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Seit jener Mahnung, die die Heinzelmännchen auf die Schiefertafel geschrieben hatten, gab Hedi Sandler sich die größte Mühe, in der Schule aufmerksam zu sein. Sie war sehr stolz, als Fräulein Caspari eines Tages sagte, daß sie mit ihr zufrieden sei. Nur eines tadelte sie nach wie vor: Pucki konnte den kleinen Mund nicht immer rechtzeitig halten. Sie hatte aber auch zu viel zu erzählen. Alles, was sie im Walde erlebte, was sie auf ihrem Wege von und zur Schule sah, mußte den Mitschülerinnen und der Lehrerin mitgeteilt werden. Auch von dem Schwesterchen erzählte sie, von den Niepelschen Knaben, mit denen sie an jedem Mittwoch und Sonnabend aus der Schule heimfuhr. An diesen beiden Tagen wurde der Unterricht für die drei untersten Klassen um zwölf Uhr beendet, und dann stand auf dem Markt regelmäßig der Wagen mit dem weißen Pferdchen, der die Niepelschen Knaben und Pucki Sandler heimfahren sollte.
Diese gemeinsame Heimfahrt verlief stets recht anregend; es gab regelmäßig so viel zu erzählen, daß Pucki es stets bedauerte, wenn sie schon nach kurzer Zeit am Forsthause abgesetzt wurde.
Auch heute, um zwölf Uhr, würde der Wagen mit dem weißen Pferdchen wieder auf dem Marktplatze warten. Die Schulkameradinnen beneideten Pucki um dieses Vergnügen, und oftmals wollte eines der kleinen Mädchen mit einsteigen, wurde von dem Kutscher jedoch stets zurückgewiesen.
Seit einigen Tagen ließ man das Försterkind allein nach der Schule gehen. Der Weg war nicht gar zu weit, und die Mutter schärfte Pucki ein, daß sie stets, ohne zu zögern, die Straße entlang wandern sollte. Manchmal wurde Pucki noch ein Stück Weges vom Vater oder der Mutter begleitet, bis die ersten Häuser von Rahnsburg in Sicht kamen.
Hedi fühlte sich sehr stolz. Die anderen Kinder hatten es nicht so weit zur Schule wie sie. Sie wohnten in der Stadt; eines brauchte sogar nur um die Straßenecke zu gehen und war da. Mitunter verspätete Pucki sich auch. Da war ein Käferchen oder eine Schnecke, die über den Weg kroch, da sang ein Vöglein gar so wunderschön, daß die Kleine lauschen mußte, oder die Bäume rauschten mit den Wipfeln, und denen mußte sie freundlich zunicken. Die Lehrerin kannte Puckis Vorliebe für die Natur und ließ sich oftmals von dem kleinen Mädchen dessen kleine Walderlebnisse erzählen.
Heute war Pucki rechtzeitig in der Klasse erschienen. Fräulein Caspari war noch nicht anwesend. Pucki wurde stets von allen stürmisch begrüßt. Man erinnerte sich des schönen Nachmittags im Forsthause, der prächtigen Waffeln und der guten Milch und hoffte, daß sich diese Einladung bald wiederholen möchte. Pucki hätte es gern getan, aber die Mutti meinte, alle Kinder könnte sie nicht wieder einladen, Pucki dürfe jedoch hin und wieder zwei oder drei kleine Mädchen für den Nachmittag in das Forsthaus bitten.
Herzliche Zuneigung fühlte Pucki für ihre Nachbarin, die kleine, blasse Thusnelda Reichert. Manches Frühstücksbrot war mit ihr geteilt worden, und wenn Pucki einmal eine kleine Leckerei mitbekam, erhielt Thusnelda gewissenhaft die Hälfte davon.
»Du sollst wieder mal zu uns ins Forsthaus kommen«, sagte Pucki am heutigen Tage zu der Schulfreundin. »Du sollst dann wieder Milch und Waffeln haben.«
Die scheue Thusnelda schüttelte den Kopf.
»Doch, du sollst kommen!«
»Nein, ich kann nicht.«
»Warum kannst du denn nicht? Ich zeige dir den Weg.«
Wortlos streckte Thusnelda die Füße vor; Pucki blickte auf zwei recht zerrissene Schuhe.
