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Die sechsjährige Hedi, Förster Sandlers älteste Tochter, saß in der Veranda des schmucken Forsthauses und knabberte an einem Stück Schokolade. In ihren Armen ruhte das geliebte Puppenkind Diana, der Jagdhund Harras stand neben ihr und wartete gespannt darauf, daß ihm die Kinderhände wieder etwas reichen möchten. Hedi, die in der ganzen Gegend den Namen Pucki führte, brach auch gewissenhaft von der Schokolade ein Stück nach dem anderen ab, das dann bald darauf im Maule des Hundes verschwand.
»Jetzt ist es genug, Harras, morgen bekommst du viel mehr. Morgen muß ich in die Schule, dann gibt es eine große Tüte, die ist bis oben hin voll mit Schokolade. Wenn du gut lernst, Harras, bekommst du was aus der Tüte. – Sieh mal, Harras, so eine große Tüte!«
Puckis Hände hoben sich hoch in die Luft und beschrieben einen großen Bogen. Diese Tüte, die ihr von den Eltern für morgen versprochen worden war, schien ihr der einzige Trost, von morgen ab an jedem Tag in der Schulstube sitzen und immerfort lernen zu müssen.
Was mochte die Schule nur alles bringen? Jeder erzählte etwas anderes. Da waren auf dem Niepelschen Gute, das etwa zwanzig Minuten vom Forsthause Birkenhain entfernt lag, die Drillinge, der Paul, der Walter und der Fritz. Seit zwei Jahren mußten die Knaben fast täglich nach Rahnsburg zur Schule. Nun schlug diese Stunde auch für Pucki.
Pucki schüttelte sich, die blonden Löckchen flogen um das reizende Kindergesicht. Was hatte der Paul nicht schon alles von der Schule erzählt. Ganz anders Fritz, der Jüngste der Drillinge. Er behauptete, Fräulein Caspari wäre ein sehr liebes Fräulein. Schade nur, daß sie in die andere Klasse nicht mitgegangen sei. Bei Fräulein Caspari konnte man vergnügt lachen, schreiben und zeichnen. Nur der Paul wurde öfters einmal in die Ecke gestellt, da er unaufmerksam gewesen war.
»Ach, Harras«, seufzte der Kindermund, »vielleicht muß ich nun auch jeden Tag in der Ecke stehen und darf nicht mehr in den Wald, weil ich immerzu lernen muß!«
Pucki stand auf, holte aus dem Zimmer den nagelneuen Ranzen; von morgen ab würde sie ihn täglich nach der Schule tragen. Sie klappte den Deckel zurück.
»Ja, Harras, sieh dir das nur an! Eine Schiefertafel, und hier das Kästchen mit den Stäbchen. Aus dem bunten Papier schneide ich dir eine schöne Halskette, die bringe ich dir mit. – Wie gut hat es die Waldi, sie braucht noch lange nicht in die Schule!«
Waltraut oder Waldi, wie Pucki sie nannte, war das zweijährige Schwesterchen des Försterkindes. Als Waldi geboren worden war, fand Pucki gar keinen Gefallen an dem Schwesterchen. Seit kurzem konnte sie mit der Kleinen bereits vergnügt spielen. Pucki bedauerte es, daß Waldi gerade jetzt, da sie zur Schule mußte, Verstand bekommen hatte; viel schöner wäre es gewesen, wenn Waldi bereits früher mit ihr gespielt hätte.
Aber da waren noch die drei Niepelschen Buben, die oft nach dem Forsthause kamen. Heute wurden sie samt ihrer Mutter ebenfalls sehnsuchtsvoll von Pucki erwartet, denn die Gutsbesitzersfrau hatte dem kleinen Mädchen zum Schulbeginn einige Süßigkeiten versprochen.
»Sie kommen noch immer nicht«, seufzte die Kleine und betrachtete das letzte Stückchen Schokolade, das sie dem geliebten Harras ins Maul schob. Das Schwesterchen schlief, der Vater war im Walde, und die Mutter arbeitete mit dem Mädchen in der Waschküche.
Die Kleine sprang auf, denn deutlich war Räderrollen zu vernehmen. Pucki wußte, daß der Niepelsche Wagen nahte, der den kurzen Besuch brachte.
Sie eilte durch den Vorgarten und begrüßte stürmisch die Ankommenden.
