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Im Forsthausgarten saß Frau Niepel und unterhielt sich eifrig mit Frau Sandler.
»Haben Sie schon an die Volkswohlfahrt geschrieben wegen der Ferienkinder, die wir aufnehmen wollen?«
»Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, Frau Niepel, will es aber heute noch tun. – Wollen Sie auch ein Mädchen während der großen Ferien aufnehmen?«
»Für uns wäre es wohl besser, wenn ein Knabe käme, aber mein Mann möchte durchaus ein Ferienmädel.«
»Ich nehme auch ein Mädchen.«
»Hat sich sonst in der Umgegend oder in Rahnsburg noch jemand gemeldet, der ein Großstadtkind aufnehmen möchte?«
Die Förstersfrau wurde ein wenig verlegen. »Ich hatte in letzter Zeit sehr viel zu tun und bin selten in die Stadt gekommen. Die Kollegenfrauen habe ich seit längerer Zeit nicht gesehen; vielleicht hätte man noch manches bedürftige Kind unterbringen können. Ich habe wohl etwas versäumt, doch heute will ich wegen der beiden Kinder schreiben, die wir aufnehmen wollen, denn der erste Juli steht vor der Tür, und die Volkswohlfahrt wird längst auf meine Antwort warten.«
»Ich will mich auch noch erkundigen; es wäre doch nett, wenn wir mehreren Kindern die Wohltat des Landaufenthaltes angedeihen lassen könnten.«
»Wie geht es Ihrem Walter?«
»Es war eine tüchtige Erkältung. Nun ist er wieder aus dem Bett; es verlohnt sich kaum, ihn noch zur Schule zu schicken, denn in acht Tagen beginnen die Sommerferien.«
»Ich hoffe, daß die Ferienkinder recht gekräftigt in die Großstadt zurückkehren werden. Die Kleine, die wir bekommen, wird hoffentlich kein allzu wildes und unartiges Kind sein. Unsere Pucki nimmt gar zu gern Unarten an.«
Die beiden Frauen trennten sich. Frau Sandler, die den Brief an die Volkswohlfahrt nicht länger aufschieben wollte, ging sogleich in ihr Zimmer, um zu schreiben. Gar mancher andere Brief wartete auch noch auf Beantwortung; vor allen Dingen hatte die Großmutter schon zweimal angefragt, wie es im Forsthause stände. Heute mußte sie unbedingt auch an Frau Blake schreiben, damit sie sich nicht ängstigte.
Aber auch jetzt kam wieder etwas dazwischen, und erst am Nachmittag saß die Förstersfrau in der weinumrankten Veranda ihres Hauses und füllte Seite um Seite. Erst kam der Brief an die Mutter, dann folgte eine Bestellung nach der Stadt, und schließlich die Mitteilung an die Volkswohlfahrt, daß sie zwei Mädchen schicken möge, Mädchen im Alter von sechs bis acht Jahren, die die Sommerferien auf dem Lande oder in einer Försterei verbringen sollten.
Noch war Frau Sandler beim Schreiben, als Pucki und Waldi in die Veranda kamen.
»Mutti, wir möchten bei dir bleiben und spielen.«
»Ihr müßt euch aber ruhig verhalten, denn Mutti hat Briefe zu schreiben.«
»Was schreibst du denn, Mutti?«
»An die gute Großmama. Du kannst ihr nachher auch ein Küßchen schicken.«
»Au ja, Mutti!«
Fast in jeden Brief, der an die Großmutter abging, zeichnete die Kleine ein Küßchen ein. Es war eine sorgsam gezirkelte Null oder ein Osterei, wie Fräulein Caspari sagte. Auf den Kreis wurden dann die Lippen gedrückt. So konnte die Großmutter sich das Küßchen wieder aus dem Briefe herausholen.
»Mutti, kann ich gleich ein Küßchen schreiben?«
»Nein, erst wenn die Mutti fertig ist.«
Die beiden Kinder spielten miteinander, es dauerte jedoch nicht lange, da ging es wieder recht lebhaft zu. Waltraut stampfte mit den Füßen und Pucki schalt.
»Nein, das kriegst du nicht!«
Frau Sandler schaute vorwurfsvoll zu den Kindern hinüber.