»O je«, sagte Pucki, »die sind aber kaputt! Wenn's regnet, hast du nasse Füße und wirst krank. Du mußt andere Schuhe anziehen, die keine Löcher haben.«
»Ich habe keine anderen.«
»Ich hab' zu Hause noch ein Paar braune Schuhe und ein Paar weiße, und die hier habe ich auch.«
»Ich habe gar keine anderen.«
»Dann hol dir doch meine Schuhe.«
Wieder schüttelte Thusnelda den Kopf. Um ihre Lippen zuckte es, dann kamen Tränen.
Pucki strich ihr liebevoll über die Backen. »Weinst du, weil du keine Schuhe hast?«
»Ja – –«
»Dann weine mal nicht, hier hast du meine Schuhe, dann bekommst du keine nassen Füße. Ich habe zu Hause noch sooo viele. Mutti zieht mir andere an.«
Schon hatte das kleine Mädchen die Schuhe ausgezogen und stellte sie vor Thusnelda auf die Schulbank. Die anderen Kinder waren aufmerksam geworden und flüsterten miteinander. Als aber Thusnelda noch immer nicht nach den Schuhen griff, zerrte Pucki die Kleine aus der Bank heraus, löste ihr das zerrissene Schuhwerk von den Füßen und streifte ihr die braunen Sandalen über die Füße.
»Die kannst du jetzt immer behalten.«
»Aber dann hast du ja keine Schuhe? Wie willst du denn bis ins Forsthaus kommen?« rief Georg Rabe.
»Heute brauche ich keine Schuhe, ich fahre mit dem Wagen, und zu Hause habe ich andere Schuhe.«
In diesem Augenblick betrat Fräulein Caspari die Klasse. Sogleich nach der Begrüßung riefen ihr die Kinder zu, daß Pucki ihre Schuhe der Thusnelda geschenkt hätte. Da wurde das kleine Mädchen sehr erregt und sagte mit lauter, energischer Stimme:
»Olle Klatschliesen seid ihr! Mutti hat gesagt, wenn man was verschenkt, darf man nicht davon reden.«
»Darfst du deine Schuhe verschenken, Pucki?« fragte die Lehrerin.
»Ja – ich habe noch viele andere Schuhe!«
Thusnelda war während der Unterrichtsstunden sehr unaufmerksam. Sie betrachtete beglückt die hübschen Sandalen, die ihr nunmehr gehören sollten. Wie würde die Mutter sich freuen, wenn sie mit neuen Schuhen heimkam. Sie schrak zusammen, als sie die Stimme Fräulein Casparis hörte, die schon zum zweiten Male fragte:
»Nun, Thusnelda, weißt du mir nicht zu antworten?«
Thusnelda hatte die erste Frage überhaupt nicht gehört, sie wußte nicht, um was es sich handelte. Pucki flüsterte ihr zwar etwas ins Ohr, bekam deswegen aber einen Verweis.
»Wenn du flüstern kannst, Pucki, kannst du uns auch laut und deutlich erzählen, was du von den Tieren des Waldes weißt.«
»O ja – von denen weiß ich viel! Da ist zuerst das kleine weiße Pferdchen, mit dem ich heute wieder nach Hause fahre.«
»Das Pferd ist aber kein Tier des Waldes.«
»Ja, das Pferdchen ist immer im Walde, das Pferdchen hat ein weißes Fell, aber es gibt auch Pferde mit einem braunen und einem schwarzen Fell.«
Fräulein Caspari lächelte nachsichtig. »Nun gut, Pucki, so erzähle uns einmal eine Geschichte von dem weißen Pferdchen. Ihr anderen paßt gut auf, damit ihr mir morgen auch davon erzählen könnt.«
»Das weiße Pferdchen heißt Liese; es hat vier Beine und hinten einen Schwanz, mit dem es wackelt, wenn es sich freut oder wenn es von den Fliegen geärgert wird. Manchmal sind auch ganz große Fliegen da, die das Pferdchen stechen. Wenn Onkel Niepel der Liese ins Maul guckt, weiß er, wie alt sie ist. Das hat er mir gesagt. An den Hufen hat das Pferd Eisen. Ein weißes Pferd steht auch auf dem Karussell, auf dem ich geritten habe.«
»Fräulein, das ist aber nur von Holz!«
»Sei still, Hans, erst soll Pucki fertig erzählen.«
»Die Liese ist ein schönes Pferdchen, denn es bekommt viel Hafer. Die Liese ist viel älter als ich, denn sie war schon da, als ich noch ganz klein war. So, nun bin ich fertig.«
»Das hast du recht nett gemacht, Pucki. Morgen werdet ihr mir auch noch einiges über die Pferde erzählen.«
»Ich weiß noch viel mehr«, rief einer der Knaben. Nun erzählte er von einem Pferd, das vor einen schweren Lastwagen gespannt war, und wie der grobe Kutscher das arme Tier mit einer Peitsche geschlagen hätte.