»Wir bleiben ein bißchen bei dir, bis die Mutter wieder aus Rahnsburg zurückkommt«, rief Fritz schon vom Wagen herab. Dann kletterten die drei Knaben herunter, neckten Harras, der sie schweifwedelnd umsprang, und stürmten in den Garten des Forsthauses.
Pucki wurde von Frau Niepel zurückgehalten.
»Nun geht es also morgen zum ersten Male in die Schule, Pucki?«
»Ach ja – deswegen wolltest du mir was bringen.«
»Freilich, Pucki, das habe ich dir versprochen. Wenn ich in einer Stunde zurückkomme, erhältst du eine große Tüte. Eigentlich müßtest du sie erst morgen haben, doch da habe ich keine Zeit. Ich denke, du wirst immer recht artig sein und viel lernen, damit deine Eltern Freude an dir haben.«
»Wenn es nur nicht so graulich wäre.«
»Das hat dir der Paul wieder eingeredet. Frage nur den Fritz, er geht sehr gern in die Schule, und auch Walter grault sich gar nicht. Wenn man lernt, was man aufbekommt, ist es in der Schule sogar sehr hübsch. Ich weiß genau, daß es dir in der Schule gut gefallen wird. Doch nun laufe zu den Buben, in einer Stunde hole ich sie wieder ab.«
»Und bringst mir die Tüte?«
»Ja, Pucki, ich erwarte dann aber auch, daß du recht brav bist.«
»Muß ich dir die Tüte wiedergeben, wenn ich nicht brav bin?«
»Nein, Pucki, du würdest aber keine Freude daran haben, denn ich schenke sie einem fleißigen Kinde.«
Frau Niepel fuhr davon, und Pucki eilte zu den achtjährigen Drillingen, die mit Harras im Garten herumtollten.
»Kriegt ihr morgen auch jeder eine Tüte?«
»Nein, leider nicht, die bekommt man nur, wenn man zum ersten Male in die Schule geht.«
»Dann möchte ich immerfort zum ersten Male in die Schule gehen! – Mutti bringt mich morgen nach Rahnsburg und holt mich wieder ab. Und dann bekomme ich auch noch von ihr eine Tüte.«
»Hast du nicht Augst?« fragte Paul.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Pucki unsicher, »der Vati sagt, es muß nun einmal sein, die Mutti sagt, es ist schön in der Schule und – –«
»Und ich sage dir«, schrie Paul, »es ist scheußlich! Da stellen sie mich in die Ecke.«
Walter und Fritz waren dem Bruder gefolgt. Letzterer legte zärtlich den Arm um Puckis Schulter.
»Der Paul schwindelt, Pucki, der Paul ist entsetzlich faul. Es macht wirklich viel Spaß, in der Schule zu sitzen. Paß auf, du wirst dich morgen furchtbar freuen, daß du jeden Tag dort hingehen darfst.«
»Wenn's aber so graulich ist?«
»Es ist gar nicht graulich«, tröstete nun auch Walter. »Wir haben so viel gelacht. Du wirst sehen, es macht Spaß!«
»Mir macht es gar keinen Spaß«, ereiferte sich Paul.
»Du sollst Pucki nicht Angst machen«, schrie Walter und versetzte dem Bruder einen kräftigen Puff. »Du bist ein fauler Bengel, hat der Lehrer gesagt. Du wirst auch sitzenbleiben, dann lachen dich alle Leute aus.«
Paul maulte und lief davon, während Pucki noch ein ganzes Weilchen den Erzählungen der beiden anderen Knaben lauschte. Vielleicht war es doch nicht allzu schlimm in der Schule.
Die Stunde des Beisammenseins verging viel zu schnell. Frau Niepel betrat den Garten. Sie hielt eine große, bunte Tüte in den Händen und gab sie Pucki mit herzlichen Worten. Die drei Knaben blickten erwartungsvoll auf die kleine Freundin, und Fritz rief mit seinem hellen Stimmchen:
»Damals, als wir zum ersten Male zur Schule gingen, war es sehr schön. Ich habe aus meiner Tüte einem kleinen Jungen ein Stück Schokolade geschenkt. – Wirst auch du aus deiner Tüte einem Jungen was schenken?«
»Ja!«
Fritz hielt sogleich die Hand auf, und nun erst begriff Pucki, was er meinte. Sie suchte ein Weilchen in der Tüte herum, reichte dann dem Spielgefährten ein großes Stück Konfekt. Walter, der sich gleichfalls herandrängte, bekam ein kleineres Stück und Paul nur ein Schokoladenplätzchen.