»Streitet ihr euch schon wieder? Ihr braucht euch doch nicht immer zu zanken.«
»Wir zanken uns doch gar nicht!«
»Warum schiltst du denn?«
»Weil die Waldi meine Puppe haben will, und meine Puppe kriegt sie nicht.«
»Wenn ihr nicht artig seid, müßt ihr fortgehen. Mutti braucht Ruhe, denn sie hat noch einen Brief zu schreiben.«
Die strengen Worte nützten. Die beiden Kinder verhielten sich längere Zeit sehr ruhig, bis Pucki endlich wieder an den Tisch trat und fragte:
»Kann ich nun der Großmutter ein Küßchen schicken?«
»Ja, Pucki, der Brief ist fertig, nur noch einen Augenblick.«
Da klingelte im Zimmer das Telephon. Frau Sandler erhob sich, um an den Apparat zu gehen. Pucki stand noch immer am Tisch und betrachtete die darauf liegenden Briefe. Sie konnte Geschriebenes selbstverständlich noch nicht lesen, sie freute sich nur an den schönen vielen Krakeln, die die Mutti für die Großmama gemacht hatte.
»Jetzt schicke ich der Großmutti ein Küßchen!«
Den Federhalter nahm Pucki nicht, denn vor der Tinte hatte sie seit dem Unglück mit dem Lampenteller großen Respekt. Aber dort lag ein schöner, gelber Bleistift, und mit diesem zeichnete Pucki eine schöne Null mitten in die Krakeln der Mutti hinein. Die Großmutter würde schon wissen, daß das ein Kuß von Pucki war. Dann drückte die Kleine die Lippen in den Kreis und sagte herzlich:
»So, liebe Großmutter, hier hast du einen süßen Kuß von deiner Pucki.«
Nun war auch diese Arbeit erledigt, draußen schien die Sonne herrlicher denn je. Pucki faßte Waldi bei der Hand, und dann liefen die Kinder aus der Veranda. Frau Sandler, die zurückkehrte, setzte noch rasch ihre Unterschrift unter den eben vollendeten Brief. Die Zeit drängte, der Postbote mußte jede Minute erscheinen, und der sollte die Briefe mitnehmen. Sie schob die Bogen in die fertigen Umschläge und warf sie in den im Hausflur befindlichen Briefkasten. Im Vorgarten liefen ihr die Kinder entgegen.
»Schickst du den Brief an die Großmutter?«
»Ja, Pucki. – Du sollst doch ein Küßchen mitsenden.«
»Das habe ich auch gemacht, Mutti.«
Frau Sandler ahnte nicht, was Pucki mit diesem Kuß für eine Verwirrung heraufbeschworen hatte. – –
Umgehend traf ein Brief des Wohlfahrtsamtes ein, das sich mit herzlichen Worten bedankte, daß Frau Förster Sandler Ferienkinder haben wollte. Man schrieb ihr, eine Aufseherin würde die Kinder begleiten und diese sogleich in das Forsthaus bringen, damit Frau Sandler von dort aus die Verteilung der Kinder vornehmen könnte. Sie würden am ersten Juli mit dem Mittagszuge in Rahnsburg eintreffen. Alles weitere überlasse man Frau Sandler.
Die Försterin benachrichtigte das Gutshaus, und Frau Niepel erklärte sich sogleich bereit, am ersten Juli zum Mittagszuge einen Wagen nach Rahnsburg zur Station zu schicken, um die Ferienkinder abzuholen.
»Ich setze bei Ihnen im Forsthaus eins der Mädchen ab; die Aufseherin wird gewiß sogleich wieder heimfahren. Auf diese Weise ist bereits am Nachmittag jedes Kind an Ort und Stelle.«
Pucki war voller Erwartung auf das Stadtkind. Vater und Mutter erzählten, daß das Mädchen wahrscheinlich noch niemals einen so schönen Wald gesehen hätte, wie der, in dem Pucki lebte.
