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Bisher haben wir angenommen, daß sich Koba nicht vor der Tifliser Konferenz vom November 1904 den Bolschewiki angeschlossen hat, nachdem diese sich bereit erklärt hatte, an den Vorbereitungen für einen neuen Parteitag teilzunehmen. Widerspruchslos haben wir Berias Behauptung als wahr unterstellt, derzufolge Koba im Dezember nach Baku gereist ist, um dort für den Parteitag Propaganda zu machen. Das alles mag zutreffen. Die Spaltung der Partei war für jedermann offenkundig, die bolschewistische Fraktion hatte ihre organisatorische Überlegenheit über die Menschewiki bewiesen, Koba hatte sich zu entscheiden. Einen Beweis dafür, daß sich Koba tatsächlich schon 1904 den Bolschewiki angeschlossen hat, können wir nicht liefern. Beria führt eine Reihe von bolschewistischen Proklamationen aus jener Zeit an, sagt aber nie, daß Koba ihr Verfasser gewesen wäre. Dieses Schweigen ist beredter als Worte. Diese Zitate aus Flugblättern, die von anderen verfaßt worden sind, bezwecken offensichtlich, eine Lücke in Stalins Biographie auszufüllen.
Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bolschewiki und Menschewiki waren mittlerweile über das Gebiet der Parteistatuten hinausgewachsen und erstreckten sich nun auch auf die revolutionäre Strategie. Die von den Mitgliedern der »Semstwos« und anderen Liberalen veranstaltete »Kampagne der Bankette«, die im Herbst 1904 einsetzte – die bestürzten zaristischen Behörden wußten nicht, was dagegen tun – warf in zugespitzter Form die Frage auf, wie sich die Beziehungen zwischen Sozialdemokratie und oppositioneller Bourgeoisie gestalten sollten. Der Sinn der menschewistischen Bestrebungen war, aus der Arbeiterschaft einen demokratischen Chor zu machen, der die liberalen Solisten zu begleiten hatte, der im Hintergrund bleiben und, weit entfernt davon, sie »abzuschrecken«, das Selbstbewußtsein der Liberalen stärken sollte. Lenin nahm die Offensive auf. Er verhöhnte die Grundidee des menschewistischen Plans, den revolutionären Kampf gegen den Zarismus mit der diplomatischen Unterstützung einer kraftlosen Opposition zu vertauschen. Nur durch den Ansturm der Massen kann der Sieg der Revolution gesichert werden! Nur ein kühnes soziales Programm kann die Massen in Bewegung bringen! Das aber war es gerade, was die Liberalen fürchteten. »Wir wären Dummköpfe gewesen, hätten wir ihrer Panikstimmung Rechnung getragen!« Eine kleine Broschüre Lenins, nach längerem Schweigen im November 1904 veröffentlicht, gab seinen Gesinnungsgenossen frischen Mut und spielte eine bedeutsame Rolle in der Entwicklung der taktischen Ideen des Bolschewismus. Ist es diese Broschüre gewesen, die Koba für den Bolschewismus gewonnen hat? Das ist nicht mit Sicherheit zu sagen. In der Folgezeit, wann immer Stalin selbst den Liberalen gegenüber Stellung zu nehmen gezwungen war, kam er unweigerlich auf die menschewistische Position zurück, sie ja nicht zu »erschrecken«. (1917, dann in China, später in Spanien und anderswo.) Möglich ist es indes, daß der plebejische Demokrat am Vorabend der ersten Revolution über diesen opportunistischen Plan ehrlich empört war, der sogar unter den menschewistischen einfachen Parteimitgliedern große Unzufriedenheit hervorgerufen hatte. Auch muß betont werden, daß die Verachtung für den Liberalismus, unter den Sozialdemokraten traditionell geworden, damals auch in der radikalen Intelligenz noch allgemein lebendig war. Möglich ist auch, daß der Blutige Sonntag von Petersburg und die nachfolgende, durch das ganze Land flutende Streikwelle den vorsichtigen und mißtrauischen Kaukasier auf die Bahn des Bolschewismus gebracht haben. Wie dem auch sei, diese seine plötzliche Wendung ist in den Annalen der Geschichte nicht verzeichnet worden.