Pucki hob den Finger in die Höhe, und als sie zum Sprechen aufgefordert wurde, sagte sie:
»Fräulein Caspari, man darf das Pferd nicht mit der Peitsche hauen. Ein Pferd weiß alleine, ob es schnell oder langsam gehen soll.«
Die Stunde verlief recht angeregt, denn über das Pferd wußte jedes Kind etwas zu sagen. So schnell wie heute war Pucki die Zeit des Unterrichts noch nie vergangen, und als es läutete, war sie erstaunt, daß sie schon wieder heimgehen durfte.
»Halt, Pucki«, rief die Lehrerin, »willst du nun ohne Schuhe bis zum Marktplatz laufen?«
»O ja, ich laufe manchmal sogar ohne Strümpfe.«
»Dann ziehe wenigstens die Strümpfe aus. Es ist heute warm, und du bist das Barfußgehen gewöhnt.«
Pucki tat es und eilte überglücklich zum Marktplatze. Die drei Knaben waren noch nicht da, doch der Kutscher wartete bereits mit dem Wagen. Die Kleine ging von Schaufenster zu Schaufenster und betrachtete die Auslagen.
»Du – was steht denn hier geschrieben?«
Der gutmütige Kutscher gab bereitwillig Auskunft. Da wurden in der Apotheke die verschiedensten Mittel angepriesen; beim Bäcker wurde Reklame für ein neues Schrotbrot gemacht. Weiter ging es zur Tischlerei. Da hing ein großer weißer Zettel.
»Was hat denn der Mann geschrieben?«
»Hier wird das Wachsen von Möbeln übernommen.«
»Was – – das Wachsen von Möbeln?«
»Ach, du Dummerlack! Der Tischler meint, die Möbel werden schön aufpoliert und mit Wachs bestrichen.«
Lautes Lärmen auf dem Markte verkündete, daß auch die beiden anderen Schulklassen geschlossen worden waren. Die Kinder tobten die Straßen entlang. Paul und Fritz waren am Wagen und stiegen bereits ein.
»Wo bleibt denn der Walter«, forschte Pucki.
»Der kommt auch gleich nach, der kann nicht so schnell laufen, er ist krank.«
»Krank?« rief Pucki erschrocken, »was hat er denn? Ich werde ihn holen.«
Doch da kam schon Walter. Er ging sehr langsam und hatte die eine Hand in die Seite gestützt.
»Was fehlt dir denn?« fragte der Kutscher.
»Mir tut es hier so weh«, sagte der Knabe und zeigte auf die linke Seite.
»Bist wohl wieder toll herumgelaufen und hast Seitenstechen. Das wird gleich wieder vergehen.«
Dann fuhr man ab. Pucki betrachtete Walter oftmals, der heute einen gar müden Eindruck machte.
Pucki streichelte die Wange des Freundes. »Hab mal keine Angst, Junge, deine Mutti kann dir schon helfen. Die kocht dir Kamillentee, und dann ist alles gut. Oh, warte noch ein bißchen. Du steigst am Forsthause ab, dann gibt dir meine Mutti eine Medizin. Die hilft, ich weiß schon, was dir gut tut.«
»Kannst du ihm helfen?« fragte Fritz.