»Unser Ferienkind kommt aus einer großen Stadt, ist zwischen hohen Häusern aufgewachsen und hat gewiß nur einen engen Hof zum Spielen. Du mußt sehr nett zu ihm sein und darfst dich nicht mit ihm streiten.«
»Wir werden sehr nett sein, Mutti, wir werden in den Wald gehen und der alten Frau Holz sammeln helfen, damit sie nicht zu frieren braucht. – Weißt du, Mutti, ich habe jeden Tag im Walde kleine Häufchen zusammengetragen, und wenn dann die Leute mit den Wagen kommen, finden sie es gleich und nehmen es mit.«
Pucki unterbrach sich selbst in ihrer Erzählung, denn sie sah ihren neuen Freund, den großen Claus, daherkommen, der direkt auf das Forsthaus zugeschritten kam.
»Mutti, der große Claus kommt!«
Der älteste Sohn des Oberförsters war noch immer im Elternhause. Auf dem Gymnasium, das er besuchte, war kurz nach Pfingsten Scharlach ausgebrochen; verschiedene Klassen hatten geschlossen werden müssen. So gab es unfreiwillige Ferien, während derer die beiden Söhne des Oberförsters in der Oberförsterei weilten. Claus, der Älteste, schien eine große Vorliebe für Pucki Sandler zu haben. Er kehrte öfters im Forsthause ein und ließ sich von der Kleinen mancherlei erzählen. Das letzte Mal hatte sich das Försterkind sehr erregt über den Oberförster ausgesprochen, der einer alten Frau ein bißchen Holz habe fortnehmen wollen. Nun war Claus von seinem Vater abgesandt worden, um Pucki mitzuteilen, daß gestern an viele arme Leute klafterweise Holz abgegeben worden sei.
»Der Vater läßt dir sagen, Pucki, daß er allen armen Leuten Holz gibt.«
»Auch der Frau mit dem kranken Bein?«
»Ja, auch der.«
»Auch der Mutter von der Thusnelda?«
»Wahrscheinlich auch. Die armen Leute aus Rahnsburg sollten sich melden, und jeder, der sich gemeldet hat, bekommt eine Klafter.«
»Das ist schön! Aber die Frau mit dem kranken Bein wird die Klafter doch nicht fortziehen können. – Du, großer Claus, wir gehen dann zusammen in den Wald, dann fahren wir der Frau das Holz nach Hause.«
»Ja – du bist das Pferdchen, und ich schiebe hinten.«
Der Primaner machte ein betretenes Gesicht. »Das ist nicht nötig, Pucki, der alten Frau helfen andere Leute, und für dich ist das viel zu schwer.«
»Warum willst du denn nicht?«
»Jeder Mensch hat seine besondere Arbeit. Ich habe fleißig zu lernen, damit ich vorwärts komme. Mein Vater möchte doch, daß ich zu Ostern mein Abiturium mache.«
Verständnislos schaute Pucki den großen Claus an, dann sagte sie lebhaft: »Und meine Mutti will, daß ich ihr zu Weihnachten ein Nadelbuch mache. Das wird gestickt, da muß ich mit der Nadel immer in die Löcher stechen.«
»Ich will zu Ostern das Abiturium machen.«
»Ach so – –«
»Dazu muß ich viel lernen. Das ist ein Examen, damit ist dann die Schulzeit zu Ende.«
»Ach, dann wird der Paul auch lernen, um sein Habi–turum zu machen, der möchte auch gerne 'raus aus der Schule.«
Wieder lachte der große Claus vergnügt. »Der Paul hat noch lange Zeit. Aber wenn er weiter so träge ist wie bisher, macht er das Abiturium überhaupt nicht!«
»Du bist nicht träge, großer Claus?«
»Früher war ich es auch, doch allmählich habe ich eingesehen, daß es gut ist, wenn man viel lernt.«
»Weißt du, großer Claus, wir bekommen ein kleines Mädchen ins Forsthaus – das kleine Mädchen ist noch nie in einem Walde gewesen. Du mußt recht oft kommen, dann kannst du auch mit dem kleinen Mädchen im Walde spazieren gehen. – Wann kommst du denn wieder?«
»Nun sind auch bald für dich Ferien, ich werde mich dann öfters im Forsthause sehen lasten, dann laufen wir zusammen durch den Wald.«
»Ach ja, das wird aber schön sein! Dann gehen wir auch zum Schmanzbauern und dem Schiff.«
»Und auch mal zur Oberförsterei.«
Pucki überlegte. »Ja«, sagte sie schließlich, »zur Oberförsterei gehen wir auch, weil der Onkel Oberförster der Frau mit dem bösen Fuß Holz schenkt.«
»Auch meine Mutter hat dich sehr gern, Pucki.«
»Ja, großer Claus, ich komme mal hin. Du mußt mich holen, dann gehen wir immerzu durch den Wald.«
»Wirst du nicht lieber mit den Niepelschen Knaben spazieren gehen?«
»Nein, mit dir gehe ich am liebsten. Du gefällst mir.« –
Endlich war es in der Schule so weit, daß Fräulein Caspari den Kindern sagen konnte: Heute ist der letzte Schultag.