»Alte Geizliese!« sagte er.
»Na, hier hast du noch ein Stückchen. Aber das andere muß ich für mich behalten, weil ich doch morgen in die Schule muß.«
Nun kam auch Frau Sandler herbei, die die Gutsbesitzerin herzlich begrüßte und ihr Dankesworte wegen des Geschenkes sagte. Dann hieß es aufbrechen. Pucki winkte dem davonrollenden Wagen nach. Dann kehrte sie auf die Veranda zurück, um ihrem geliebten Harras zu erzählen, daß es vielleicht in der Schule doch nicht so schlimm sei, wie der Paul meinte.
Schließlich kam Waltraut herbei, das zweijährige Schwesterlein, und nun ging es an ein fröhliches Spielen. Der morgige Tag war für Stunden vergessen. –
Der zehnte April, Puckis erster Schultag, zeigte ein freundliches Gesicht. Pucki dagegen blickte recht sorgenvoll darein. Und als die Mutter mahnte, es sei nun Zeit, als sie dem Töchterchen den Ranzen auf den Rücken hob, kam ein langgezogener Seufzer über die Kinderlippen.
»Lauf schnell zum Vati hinein, verabschiede dich, denn dann müssen wir gehen.«
Auch der Vater gab seinem Töchterchen gute Ermahnungen mit auf den Weg, dann wanderte das Kind an der Hand der Mutter Rahnsburg zu. Es war ein netter Weg, anfangs am Waldrande entlang, dann kam eine Wiese und bald die ersten Häuser der Stadt. Am Markt stand die Schule.
Von allen Seiten strömten Mütter herbei, Abc-Schützen an der Hand, um sie zum ersten Male in die Schule zu geleiten. Pucki hielt die Hand der Mutter noch lange fest.
»Komm bald wieder!«
»Ja, mein Kind, in einer Stunde bin ich wieder hier und hole dich ab. Ich bleibe in der Stadt und bringe dich dann wieder heim – du wirst mir bestimmt fröhlich entgegenspringen, weil es dir in der Schule gut gefallen hat.«
»Bringst du mir auch 'ne große Tüte?«
»Wenn du artig warst – ja.«
Von einer Lehrerin wurden die Kinder in Empfang genommen und in das Schulzimmer geleitet. Zum ersten Male erblickte Pucki einen derartigen Raum, der mit Bänken vollgestellt war. Manches Kind war sehr laut, einige Knaben kletterten sogleich auf die Bänke und liefen auf ihnen entlang. Pucki staunte über die vielen Kinder, die alle hier zusammengekommen waren. Alle in ihrem Alter. – Ob es sich mit ihnen wohl gut spielen ließ?
Dann kam ein anderes Fräulein, das vor die Bänke hintrat, die Kinder anrief und ihnen sagte, daß sie die Lehrerin sei und daß sie die Kleinen liebhaben wolle. Nun aber sollten sie sich recht brav niedersetzen. Pucki tat alles, ohne ein Wort zu sagen.
»Ich bin Fräulein Caspari, eure Lehrerin. Nun will ich aber mal eure Namen hören. Aber immer hübsch der Reihe nach.«
»Fräulein Kasperle«, kicherte einer der Buben, der unweit von Pucki saß.
Da erinnerte Pucki sich an das lustige Kasperle auf dem Jahrmarkt und begann zu kichern. Dann wiederholte sie ein wenig verschämt: »Fräulein Kasperle!«
Dieser Name pflanzte sich rasch weiter fort; die ganze Klasse von vierundvierzig kleinen Kindern begann zu lachen, doch plötzlich klopfte Fräulein Caspari auf den Tisch und sagte noch einmal deutlich:
»Ihr nennt mich Fräulein Caspari, und jetzt sagt mir eure Namen.«
Erst schrien alle durcheinander, je lauter desto bester. Einige drängten sogar nach vorn.
»Ich bin der Fritz Lange –«
»Ich der Georg Rabe!«
»Fräulein, so hör'n Sie doch, ich bin der Kuno Meister!«
Es dauerte ein ganzes Weilchen, ehe die Lehrerin wieder Ruhe gestiftet hatte.