Pucki nickte mit dem Kopf. »Ja, ich helfe ihm.«
»Er hat es gut«, seufzte Fritz, »ihm kannst du helfen, aber kannst du mir nicht auch helfen?«
»Was soll ich denn?«
»In der Schule war's heute sehr schlimm. Wir sollten etwas über ein Schiff erzählen, das hatte uns der Lehrer gezeigt. Und da war gerade ein Maikäfer, den hatte der Erich mitgebracht und auf der Bank herumkriechen lassen. Da haben wir nicht hingehört, was der Lehrer sagte. Und nun sollen wir was über das Schiff schreiben, und ich weiß doch nicht, was.«
»Über das Schiff, das beim Schmanzbauer in der Stube hängt?«
»Ich weiß nicht. Er hat uns auf einem Bilde ein Schiff gezeigt und davon erzählt.«
»Weißt du gar nichts mehr davon, Fritz?«
»Nein, gar nichts.«
»Na, dann schreibe über das Schiff vom Schmanzbauer.«
»Was soll ich denn schreiben?«
»Da mußt du mal hingehen. Dem Schmanzbauer sein Kind fährt immer auf einem Schiff. Der Schmanzbauer hat mir schon viel erzählt. – Du, ich weiß viel von dem Schiff.«
Paul horchte auf. Auch er hatte heute in der Stunde nicht aufgepaßt und wußte ebenso wenig über das Schiff zu sagen wie sein Bruder Fritz.
»Wenn du so viel weißt, Pucki«, meinte er, »dann erzähle uns was von dem Schiff.«
»O ja! – Das Schiff hängt beim Schmanzbauer an der Zimmerdecke. Auf einem Schiff können furchtbar viele Leute fahren. Es hat viele Plätze. Jedes Schiff hat einen Namen. Aber wie das Schiff vom Schmanzbauer heißt, weiß ich nicht, und sein Kind, das auf dem Schiff fährt, ist jetzt nicht da. – Wollen wir heute mal zum Schmanzbauer gehen?«
»Ich habe heute keine Zeit. Aber erzähle noch mehr von dem Schiff.«
»Die Leute, die kein Geld bezahlen und das Schiff bedienen, sind die Matrosen. Kleine Matrosen heißen Schiffsjungen. Die müssen viel klettern und das Schiff scheuern. Der Steuermann dreht an einem Rad das Schiff hin und her, damit es richtig fährt. Der Führer auf einem Schiff ist der Kapitän.«
»Was du alles weißt!« staunte Fritz. »Wer hat dir denn das erzählt?«
»Der Schmanzbauer. Ich gehe gern zum Schmanzbauer. Nächstens gehe ich wieder hin, dann frage ich nach dem Schiff.«
»Was du jetzt gesagt hast, schreibe ich auf«, rief Paul. »Aber der Fritz darf es nicht aufschreiben.«
»Nein, das schreibe ich auf!«
»Pucki«, sagte Fritz, »ich will auch was schreiben.«
Das Försterkind starrte einige Augenblicke nachdenklich zum Himmel empor, dann rief es freudig. »Oh, ich weiß noch mehr, das sage ich dir ins Ohr, dann hört es der Paul nicht.«
»Der hat schon genug.«
»Die Matrosen und der Kapitän müssen sehr gute Augen haben. Manchmal ist ganz dicker Nebel auf dem Wasser, daß sie nichts sehen können. Bei Nebel tuten die großen Schiffe mit einem Horn. Die Stricke oben am Schiff haben einen komischen Namen, den habe ich vergessen. Aber das frage ich den Schmanzbauer noch. Meistens haben die Matrosen eine Pfeife im Munde und rauchen daraus. Wenn das Schiff in den Hafen kommt, dann geht der Matrose nach Hause und freut sich. – Hast du nu genug?«
»Ach, Pucki, ich hab' dich schrecklich lieb, weil du immer einen guten Rat weißt. Du bist doch die Klügste von uns.«
»Wenn mir noch was einfällt vom Schiff, sage ich es dir morgen früh, wenn ihr mit dem Wagen vorbeifahrt.«
Walter hatte sich an der Unterhaltung wenig beteiligt. Er saß müde in der Wagenecke und fühlte sich gar nicht wohl.
»Na, na«, meinte der Kutscher, »ich glaube, du hast dich erkältet und mußt ins Bett, Walter.«
»Ja, fahr recht schnell«, rief Fritz.