Pucki freute sich aufrichtig darüber. Obwohl sie in der Schule ganz aufmerksam war und auch gern hinging, fand sie es doch noch viel schöner, den ganzen Tag über daheim bleiben zu können. Vor allem erfreute sie die Aussicht, mit dem großen Claus im Walde umhergehen zu dürfen. Er konnte so schön erzählen, sprach von kranken Bäumen und zeigte ihr hier und da eine Beule, die ein Baum hatte. Auch die Vöglein wußte er mit Namen zu nennen, und die Stimmen vieler Vögel konnte er gut nachahmen. Claus sprach aber auch von der Stadt, in der er lebte und lernte. Alles wurde von Pucki mit dem größten Interesse aufgenommen. –
Als Pucki am heutigen Tage mit den beiden Niepelschen Knaben heimfuhr, trieb Paul vor Freude allerlei Unfug. Der Kutscher mußte den übermütigen Knaben oftmals zurechtweisen, um ihn zur Ruhe zu bringen.
»Den Ranzen schmeiße ich in die Ecke, dort mag er während der Ferien liegen bleiben. Ich hab's satt! – Fünf Wochen brauche ich nichts zu lernen!«
»Wirst schon zu Ostern sitzenbleiben«, sagte der Kutscher.
»Wenn du den lieben Gott recht schön bittest, läßt er dich nicht sitzenbleiben.«
»Er wird schon sitzenbleiben«, sagte Fritz. »Der liebe Gott hört nicht immer auf das, was man gerne haben möchte.«
»Doch! Der liebe Gott hört immer darauf.«
Fritz schüttelte den Kopf.
»Morgen kommt das kleine Mädel aus der Stadt, na, die werde ich ärgern!«
»Nein, Paul, das darfst du nicht, das ist ein Mädchen, das noch keinen Wald gesehen hat und ganz arm ist und ohne Freude im Herzen. Du kannst die anderen ärgern, aber nicht das kleine Mädchen. Ich darf es auch nicht.«
»Ich mach's aber doch!«
Der Kutscher erhob die Peitsche und drohte dem Paul. »Dein Vater wird schon aufpassen. Morgen hole ich die Kinder ab.« – –
Der erste Juli kam heran. Pucki war voller Erwartung. Sie dachte es sich wunderschön, mit dem großen Claus und dem Stadtmädchen in den Wald zu laufen. Frau Sandler, die anfangs ihren Schützling hatte abholen wollen, war im letzten Augenblick verhindert. Es genügte aber auch, wenn Frau Niepel nach Rahnsburg fuhr und Pucki mitnahm. Vor dem Forsthause würde der Wagen halten, und Pucki und das Ferienkind absetzen.
Pünktlich traf der Wagen ein: Pucki stieg ein, dann ging es nach Rahnsburg zum Bahnhofe.
Sehr artig und brav spazierte das Försterkind neben Frau Niepel auf dem Bahnsteig auf und ab. Endlich fuhr der Zug fauchend und dampfend in die Halle.
»Werden wir das Mädchen auch finden, Tante Niepel?«
Es stiegen anfangs nur wenige Reisende aus, dann aber sah man aus einem Wagen ein junges Mädchen herausspringen. Es trug eine weiße Haube.
Ein Kind nach dem anderen stieg aus, und bald umstanden zwanzig kleine Mädchen die Führerin, die suchend umherblickte.
