dichter sagen. Sonst muß ich immer an den großen Dichter denken, der da sagt: ›Mit dem Gürtel, mit dem Schleier geht der ganze Wahn zum Geier‹!«
»So etwas sagt der Dichter gar nicht. Das hat dir jemand eingeredet. Also einen Vers willst du?« Pommerles Augen suchten an der Decke. Wo sollte sie einen Vers für den Jule hernehmen? Einen Vers von junger Ehe und Liebesglück? Alles, was ihr einfiel, paßte nicht recht. Sie konnte ihm unmöglich sagen: O lieb, solang' du lieben magst, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst. Das war kein Vers, an den sich der Jule klammern konnte. Gab es gar nichts?
»Sag doch einen Vers«, drängte der Jule, »dann werde ich ruhiger sein. – Oder gibt es sowas nicht?«
»Es gibt's massenhaft«, tröstete Pommerle, »ich suche nur den schönsten Vers heraus.«
Einige Augenblicke herrschte Totenstille in dem kleinen Zimmer. Dann ließ Pommerle einen hellen Ruf ertönen. »Jetzt habe ich was zum Anklammern, Jule! Jetzt wirst du, wenn du danach lebst und handelst, der glücklichste Mann der ganzen Welt werden!«
Gespannt blickte er die Freundin an.
»Und Leid und Freud', und Lust und Schmerz
Stets miteinander tragen,
Vom ersten Kuß bis in den Tod
Sich nur von Liebe sagen.«
Der Jule horchte hoch auf, dann wiederholte er murmelnd: »Vom ersten Kuß, bis der Tod kommt, sich nur von Liebe sagen.«
»So mußt du es machen! Bei jedem Leiden, bei allen Freuden immer mit deiner Appi alles tragen, und wenn ihr euch küßt, von Liebe reden. Und die Liebe muß bleiben, bis der Tod kommt. Liegt dann einer auf dem Totenlager, küßt man sich noch einmal und freut sich darüber, daß man Lust und Leid gemeinsam getragen hat. – Ja, Jule, vom ersten Kuß bis in den Tod sich nur von Liebe sagen!«
»Das ist schön, Pommerle! Ja, mir ist schon wieder besser. Ich glaube, ich freue mich doch auf meine Hochzeit.«
»Sollst mal sehen, wie schön das ist! Ganz anders wird dir sein, wenn du mit deiner Appi allein bist, ohne daß dich einer stören darf, wenn du eine große Familie um dich herum hast, in deiner schönen Wohnung, zu der du die Möbel gemacht hast. Julchen, du wirst vor Glück nicht wissen, was du anfangen sollst.«
Ein strahlendes Lächeln zog über Jules Gesicht. »Meinst du, Pommerle?«
»Ja, Jule, genau so wird es sein. Ganz bestimmt!«
»Na, dann steh mal endlich auf«, sagte er grob, »damit wir auf dich nicht warten müssen!«
»Dann mache, daß du 'raus kommst!« rief Pommerle in demselben Tone.
Dann sahen sich beide in die Augen und lachten wie zwei übermütige Kinder. Jule stand von der Bettkante auf, ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Als ihm Pommerle eine halbe Stunde später im Wohnzimmer begegnete, hielt er seine Appi im Arm und sagte nachdrücklich: »Vom ersten Kuß bis in den Tod, sich immer nur von Liebe erzählen.«
Er sah sehr froh aus, und als er gar zum Standesamt ging, auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wurde zu Fuß gegangen, trug er den Kopf so hoch, daß er über die erste Schwelle stolperte. Es war gut, daß Appi ihn hielt, sonst wäre der Jule in seinem neuen schwarzen Anzug gefallen.
Nach dem Standesamt gab es ein Frühstück. Der Jule schien alle Sorgen vergessen zu haben. Das Glück strahlte ihm aus den Augen, die guten Wünsche nahm er mit Herablassung entgegen.
Um zwei Uhr stand Appi im weißen Kleide, mit wallendem Schleier vor ihm. Da preßte Jule beide Hände an seinen Mund. Er hätte gern sein Glück laut hinausgeschrien. Wie schön sie aussah! Wie ein Englein! Und dieses Englein gehörte ihm, schmückte sich für ihn, wurde seine Frau. Es mußte eine Lust sein, für diese Frau zu arbeiten. Immer nur von Liebe reden, bei jedem Kuß, bis einer starb.
Dann sah er Pommerle in dem duftigen rosa Kleid. – Sein liebes Pommerle. Er liebte das junge Mädchen auch von ganzem Herzen. Das Pommerle gehörte zu ihm, das war wie ein Stück von ihm selbst.