Pucki verhielt sich abwartend. Direkt neben ihr saß ein kleines Mädchen mit blassem Gesicht, dem es um die Lippen zuckte, als wollte es weinen. Pucki betrachtete das Kind ein Weilchen, dann fragte es besorgt:
»Hast du Angst?«
Da begann das Kind zu weinen. »Ich will zur Mutter!«
»Die kommt nachher und bringt dir eine große Tüte. Jetzt müssen wir still sitzen, sonst stellt die Lehrerin uns in die Ecke.«
»Ich will zur Mutter«, weinte die Kleine lauter.
Die Lehrerin kam. »Warum weinst du denn? – Nun sage mir mal deinen Namen, du kleiner Blondschopf. – Wie heißt du?«
»Thusnelda –«, kam es stockend heraus.
Da lachte Pucki laut auf. »Du – Fräulein, wie heißt sie?«
Die Kleine weinte noch mehr. Das tat Pucki wieder leid. »Sei mal ruhig«, sagte sie und nahm die Hand des Kindes, »ich tu dir nichts, und sie tut dir auch nichts.«
»Wie werde ich dir denn etwas tun, kleine Thusnelda. Gib mal acht, wir nehmen jetzt die Tafeln heraus, und dann malt ihr auf die Tafeln schöne, runde Ostereier, wie sie euch der Osterhase kürzlich brachte. Nun fix alle Tafeln heraus. Wir zeichnen Ostereier.«
»Ich kann keine Ostereier zeichnen«, klang es von einer der vordersten Bänke, »ich habe keine Ostereier bekommen.«
Die Lehrerin ging zu dem Knaben, der diese Worte gesprochen hatte. Währenddessen tätschelte Pucki die Hand ihrer Nachbarin.
»Weine mal nicht, Thusnelda, ich bin bei dir, ich male dir auch die Ostereier auf. Ich hab' bei Onkel Niepel eine ganze Schürze voll Ostereier gefunden, und mein Vati hat mir auch Ostereier versteckt, sogar im richtigen Walde. Da sind wir ganz tief in den Wald gegangen. Auf einem Baum hat ein Eichkätzchen gesessen, das hat Hihihi gemacht – –«
»Wer plappert denn immerfort?« fragte die Lehrerin.
»Und dann ist die Eichkatze – husch! – an dem Stamme hochgelaufen; ich werde dir mal eine Eichkatze aufzeichnen.«
»Hedi Sandler, willst du nicht deinen kleinen Mund halten?«
»Oh, Fräulein, ich hab' noch so viel zu erzählen.«
»Erst erzähle ich euch etwas.«
»Nee, die Hedi Sandler soll erzählen«, rief eines der Kinder.
Aber Pucki hatte bereits die Lippen geschlossen und schaute Fräulein Caspari vorwurfsvoll an.
Sehr still wurde es nicht in der Klasse, obwohl man eifrig beim Ostereierzeichnen war.
Dann schrieb man ein »i«. Die kleine Ida freute sich, daß sie nun schon beinahe ihren Namen schreiben konnte, und Pucki machte einige Striche auf die Tafel und hing zum Schluß den Buchstaben hinten an.
»Du – Fräulein Caspari, das heißt hier Pucki!«
»Du mußt nicht ›du‹, du mußt ›Sie‹ sagen, Hedi.«
»Na, dann mußt du auch Pucki sagen und nicht Hedi.«
»Sie heißt Pucki«, riefen mehrere Kinder, »Pucki Sandler!«
Schließlich holte man die Stäbchen hervor, um damit kleine Figuren zu legen, ein Kreuz, ein Dreieck, ein Dach. Das gefiel den Kindern besser.
Die Stunde näherte sich ihrem Ende. Da sagte Fräulein Caspari freundlich: »Nun dürft ihr auf die Tafel irgendein Tier zeichnen oder ein Haus, was ihr gerade wollt. – Seht mal, draußen fährt soeben ein Wagen und ein Pferd vorüber. – Wie wäre es, wenn ihr alle ein Pferdchen maltet?«
Dieser Vorschlag fand begeisterten Anklang. Die Schieferstifte wurden in Bewegung gesetzt, es wurde zum ersten Male mäuschenstill in der Klasse. Puckis Blicke gingen noch immer zum Fenster hinaus, hin zu dem Tierchen, das gar lustig mit dem Schweife wedelte.
»Nun, Pucki, willst du nicht zeichnen? Die anderen sind beinahe fertig, beeile dich.«
Ein paar energische Striche, dann erklärte Pucki als erste, sie sei fertig.