Bald hielt der Wagen am Forsthause. Dort wurde Pucki abgesetzt. Diesmal winkte sie Walter besonders herzlich zu, denn sie hatte inniges Mitleid mit dem kranken Knaben. Dann eilte sie aufgeregt in die Küche, in der die Mutter beschäftigt war, und rief stürmisch:
»Mutti, da bin ich!«
Frau Sandler sah sofort Puckis bloße Füße.
»Was ist denn das wieder? Wo sind deine Schuhe und Strümpfe?«
»Die Schuhe hat die Thusnelda bekommen, die Strümpfe habe ich in die Mappe gesteckt.«
Eifrig erzählte Pucki von der armen Thusnelda, die in zerrissenen Schuhen umherlief.
»Ach, Mutti, sie hat sich sehr gefreut, nun kann sie heute nachmittag zu mir kommen, weil sie meine Schuhe hat.«
»Du hättest mich erst fragen müssen. – Du darfst die Sachen, die du trägst, nicht verschenken, ohne daß wir davon wissen. Wenn Thusnelda heute kommt, will ich ihr noch ein Kleidchen von dir heraussuchen.«
»Au fein, Mutti! Gestern hat uns Fräulein Caspari erzählt, daß es viele arme Kinder gibt, die gar nichts haben. In der großen Stadt mit den hohen Häusern sind noch viel mehr arme Kinder als in Rahnsburg. Und diese Kinder haben keinen grünen Wald, wie wir, – Mutti, das muß schlimm sein!«
»Gewiß, Pucki, es gibt viele Kinder, die noch niemals aus der Stadt herausgekommen sind, die niemals frische Waldluft geatmet haben. Sie sehen blaß und elend aus und sind oft krank.«
»Kann man sie nicht in den Wald schicken, damit sie nicht krank sind?«
»Es haben sich gutherzige Leute gefunden, die sich dieser Kinder annehmen. Dann wird Geld gegeben, damit die kränklichen Geschöpfe aufs Land oder in den Wald geschickt werden können. Alle Jahre fahren ganze Eisenbahnzüge mit Kindern aus den großen Städten hinaus.«
»Alle in den Wald?«
»Nein, auch aufs Land oder an die See.«
»Warum kommen denn in unseren Wald keine kranken Kinder?«
»Man hat gerade vor einigen Tagen an deine Mutti geschrieben, ob sie nicht auch ein Kind aufnehmen will. Auch bei den anderen Förstern und den Gutsbesitzern traf eine derartige Anfrage ein.«
»Au, Mutti, dann lassen wir viele Kinder herkommen, ich gehe mit ihnen in den Wald, und du bäckst Waffeln.«
»Vielleicht nimmt Mutti ein solches armes Kind in den großen Ferien auf. Doch das muß sie erst mit dem Vati besprechen.«
Schon am nächsten Tage erzählte Pucki in der Schule von den armen Kindern, die gerne in den Wald und in die Försterei kommen möchten.
»Meine Mutti will auch so ein Kind haben.«
»Das ist sehr nett von deinen Eltern, Pucki. Es wird dir viel Freude machen, einem kleinen Stadtmädchen den Wald zeigen zu können.«
Von nun an fragte Pucki tagtäglich die Eltern, ob nicht bald ein Kind aus der großen Stadt in den Wald käme.
»Ich möchte gern mit dem Kindchen spazierengehen.«
»Wenn du gern spazierengehen willst, Pucki, warum gehst du dann so selten mit Waltraut spazieren? Es wäre mir sehr lieb, wenn du dich mehr mit deinem Schwesterchen beschäftigen wolltest.«
»Ihr könnt mich beide heute nachmittag in den Wald begleiten«, sagte Förster Sandler. »Wir haben direkt an der Straße zu tun, und es ist ein schöner Tag. Da werdet ihr viel Freude haben.«
Pucki war es zufrieden. Die kleine Schwester konnte zwar nicht so schnell laufen, wie sie es liebte, sie stolperte auch oftmals, aber mit den Holzarbeitern konnte man sich so schön etwas erzählen. Auch war es gar lustig anzusehen, wenn lauter viereckige Haufen aus zersägten Baumstämmen zusammengetragen wurden.