Zwei alte Bolschewiki, Stopani und Lehmann, führen in ihren sorgfältig ins einzelne gehenden Erinnerungen alle Revolutionäre auf, denen sie Ende 1904 und Anfang 1905 in Baku und Tiflis begegnet sind: Koba steht nicht mit auf ihrer Liste. Lehmann zitiert die Namen derjenigen, die »an der Spitze« der kaukasischen Bewegung standen: Koba wird nicht erwähnt. Stopani zählt die Bolschewiki auf, die gemeinsam mit den Menschewiki im Dezember 1904 den berühmten Streik von Baku leiteten: von Koba ist noch immer keine Rede. Und Stopani, der selbst dem Streikkomitee angehörte, ist bestens unterrichtet. Vermerken wir, daß beide Autoren der in der offiziellen kommunistischen historischen Zeitschrift veröffentlichten Erinnerungen, weit entfernt »Volksfeinde« zu sein, gute Stalinisten sind; nur schrieben sie im Jahre 1925, als die von oben angeordnete planmäßige Fälschung noch nicht zum allgemeinen System geworden war. Auch Taratuta, ehemaliges Mitglied des Bolschewistischen Zentralkomitees, erwähnt in seinem schon genannten, erst 1926 geschriebenen Artikel über den »Vorabend der Revolution von 1905 im Kaukasus« Stalin nicht. Auf den fünfzig Seiten Kommentar zum Briefwechsel von Lenin und Krupskaja mit der kaukasischen Organisation ist Stalins Name nicht ein einziges Mal zu finden. Es ist einfach unmöglich, in der Zeit von Ende 1904 und Anfang 1905 irgendeine Spur der Tätigkeit des Mannes zu entdecken, den man heute zum Begründer des kaukasischen Bolschewismus stempelt.
Die heute endlos wiederholte Behauptung von Stalins unversöhnlichem Kampf gegen die Menschewiki steht unseren Schlußfolgerungen nicht entgegen. Der scheinbare Widerspruch verschwindet: es war nur notwendig, den »Kampf« um zwei Jahre vorzuverlegen, was nicht schwer war, wenn man keine Dokumente beizubringen und keine Dementis zu fürchten hatte. Andererseits braucht man nicht daran zu zweifeln, daß Koba, nachdem er einmal seine Wahl getroffen hatte, seinen Kampf gegen die Menschewiki in der heftigsten, brutalsten, skrupellosesten Weise führte. Sein Hang zu Hinterlist und Intrige, den man ihm als Mitglied der Seminaristengruppe vorgeworfen hatte und auch, als er Propagandist des Tifliser Komitees und Angehöriger der Gruppe von Batum war, konnte sich nun im Kampfe der Fraktionen viel dreister und auf breiterem Felde betätigen.
Beria nennt Tiflis, Batum, Zithory, Kutaïs und Poty als die Orte, wo Koba gegen Noah Jordania, I. Tseretelli, Noah Ramischwili und andere menschewistische Führer polemisierte, ebenso wie gegen Anarchisten und Föderalisten. Daten verschweigt er ritterlicherweise, und mit gutem Grund. Die erste dieser Diskussionen, deren Datum er mehr oder weniger genau angibt, fand im Mai 1905 statt. Das gleiche gilt für die schriftstellerische Tätigkeit Kobas. Seine erste bolschewistische Broschüre, ein kurzer Artikel, erscheint im Mai 1905 unter dem bizarren Titel: »Oberflächliches über die Meinungsverschiedenheiten in der Partei«. Beria hält es für notwendig anzugeben – ohne zu sagen, worauf er fußt –, daß die Broschüre »Anfang 1905« geschrieben wurde; sein Bestreben, die Lücke von zwei Jahren zu schließen, wird dadurch nur um so augenscheinlicher. Ein Korrespondent, anscheinend Litwinow, der der georgischen Sprache nicht mächtig war, berichtet in einem ins Ausland gesandten Brief vom Erscheinen einer Broschüre in Tiflis, die »Sensation gemacht« habe. Die »Sensation« erklärt sich leicht dadurch, daß das georgische Publikum bis dahin nur die menschewistischen Veröffentlichungen gekannt hatte. Die Broschüre ist im Grunde nichts als ein schülerhaftes Resümee der Schriften Lenins. Kein Wunder, daß sie niemals wieder nachgedruckt wurde. Beria zitiert einige sorgfältig ausgewählte Zeilen, die es völlig verständlich machen, daß der Verfasser selbst über diese Broschüre wie über all seine, anderen literarischen Erzeugnisse aus jener Zeit den Schleier des Vergessens breitet.