»Schau, Pucki«, sagte Frau Niepel, »eines von diesen zwanzig Kindern wird es sein. Ein kleines Mädchen für dich, ein anderes für mich. Wir wollen fragen.«
Das junge Mädchen mit dem weißen Häubchen gab die gewünschte Auskunft. Es bringe herzliche Grüße von der Volkswohlfahrt; sie sei Frau Sandler sehr dankbar, daß sie gleich zwanzig Kinder aufnehmen wolle.
»Zwanzig Kinder?«
»Jawohl, ich bringe den Transport nach Rahnsburg. Hier sind die Kleinen. Sie haben wohl die Güte, gemeinsam mit mir die weitere Unterbringung zu übernehmen.«
»Zwanzig Kinder?«
»Frau Sandler schrieb, daß sie zwanzig Mädchen haben möchte, die zum Teil auf das Gut, zum Teil ins Forsthaus kommen sollten.«
Frau Niepel stand ratlos da. Bisher hatte Frau Sandler immer nur von zwei Kindern gesprochen. Was sollte man mit den vielen Kindern beginnen? Oder hatte Frau Sandler sich im letzten Augenblick noch in Rahnsburg und den umliegenden Forsthäusern bemüht, die Kleinen unterzubringen, wie das von der Organisation anfänglich gewünscht worden war?
»Es ist wohl das beste, die Kleinen marschieren nach dem Forsthause Birkenhain. Es ist nicht weit, kaum eine Viertelstunde. Frau Sandler soll dann selbst die Anordnungen treffen, denn ich bin nicht im Bilde.«
»Tante Niepel, kriegen wir nu alle die Kinder?«
»Nein, Pucki.«
»Ich habe den Brief bei mir«, sagte die Führerin. »Wenn Sie sich überzeugen wollen, daß zwanzig Kinder gewünscht wurden –«
Die Gutsbesitzerin nahm den Brief, den Frau Sandler geschrieben hatte. – Richtig, hier stand, und zwar dick unterstrichen, daß zwei Mädchen gewünscht wurden. Doch hinter der deutlichen Zwei sah man eine mit Bleistift gemalte Null, so daß kein Zweifel bestand, daß zwanzig Kinder erwartet wurden.
»Es ist das beste, wir machen uns auf den Weg, liebes Fräulein. Die Kleinen sind gewiß nicht böse, wenn sie nach dem langen Sitzen im Abteil ein Stück durch unseren schönen Wald laufen dürfen. Im Forsthause wird sich alles klären.«
»Tante Niepel, ich glaube, die vielen Kinder kommen nu doch alle zu uns! Ach, wo sollen die denn schlafen? Ach, wird das ein Ulk werden!«
Pucki ahnte nicht, daß sie schuld war an diesem Irrtum. Sie hatte geglaubt, daß sie der Großmutter ein Küßchen schicke und hatte den Kuß auf den falschen Briefbogen gemalt, hatte die Null unmittelbar hinter die »2« geschrieben, ohne zu wissen, was daraus entstand.
Frau Niepel ließ den Wagen mit den kleinen Koffern der Kinder hinterherfahren. Sie ging neben der Begleiterin. Pucki dagegen beäugte die kleinen Mädchen. Keines gefiel ihr so recht, die Kinder sahen recht blaß aus und hatten trübe Augen. Endlich tippte sie ein schmächtig aussehendes Mädchen mit dem Fingerchen an und sagte:
»Trinkst du gern Milch? Du kannst auch immer meinen Milchreis haben; dir schenke ich ihn gern.«
Doch die Angeredete hatte nicht den Mut, auf diese Frage zu antworten. Die kleine Schar war überhaupt sehr schweigsam.
Frau Sandler stand wartend an der Gartenpforte und blickte mit Staunen den Näherkommenden entgegen. – Was wollten die vielen fremden Kinder hier? Diese blassen, dürftig ernährten Großstadtmädchen, die wohl zu den Ärmsten der Armen gehörten?
»Hier bringe ich Ihnen zwanzig Kinder, Frau Sandler«, rief Frau Niepel ihr entgegen.
Abermals wurde der Brief hervorgeholt. Da wurde es Frau Sandler klar, daß Puckis Kuß an die Großmama alles das verschuldet hatte.