Obwohl Förster Sandler seinen Kindern streng befohlen hatte, in seiner Nähe zu bleiben, wanderte Pucki doch mit dem Schwesterchen ein wenig weiter. Es gab so viel zu zeigen. Waldi fürchtete sich zwar vor den großen schwarzen Käfern, die über den Weg krochen, doch Pucki meinte, das seien die lieben Mistkäfer, die einem nichts Böses täten.
Ganz plötzlich horchte sie auf. Drüben, auf der anderen Seite des Weges mußten auch Holzarbeiter sein. Beständig knackte und raschelte es.
»Komm, Waldi, wir wollen mal sehen, ob dort der Onkel Oberförster oder der Mann mit dem langen Bart ist.«
Es war aber nur ein altes Mütterchen, das einen kleinen Handwagen voll Holz packte. Die alte Frau trug dürre Äste zusammen, von denen sie die kleinen Zweige abbrach.
Eine ganze Weile schaute Pucki diesem Tun zu. Es war dem Kinde nichts Neues, daß Holz zusammengetragen wurde, doch diese alte, kleine Frau schien große Mühe zu haben, den Wagen vollzuladen.
»Warum holst du dir denn keinen Mann, der das Holz aufpackt?«
»Ich habe keinen Mann. Ich bin ganz allein.«
»Dann mußt du den Wagen auch allein nach Hause ziehen?«
»Ja.«
»Kannst du das?«
»Es muß gehen, Kleine. Wenn nur mein Fuß besser würde. Er ist krank, mit ihm kann ich nicht gut auftreten. Da geht es eben sehr langsam.«
Ein Weilchen überlegte Pucki, dann sagte sie freundlich: »Ich hab' einen Roller. Wenn du den kranken Fuß auf meinen Roller setzt, geht es viel schneller. – Soll ich dir meinen Roller holen?«
»Nein, du gutes Kind, der Roller kann mir nichts nützen. Ich werde schon heimkommen.«
Wieder sah Pucki, wie die alte Frau bald hierhin, bald dorthin humpelte. Da packte sie mit zu und begann auch allerlei Zweiglein aufzulesen und auf den Wagen zu legen. Sogar Waltraut tat ein Gleiches. Es waren allerdings nur ganz kleine Ästchen, die sie herbeizutragen vermochte. Doch das alte Mütterchen schien sehr erfreut über diese Hilfe zu sein.
»Ihr seid zwei gute Kinder.«
»Ich werde dir immer helfen. Kommst du oft in den Wald? Dort drüben, beim Vati, liegt so viel Holz. Komm mit, das holen wir jetzt!«
»Nein, nein, das dürfen wir nicht.«
»Dann bringe ich dir was. Dort sind Männer, die tragen dir das Holz her.«
Wieder wehrte die alte Frau ab und meinte, es sei genug. Sie wolle nun heimfahren. Aber es war schwer, den Wagen mit der Holzlast anzuziehen.
»Ich helfe dir ein bißchen«, sagte Pucki gutmütig.
»Wenn du hinten ein wenig stoßen wolltest, mein Kind, dann geht es gewiß.«
Wahrhaftig – es glückte. Pucki strahlte geradezu. Es machte ihr Freude, recht kräftig an das Wäglein zu stoßen, damit die alte Frau nicht so schwer zu ziehen brauchte. Da sie ein krankes Bein hatte, konnte sie leider nicht gut laufen. An das Schwesterchen dachte Pucki in ihrem Eifer nicht mehr. Sie schob und stieß an dem Wäglein nach Leibeskräften, bis der breite Waldweg erreicht war.
»Nun geht es schon allein, mein liebes Kind, ich danke dir herzlich.«
»Nur noch ein ganz klein wenig, weil du doch ein böses Bein hast.«
Plötzlich erblickte Pucki einen Herrn in grüner Uniform, der auf dem breiten Wege daher geschritten kam.
»Oh, hast du Glück«, sagte sie erfreut, »da kommt der Onkel Oberförster, der kann auch ein bißchen schieben helfen.«
Es war wirklich der Oberförster. Doch er machte kein freundliches Gesicht, er streckte gebieterisch die Hand aus und hielt den Wagen an.