Im August 1905 veröffentlicht Stalin aus seiner Feder eine Zusammenfassung des Kapitels aus Lenins Schrift »Was tun?«, in dem Lenin das Verhältnis zwischen der elementaren Arbeiterbewegung und dem sozialistischen Bewußtsein zu klären versucht. Nach Lenins Darstellung gerät die Arbeiterbewegung, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, unausweichlich auf die Bahn des Opportunismus; das revolutionäre Klassenbewußtsein wird von außen, durch die marxistischen Intellektuellen, in das Proletariat hineingetragen. Hier ist nicht der Ort, diese Auffassung zu kritisieren, die der Biographie Lenins und nicht der Stalins angehört. Der Verfasser von »Was tun?« hat übrigens später selbst ihre Einseitigkeit und damit den Irrtum in seiner Theorie anerkannt; er führte dieses Geschütz – das sei am Rande vermerkt – gegen den »Ökonomismus« in die Schlacht, der den spontanen Charakter der Arbeiterbewegung überschätzte. Nach seinem Bruch mit Lenin gab Plechanow eine verspätete, aber um so schärfere Kritik von »Was tun?« heraus. Damit wurde das Problem des »von außen Hineintragens« des revolutionären Bewußtseins ins Proletariat wieder aktuell. Das Zentralorgan der Bolschewistischen Partei verzeichnete, daß ein in einem georgischen Blatt anonym veröffentlichter Artikel »die Frage des Hineintragens des Klassenbewußtseins in ausgezeichneter Weise gestellt« habe. Dieses Lob wird heute als eine Art Reifezeugnis für den Theoretiker Koba zitiert. In Wirklichkeit hat es sich natürlich um nicht mehr als eine der üblichen Ermunterungen gehandelt, die das Zentralorgan einschob, wenn sich das eine oder andere Parteiblatt innerhalb Rußlands für die Ideen oder einen der Führer der eigenen Fraktion einsetzte. Folgender Absatz, von Beria ausgewählt und ins Russische übersetzt, erlaubt, sich von der Qualität des Artikels ein Bild zu machen:
»Das gegenwärtige Leben ist kapitalistisch organisiert. Es gibt in ihm zwei große Klassen: die Bourgeoisie und das Proletariat; zwischen ihnen findet ein Kampf auf Leben und Tod statt. Die Lebensumstände zwingen die Bourgeoisie, die kapitalistische Ordnung zu befestigen. Dieselben Umstände zwingen das Proletariat, diese Ordnung zu untergraben und zu vernichten. Entsprechend diesen beiden Klassen bildet sich ein zweifaches Klassenbewußtsein, bürgerlich und sozialistisch. Sozialistisches Klassenbewußtsein entspricht der Situation des Proletariats ... Welche Bedeutung könnte aber das sozialistische Klassenbewußtsein allein haben, wenn es nicht im Proletariat verbreitet werden würde? Dann ist es nur eine leere Phrase und weiter nichts! Die Dinge würden eine ganz andere Entwicklung nehmen, wenn dieses Bewußtsein sich innerhalb des Proletariats verbreiten würde: das Proletariat würde seine Lage begreifen und mit beschleunigten Schritten dem sozialistischen Leben zustreben ...«
Et cetera. Derartige Artikel fallen bloß der späteren Geschicke ihres Verfassers wegen nicht der verdienten Vergessenheit anheim. Nichtsdestoweniger ist es selbstverständlich, daß sich diese Geschicke nicht durch dergleichen Artikel erklären lassen, sondern dadurch vielmehr nur um so rätselhafter erscheinen.
Das ganze Jahr 1905 hindurch begegnen wir Koba nach wie vor nicht unter den kaukasischen Korrespondenten Lenins und der Krupskaja. Am 8. März schreibt ihnen ein gewisser Tari aus Tiflis, der die Meinungen verschiedener kaukasischer Menschewiki mit folgenden Worten zusammenfaßt: »Lenin hat den Sinn unserer Zeit früher und besser als alle anderen erfaßt.« Derselbe Tari schreibt weiter: »Lenin wird mit einem Basarow inmitten lauter Arkadi Nikolajewitschen verglichen.« Es handelt sich um Turgenjewsche Gestalten: Basarow ist der Typus des praktischen Realisten, Arkadi Nikolajewitsch ein Idealist und Phrasenheld. Zum Namen Tari bemerken die Herausgeber des historischen Tagebuchs in einer Fußnote: »Verfasser unbekannt.« Das gutgewählte literarische Zitat beweist für sich allein, daß Stalin nicht der Verfasser dieses Briefes gewesen sein kann. In Lenins Artikeln und Briefen aus der zweiten Hälfte des Jahres 1905 – insoweit sie bis heute veröffentlicht worden sind – werden über dreißig Sozialdemokraten genannt, die in Rußland tätig waren; davon gehören neunzehn der Altersklasse Lenins an, zwölf der Stalins. Stalin figuriert in dieser ganzen Korrespondenz weder als direkter Teilnehmer, noch wird er in der dritten Person erwähnt. Wir können also nur noch entschiedener an unserer bereits gezogenen Schlußfolgerung festhalten, daß Stalins Geschichte von dem Brief, den er 1903 von Lenin bekommen haben will, einfach erfunden ist.