Erstaunt nahm die Lehrerin die Tafel, auf der ein Viereck gezeichnet war, in dem Viereck ein Kreuz.
»Das ist doch kein Pferd, Pucki?«
Das Kind wies auf das Viereck. »Dahinter ist das Pferd. Das ist der Stall. Pferdchen war müde, da habe ich es in den Stall gestellt.«
Die Lehrerin verbiß sich das Lachen, meinte jedoch, sie wolle das Pferdchen sehen.
»Morgen kannst du es sehen, wenn es sich ausgeruht hat. Wenn das Pferdchen müde ist, läßt es der Kutscher nicht mehr aus dem Stall heraus.«
Fräulein Caspari gab sich damit zufrieden. Die anderen Kinder hatten allerlei drollige Zeichnungen ausgeführt, und als es hieß, die Tafel sei wieder abzuwischen, entstand unwilliges Gemurmel.
»Wenn ich's wieder wegwischen soll«, rief Heinz Rabe, »hätte ich es gar nicht erst zu zeichnen brauchen. – Ich wisch es nicht weg!«
Er packte die Tafel energisch ein. Da ertönte draußen die Glocke, und nun gab es einen Tumult.
»Meine Mutter ist draußen – meine Mutter ist draußen!«
Auch Hedi stopfte mit überraschender Geschwindigkeit die Tafel in den Ranzen, um ihre Tüte recht bald in Empfang zu nehmen.
»Kriegst du auch eine Tüte?« fragte sie ihre Nachbarin.
»Nein – –«
»Warum denn nicht?«
»Weil meine Mutter kein Geld hat.«
»O je – ich geb' dir ein Stückchen ab.«
Auf die Abschiedsworte, die Fräulein Caspari sprach, achtete keines der Kinder. Alles drängte zur Tür. Einige stolperten, schrien und fielen hin. Der große Flur des Schulhauses war von dem Geschrei der Klasse angefüllt.
Vierundvierzig kleine Knaben und Mädchen warteten auf ihre Mütter.
Aufs neue begann ein Drängeln und Stoßen; schließlich hatte Pucki ihre Mutter gefunden. Mit einem Jubelruf stürzte sie auf sie zu.
»Ich habe nicht in der Ecke gestanden, Mutti, ich habe mich auch nicht gegrault. – Oh, die schöne, große Tüte!«
Hedi nahm die Tüte in den Arm und liebkoste sie. Dabei erinnerte sie sich an das kleine Mädchen, das neben ihr gesessen hatte.
»Denk mal, Mutti, ein Mädchen bekommt keine Tüte, weil ihre Mutter eine arme Frau ist. Darf ich ihr ein Stück Schokolade schenken?«
»Selbstverständlich, Pucki.« Frau Sandler hatte längst die traurigen Blicke einiger Kinder bemerkt, deren Eltern nicht in der Lage waren, ihren Kleinen am ersten Schultage eine derartige Freude zu machen. Sie freute sich über ihr Töchterchen, dessen weiches Herz sich soeben wieder zeigte.
Diesmal wählte Pucki ein großes Stück Schokolade, das sie Thusnelda Reichert reichte, die mit traurigem Gesicht abseits stand und an dem Jubel der Beschenkten nicht teilnehmen durfte.
»Hier hast du was!«
Frau Sandler schaute auf das dürftig gekleidete Mädchen, dem man seine Armut deutlich ansah. Wie blaß die Kleine aussah, gerade so, als ob sie nicht immer richtig zu essen bekäme.
»Pucki«, sagte sie leise zu ihrer Tochter, »ich glaube, deine kleine Nachbarin hat es nicht so gut wie du. Wie wäre es, wenn du das kleine Mädchen einmal zu dir in den Garten einladen wolltest. Sie könnte mit dir Kaffee trinken und spielen, damit sie rote Bäckchen bekommt.«
»Ja, sie sieht so weiß aus, Mutti. Aber wenn sie jetzt das Stück Schokolade gegessen hat, wird ihr gleich besser sein.«
Frau Sandler neigte sich zu der scheuen Kleinen nieder und fragte sie aus. Viel erfuhr sie nicht. Die Mutter des Kindes ging in die Häuser, Wäsche waschen; der Vater war längst tot. Es waren noch mehrere größere Geschwister da, die Not schien groß zu sein. Pucki stand daneben und lauschte aufmerksam.