»Ist heute Holztag?«
Die alte Frau machte ein erschrockenes Gesicht; Pucki dagegen streckte dem Onkel Oberförster freundlich das Händchen hin und sagte mit ihrer süßen, hellen Stimme:
»Sieh mal, Onkel Oberförster, ich bin schon ganz heiß. Stoß du auch mal an dem schweren Wagen.«
»Wissen Sie nicht, daß am Donnerstag kein Holz gesammelt werden darf?«
»Entschuldigen Sie nur, Herr Oberförster, aber ich habe zu Hause nichts mehr. Ich konnte gestern nicht in den Wald.«
»Ordnung muß sein, in Zukunft werde ich es nicht wieder dulden, daß Sie an verbotenen Tagen aus dem Walde Holz holen. Was sollte werden, wenn jeder die Vorschriften übertreten wollte.«
Oberförster Gregor war ein gutherziger Mann, aber er hielt streng auf Ordnung. Seine Stimme klang barsch, trotzdem meinte er es nicht schlimm.
Hedi Sandler hatte den guten Onkel Oberförster noch niemals so sprechen hören. Mit weit offenen Augen schaute sie zu ihm auf.
»Wenn doch die Frau gar kein Holz hat – sie hat nicht so viel wie der Vati.«
Die Alte wollte sich mit ihrem Wäglein schnell aus dem Staube machen.
»Merken Sie sich, daß am Montag und Donnerstag kein Holz aus dem Walde geholt werden darf«, sagte der Oberförster. »Von rechts wegen müßte ich Ihnen das Holz eigentlich fortnehmen.«
»Herr Oberförster«, jammerte die Alte.
»Schon gut, fahren Sie los, aber kommen Sie nicht wieder am Montag oder am Donnerstag in den Wald!«
»Nein, nein, Herr Oberförster.«
Puckis Herz klopfte stürmisch. War das der gute Onkel Oberförster, der sonst immer so vergnügt lachte? Einer armen Frau wollte er das Holz wegnehmen? So ein bißchen Holz, das im Walde herumlag, sollte die alte Mutter nicht behalten dürfen?
»Na, –« sagte Oberförster Gregor und schaute Pucki an, »was machst du denn allein im Walde? Bist wohl von daheim fortgelaufen?«
»Ich hab' auch Holz gesucht, ich habe der Frau geholfen, weil sie einen kranken Fuß hat. Die arme Frau hat so einen großen Schreck gekriegt, – weil du ihr das Holz wegnehmen wolltest. Die Mutti sagt, man darf niemandem etwas wegnehmen! Dabei hat sie doch ein schlimmes Bein.«
»Kleine Pucki, das verstehst du nicht. Es ist eben verboten, am Montag oder Donnerstag im Walde Holz zu sammeln. An den anderen Tagen kann die Frau ruhig kommen.«
»Weil sie doch gestern keine Zeit hatte und kein Holz holen konnte, ist sie heute in den Wald gegangen, weil sie friert und weil sie sich in der Küche kein Feuer anmachen kann. Wenn man friert, ist das sehr schlimm, das hat auch Thusnelda gesagt, und Fräulein Caspari sagt, man soll keine Leute hungern und frieren lassen.« Unwillkürlich schluckte Pucki an den aufsteigenden Tränen. »Du läßt die arme Frau kein Holz holen. Nun ist sie vor Angst mit dem schlimmen Bein ganz schnell weggelaufen, und das Bein wird noch schlimmer. Aber ich hab' ihr geholfen, und wenn sie wiederkommt – – helf' ich ihr wieder.«
Oberförster Gregor betrachtete sprachlos die kleine Anklägerin. So etwas war ihm noch nicht vorgekommen. Hedi schien ernstlich entrüstet darüber zu sein, daß er an gewissen Tagen das Holzsammeln nicht erlaubte. Dieses kleine, aufgeweckte Mädchen machte ihm unendlichen Spaß. So legte er die Stirn in Falten und sagte:
»Du hast mit Holz gesammelt? – Darfst du das? Am heutigen Tage ist es verboten. Du als Försterkind müßtest das wissen.«
»Die alte Frau ist aber kein Försterkind, sie hat es nicht gewußt, und dann hat sie doch nur ein ganz klein wenig von der Erde aufgesammelt. Wenn die alte Frau zu mir gekommen wäre und zum Vati, der hätte ihr viel Holz gegeben.«
»Morgen kann sie wiederkommen, nicht heute.«
»Onkel Oberförster, in der großen Stadt mit den vielen Häusern sind so viele Kinder, die krank sind, weil sie keinen Wald haben und kein Holz holen können. Dann frieren sie. Und weil die alte Frau auch so gefroren hat, hat sie auch einen kranken Fuß bekommen. Ich habe einem kleinen Mädchen, das keine Schuhe hatte, meine Schuhe geschenkt, und Mutti hat ihr noch ein Kleidchen gegeben.«
Es war dem Oberförster kaum möglich, Pucki zu beruhigen. Pucki machte ein gar finsteres Gesicht und sprudelte die Worte nur so heraus.