Nach seinem Bruch mit der »Iskra«-Redaktion durchlebte Lenin, damals vierunddreißig Jahre alt, eine mehrere Monate währende Periode des Schwankens und Zögerns – eine für ihn um so schwierigere Situation, als sie mit seinem ganzen Charakter unvereinbar war –, bis er sich davon überzeugen konnte, daß er über eine verhältnismäßig große Zahl von Anhängern verfügte und daß seine junge Autorität recht stark war. Die von Erfolg gekrönten Vorbereitungsarbeiten für den neuen Parteitag bewiesen unzweifelhaft das organisatorische Übergewicht der Bolschewiki. Das versöhnlerische Zentralkomitee, unter der Leitung von Krassin, kapitulierte schließlich vor dem »illegalen« Büro der Komitees der Mehrheit und nahm an dem Parteitag teil, den es sowieso nicht zu verhindern vermocht hatte. So wurde der Dritte Parteitag im April 1905 in London – von dem die Menschewiki abrückten, um sich mit einer Konferenz in Genf zu begnügen – zum Gründungskongreß des Bolschewismus. Bei den vierundzwanzig voll stimmberechtigten und den neunzehn Delegierten mit beratender Stimme handelte es sich ausschließlich um jene Bolschewiki, die vom Augenblick der Spaltung auf dem Zweiten Parteitag an mit Lenin gegangen waren und die es verstanden hatten, die Parteikomitees für sich zu gewinnen, obwohl ihnen Autoritäten wie Plechanow, Axelrod, Wera Sassulitsch, Martow und Potressow entgegenstanden. Der Parteitag ratifizierte die Leninschen Ideen von den bewegenden Kräften der Revolution, Ideen, die Lenin im Laufe der Polemik gegen seine früheren Lehrmeister und nächsten Mitarbeiter in der »Iskra« entwickelt hatte und die von nun an eine größere praktische Bedeutung gewinnen sollten, als das Bolschewiki und Menschewiki gemeinsame offizielle Parteiprogramm.
Der unheilvolle und ruhmlose Krieg mit Japan beschleunigte die Zersetzung des zaristischen Regimes. Der Dritte Parteitag stand unter dem Eindruck der ihm voraufgegangenen ersten großen Streik- und Demonstrationswelle und machte spürbar, daß die Dinge bald in die Revolution einmünden sollten. »Die ganze Geschichte des vergangenen Jahres hat gezeigt«, sagte Lenin in seinem Bericht vor den versammelten Delegierten, »daß wir die Bedeutung und die Unvermeidlichkeit des Aufstandes unterschätzt haben.« Der Parteitag machte einen entschiedenen Schritt vorwärts in der Agrarfrage, indem er die Notwendigkeit anerkannte, die im Gange befindliche Bauernbewegung zu unterstützen, einschließlich der Beschlagnahme des Bodens der Großgrundbesitzer. Der allgemeinen Perspektive des revolutionären Kampfes und der Machteroberung wurde eine konkretere Fassung gegeben, besonders in der Frage der provisorischen revolutionären Regierung als Organisatorin des Bürgerkrieges. »Selbst wenn wir«, wie Lenin es ausdrückte, »Petersburg in Besitz genommen haben und Nikolaus guillotinieren, werden wir uns noch einigen Vendées gegenübersehen.« Mit größerer Energie als je zuvor befaßte sich der Parteitag mit der technischen Vorbereitung des Aufstandes. »Was die Bildung besonderer Kampfgruppen betrifft«, äußerte Lenin, »so muß ich sagen, daß ich sie für unerläßlich halte.«