»Lieber Gott, was machen wir nun?«
»Mutti, Mutti«, jubelte Hedi, »ein Kindchen sollte kommen, nun sind es so viele geworden! Mutti, na, da muß die Minna gleich Waffeln backen.«
Frau Sandler war ratlos. Die Führerin wollte mit dem Abendzuge wieder abreisen. Die Kinder konnten unmöglich in dem Forsthause und ebenso wenig in dem Gutshause untergebracht werden. Jetzt galt es zu handeln.
Der Reihe nach wurden die Forsthäuser telephonisch angerufen. Aber auch in Rahnsburg fragte man bei zahlreichen Familien an, ob sie nicht wenigstens für die nächsten Tage ein oder zwei erholungsbedürftige Stadtkinder aufnehmen wollten.
»Sehen Sie, liebe Frau Niepel«, sagte Frau Sandler schuldbewußt, »das ist die Strafe für meine Nachlässigkeit. Damals bat man mich, zu versuchen, einige arme Kinder unterzubringen. Ich habe es verabsäumt. Nun sind mir durch einen unglücklichen Zufall zwanzig Kinder zugeschickt worden.«
»Vier Kinder will ich abnehmen, und der Förster in Lindengrund hat auch zugesagt, dann sind da der Apotheker, der Arzt, der Gutsbesitzer Gehm und der Spediteur Runge. Ich denke, bis zum Abend hat sich alles geklärt.«
Sechzehn Kinder blieben zunächst im Forsthause. Dort gab es für alle Milch und Butterbrote. – Ganz plötzlich sprang Pucki, die zwischen ihnen saß, auf.
»Großer Claus – großer Claus, sieh mal, wieviel Kinder wir bekommen haben. Wir hatten noch mehr, die hat Tante Niepel mitgenommen.«
Als Frau Sandler den Primaner erblickte, beschloß sie, ihm ihre Not zu schildern. Die Oberförsterei war groß, und Oberförster Gregor und seine Frau waren gutherzige Leute.
Der große Claus lachte auf und rief die Eltern durch das Telephon an.
»Für den Augenblick wäre Abhilfe geschaffen«, sagte er. »Mutter ist bereit, ein Dutzend Kinder für einige Tage in der Oberförsterei aufzunehmen. Einige sind ja bereits untergebracht. Wir werden das schon zurecht bekommen. Wenn es Ihnen recht ist, laufe ich hinüber nach Rahnsburg, ich bin dort nicht unbekannt. Ich werde mir schon für einige Kinder eine Unterkunft erfechten. Ich komme bald wieder zurück, dann gehe ich mit dem Rest zur Oberförsterei.«
Während man dort Vorbereitungen traf, die unerwarteten kleinen Gäste unterzubringen, ging Claus Gregor zu bekannten Familien in Rahnsburg. Überall erzählte er lachend von dem Kuß, den Pucki der Großmutter hatte schicken wollen, und der an die falsche Adresse gekommen war. Überall, wo man das hörte, stimmte man in sein Lachen ein.
»Es ist eben Försters Pucki!«
»Auf dem Tun der Kleinen liegt sichtbar Gottes Segen«, sagte die Pastorin. »Durch den Kuß ist für zwanzig Großstadtkinder gesorgt worden, die sonst wahrscheinlich nicht hinaus aufs Land gekommen wären. Selbstverständlich nehme ich zwei Kinder auf.«
Claus Gregor kehrte in das Forsthaus mit dem Bescheid zurück, daß er acht weitere Kinder in Rahnsburg untergebracht hätte. Von drei Forsthäusern waren inzwischen ebenfalls Zusagen eingegangen. So konnte Claus nur noch mit fünf kleinen Mädchen abmarschieren.
»Die laß nur ruhig hier«, meinte Pucki und wies auf eines der Kinder, »die muß erst rote Backen bekommen. Die anderen kannst du mitnehmen. – Wie heißt du denn?«
»Rose«, klang es scheu zurück.
Pucki lachte. »Du bist doch keine Rose! Eine Rose ist schön rot oder weiß oder gelb. – Na warte mal, ich geh' mit dir in den Wald, du trinkst Milch, und dann wirst du dick und rund.«
Als die Leiterin des Transportes zur Bahn gehen mußte, waren die zwanzig Kinder ordnungsgemäß untergebracht.