Alle diese geschmückten Männer und Frauen, alles ihm zu Ehren! Jule hatte ein Gefühl, als müsse er platzen. An der Kirchtür standen die Leute. Langsam, immer langsamer stieg er die Stufen zur Kirche empor. Jeder sollte Gelegenheit haben, den Jule Kretschmer, der einst mit zerrissenen Hosen Steine suchte, in seinem neuen Anzug zu sehen. Am liebsten wäre er stehengeblieben und hätte laut gerufen: Seht mich nur genau an, ich bin es wirklich, der Julius Kretschmer! Ach, daß dieser Tag nie ein Ende nähme!
Es wurde immer schöner. Es gab ein Essen. Er und seine Appi waren die Hauptpersonen. Man trank ihnen zu. Er hörte, daß man ihn als einen tüchtigen und gewissenhaften Mann pries. Stolz schaute er sich im Kreise um. Hoffentlich hatten es alle vernommen. Schade, daß man die Fenster nicht weit öffnen konnte, damit es auch alle die hörten, die sich die Nasen an den Scheiben plattdrückten. Der Jule kniff bei jedem Lob seine Appi in den Arm.
So verging das Hochzeitsmahl. Die Abreise des jungen Paares war erst für morgen früh angesetzt. Abends wurde noch tüchtig getanzt.
»Julchen, du kommst doch, wenn du die Hochzeitsreise beendet hast und über Hirschberg heimfährst, zu uns heran?«
»Meine Frau und ich wissen es noch nicht«, erwiderte er großspurig. »Wir werden sehen, wie es mit unserer Zeit paßt.«
»Julchen, das darfst du uns nicht antun! Meine Eltern wollen deine junge Frau sehen und ihr persönlich Glück wünschen.«
»Wir werden abwarten, wie das für unsere – für unsere in unsere na, wir werden abwarten, wie das paßt!«
Beim nächsten Tanz, den Jule mit Pommerle tanzte, war er es, der von der Hochzeitsreise zu reden anfing.
»Wir werden über Hirschberg heimfahren und euch unsere Aufwartung machen.«
»Und werdet im Fremdenzimmer übernachten!«
»Nein«, wehrte Jule ab, »wir haben genügend Geld und wohnen im Hotel. Mein Schwiegervater hat sich nicht lumpen lassen. Wir brauchen eure kleine Stube nicht. Dort kann wohl der Jule wohnen, aber Julius Kretschmer und Frau wohnen im Hotel.«
»Na gut, Jule, auch damit sind wir zufrieden. Die Hauptsache ist, daß wir euch sehen!«
»Das glaube ich schon, daß ihr euch nach uns reißt. – Also, Pommerle, wir werden für ein Stündchen kommen. Wir wollen uns nicht lange in Hirschberg aufhalten. Wir überspringen einen Zug, und damit basta!«
Als Pommerle zum dritten Male mit dem Freunde tanzte, führte er sie ins Nebenzimmer. Seine Stimme sank zum Flüstern herab. »Pommerle, liegen auf dem Grabe meiner Mutter Blumen?«
»Ja, Julchen, immer. Die Gräber meiner ersten Eltern kann ich nicht schmücken. So gehe ich immer zu deiner Mutter. Und auch mein Mütterchen bringt immer Blumen.«
»Ich will ihr auch«, sagte Jule würgend, »wenn ich nach Hirschberg komme, Blumen bringen. Sie konnte doch meine Hochzeit nicht mitmachen.«
»Ja, Jule, tue das! Hoffentlich bleibst du dann noch etwas länger in Hirschberg.«
»Wollen sehen!« Damit ging er davon und ließ seine Tänzerin stehen.
Am nächsten Morgen ließ sich das junge Paar von allen Hochzeitsgästen auf den Bahnhof bringen. Als Jule als erster in das Abteil steigen wollte, zog ihn Appi am Mantel zurück. »Du mußt wenigstens heute höflich sein«, flüsterte sie ihm zu.
Da wurde der Jule blutrot, ließ seine Appi zuerst einsteigen, drängte sich dann aber in voller Breite ans Fenster, daß ihm Appi nur ein wenig über die Schulter sehen konnte.
Unter nochmaligen Glückwünschen fuhren die jungen Eheleute davon.
Pommerle wurde am Vormittag von Frau Rispe nach der neuen Wohnung geführt, in der zwar schon die Möbel standen, die aber noch nicht völlig eingerichtet war. »Wenn sie in vierzehn Tagen heimkommen, ist alles fertig«, sagte sie, »möge das Glück in dem neuen Heim wohnen.«