»Du meinst also, ich sollte allen Leuten, die frieren, Holz geben?«
»Ja, Onkel Oberförster, das sollst du.«
»Dann würde der Wald bald keine Bäume mehr haben.«
»Doch, der liebe Gott läßt immer wieder Bäume wachsen. Und Bäume wollen die Leute auch nicht haben, nur was von dem Holz, das der Wind 'runtergeworfen hat oder was der Vati abhacken läßt.«
»Kleine Pucki, das alles verstehst du nicht. Aber ich will nicht, daß du den Onkel Oberförster für einen geizigen Mann hältst. In den nächsten Tagen kann dir dein Vati erzählen, daß der Onkel Oberförster den armen Leuten, die frieren, eine ordentliche Portion Holz schenken wird.«
Pucki sah den Oberförster ein wenig mißtrauisch an, denn seine strengen Worte klangen ihr nach wie vor in den Ohren.
»Gibst du auch der Frau mit dem kranken Bein was?«
»Ja!«
»Und der Mutter von der Thusnelda?«
»Auch der. Ich will nicht, daß du mit mir böse bist. – Na, Pucki, wollen wir uns nun wieder vertragen?«
»Wenn du der alten Frau und der Thusnelda Holz schenkst, hab' ich dich wieder sehr lieb. – Ach, bitte, Onkel Oberförster, sei nicht mehr böse auf die alte Frau, sie hat sich so erschreckt.«
»Pucki, höre mal, wer schreit denn da so sehr?«
»O je – das ist die Waldi, die habe ich vergessen!«
Pucki machte kehrt, lief querfeldein durch den Wald der laut schreienden Kinderstimme nach und fand das Schwesterchen, das mehrfach über Wurzeln gefallen war und auch jetzt wieder am Boden lag.
Pucki erschrak. Sie hatte der Mutti versprochen, recht gut auf Waldi zu achten. Mit zärtlichen Worten tröstete sie die Kleine.
»Weine mal nicht, Waldi, der Onkel Oberförster schenkt der alten Frau viel Holz, dann freut sie sich. – Nu wollen wir uns beide auch freuen.«
Waltraut verstand zwar nicht, warum sie sich freuen sollte, doch ihre Tränen versiegten gar schnell. Dann kehrten beide Kinder zum Vater und zu den Holzfällern zurück.
»Vati«, sagte Pucki strahlend, »der Onkel Oberförster schenkt allen Leuten Holz. Ich war ganz böse mit ihm, weil er eine alte Frau ausgeschimpft hat.«
Förster Sandler war nicht gerade freudig überrascht, als er diese Worte hörte. Wahrscheinlich hatte Pucki wieder etwas angerichtet. Seine Sorge schwand allerdings bald wieder, denn schon eine Stunde später sprach der Oberförster ihn an.
»Aus Ihrer kleinen Tochter wird mal ein hilfreicher Mensch werden. Erst hilft sie einer alten Frau den Wagen mit Holz schieben, den sie mit voll gesammelt hat, dann zankt sie mich gründlich aus, weil ich ein Geizhals sei. Das habe ich mir hinter die Ohren geschrieben. Jetzt wollen wir mal eine größere Menge Armenholz verteilen lassen.«
Förster Sandler wollte das Verhalten seiner kleinen Tochter ein wenig entschuldigen, doch der Oberförster wehrte ab.
»Lassen Sie nur, lieber Sandler, Ihre Kleine hat das Herz auf dem rechten Fleck, von der wird noch mancher Erwachsene lernen können. Schelten Sie sie nicht, sie hat es gut gemeint.«