»Haben deine großen Kinder auch keine Tüte bekommen, als sie zur Schule gingen?«
»Nein.«
»Bekommst du nie Schokolade oder Apfel und Birnen?«
»Nein.«
»Das ist aber schlimm.«
»Ich glaube, es gibt noch viele arme Kinder, Pucki, die es nicht so gut haben wie du. Die alle sehr froh wären, wenn sie den Milchreis bekämen, den du nicht essen magst. Manche Mutti kann ihren Kindern gar nichts kochen, dann haben sie Hunger.«
»Hast du Hunger?« fragte Pucki.
Einen Augenblick zögerte Pucki, dann drückte sie energisch dem blassen Mädchen die schöne große Tüte in den Arm.
»Weil du Hunger hast, und weil ich daheim noch eine Tüte hab'! Nu iß und hab keinen Hunger mehr. Du kannst sie behalten.«
Zunächst war Thusnelda Reichert wie versteinert. Dann aber stürmte sie davon, weil sie fürchtete, daß man ihr das kostbare Geschenk wieder fortnehmen könnte. Hedi hatte trotzdem das strahlende Leuchten bemerkt, das über das blasse Kindergesicht geglitten war.
»Mutti«, flüsterte sie, »sie freut sich.«
»Ja, mein Kind, sie freut sich. Man hat ihr wohl noch nie eine Tüte mit Süßigkeiten geschenkt. Nun hast du aber nichts.«
Pucki streckte die leeren Hände in die Luft.
»Nein, nun habe ich nichts – aber vielleicht, wenn ich sehr lieb bin, kriege ich noch was.«
»Nein, Pucki, Mutti hat nur eine Tüte gekauft. Du hast diese Tüte verschenkt, du hast aber dafür ein armes Mädchen sehr glücklich gemacht. Ist das nicht auch schön?«
»Sie hat sich fürchterlich gefreut, Mutti. Nu hat sie meine ganze, große Tüte. – Ein Stückchen hätte sie mir doch abgeben können.«
»Denke immer daran, mein gutes Kind, daß die Kleine sehr viel Freude an dieser Tüte hat. Daheim sind noch mehr Geschwister, die sich alle freuen werden, daß sie endlich einmal eine Leckerei bekommen. Du kannst es den Kindern gönnen, Pucki. Du bekommst oft etwas Gutes, aber arme Kinder nie. Oder tut es dir leid, daß du das Geschenk gemacht hast?«
»Wenn sie sich darüber freut, Mutti, dann mag sie es behalten. Ich habe daheim doch noch die Tüte von Tante Niepel. – Es muß sehr schlimm sein, wenn man Hunger hat und die Mutti nichts kaufen kann. Jedesmal, wenn du mir jetzt Schokolade schenkst, werde ich ihr ein Stückchen abgeben. Mutti, dann mußt du mir sehr oft Schokolade schenken, damit sie sich freuen kann.«
Nun ging es heimwärts. Unterwegs blieb Pucki plötzlich stehen.
»Wenn nun aber noch andere Kinder da sind, die auch keine Tüte bekommen haben, was machen wir dann?«
»Ich glaube, es waren sehr viele darunter, Pucki. Du wirst in Zukunft zu diesen armen Kindern besonders nett sein und versuchen, auch ihnen einmal eine kleine Freude zu machen.«
Pucki war recht nachdenklich geworden. Erst als die Mutter nach den Erlebnissen des ersten Schultages fragte, plapperte das kleine Mäulchen lustig drauf los.
»Aber morgen erzähle ich ihr mehr von dem Eichkätzchen, das auf den Baum hüpft, das wird sie nicht wissen, Mutti.«
»Wenn Fräulein Caspari danach fragt, kannst du es ihr erzählen. Aber sonst mußt du immer recht still sein.«
»Mutti, das Fräulein wird doch wohl keinen Hunger haben? Sie ist nicht arm, ich brauche sie also nicht zum Kuchen in den Garten einzuladen wie die kleine Thusnelda?«
»Nein, Pucki, das brauchst du nicht. Doch sieh, da steht der Vati, er wird sich freuen, von dir etwas über den heutigen Tag zu hören.«
Pucki flog dem Vater in die geöffneten Arme.
»Im Walde bei dir ist es viel, viel schöner, Vati, aber ich denke, daß ich mich auch mit Thusnelda vertragen werde.«