Je höher die Bedeutung des Dritten Parteitages zu veranschlagen ist, um so merkwürdiger muß es erscheinen, daß Koba an ihm nicht teilgenommen hat. Er konnte zu jenem Zeitpunkt auf sieben Jahre revolutionärer Tätigkeit zurückblicken, auf Gefängnishaft, Verbannung, Flucht aus der Verbannung. Nach all dem hätte er sicherlich zumindest unter die Kandidaten für die Delegation zum Parteitag aufgenommen werden müssen, wäre er unter den Bolschewiki auch nur eine einigermaßen hervortretende Persönlichkeit gewesen. Das ganze Jahr 1905 hindurch befand er sich auf freiem Fuße; nach Beria nahm er »einen äußerst aktiven Anteil an der Organisierung des Dritten Parteitages«. Wäre dem so gewesen, hätte er sich an der Spitze der kaukasischen bolschewistischen Delegation befinden müssen. Warum war das nicht der Fall? Wäre er durch Krankheit oder sonst irgendeine höhere Gewalt daran gehindert worden, ins Ausland zu gehen – die offizielle Geschichtsschreibung würde nicht versäumt haben, uns davon zu unterrichten. Ihre mangelnde Mitteilsamkeit erklärt sich nur durch das Fehlen jedes irgendwie glaubwürdigen Grundes, die Abwesenheit des »Führers der kaukasischen Bolschewiki« auf dem historisch bedeutsamen Kongreß plausibel zu machen. Berias Behauptung vom »äußerst aktiven Anteil« Kobas an der Vorbereitung des Parteitags ist eine jener nichtssagenden Phrasen, an denen die offizielle Sowjetgeschichtsschreibung so überreich ist. In seinem dem dreißigsten Jahrestag des Dritten Parteitags gewidmeten Artikel sagt der gut unterrichtete Ossip Pjatnitzki nichts über eine Teilnahme Stalins an den Vorbereitungen zum Kongreß, und Jaroslawski, Hoflieferant für Parteigeschichte, beschränkt sich auf eine unbestimmte Bemerkung, derzufolge Stalins Tätigkeit im Kaukasus »zweifellos eine gewaltige Bedeutung« für den Parteitag hatte, ohne zu erläutern, worin diese Bedeutung bestanden hat. Aus allem Voraufgegangenen ergibt sich völlig klar: nach langem Zuwarten hat sich Koba den Bolschewiki erst kurze Zeit vor dem Parteitag angeschlossen; an der Novemberkonferenz im Kaukasus hat er nicht teilgenommen; er ist niemals Mitglied des von dieser Konferenz gebildeten Büros gewesen; er konnte, als neu Hinzugekommener, nicht erwarten, ein Mandat für den Auslandskongreß zu erhalten. Die nach London entsandte Delegation bestand aus Kamenew, Newsky, Zschachaja und Dschaparidse – sie sind die damaligen Führer des kaukasischen Bolschewismus. Ihr weiteres Schicksal steht mit unserem Thema im Zusammenhang: Dschaparidse wurde 1918 von den Engländern erschossen; Kamenew wurde achtzehn Jahre später von Stalin erschossen; Newsky wurde durch Stalins Machtspruch zum »Volksfeind« erklärt und ist spurlos verschwunden; nur der alte Zschachaja lebt noch – er hat es fertiggebracht, sich selbst zu überleben.
Die negative Seite der zentralistischen Tendenz des Bolschewismus trat schon auf dem Dritten Parteitag der russischen Sozialdemokratie in Erscheinung. Die den »Apparat« kennzeichnenden Gewohnheiten hatten sich bereits in der illegalen Arbeit herausgebildet. Der Typus des jungen revolutionären Bürokraten tauchte auf. Ganz natürlicherweise zogen die Bedingungen der konspirativen Arbeit den demokratischen Formalitäten wie Wählbarkeit, Rechenschaftslegung, Kontrolle enge Grenzen. Doch schränkten die Komiteeleute die demokratischen Möglichkeiten zweifellos noch mehr als notwendig ein; den revolutionären Arbeitern gegenüber härter und strenger als gegen sich selbst, zogen sie es vor, auch da zu kommandieren, wo es notwendig gewesen wäre, mit feinster Aufmerksamkeit der Stimme der Massen zu lauschen. Arbeiter, vermerkt die Krupskaja, gab es in den bolschewistischen Komitees ebensowenig wie auf dem Parteitag selbst. Die Intellektuellen herrschten vor. »Der ›Komitee-Mann‹«, schreibt die Krupskaja, »war für gewöhnlich eine reichlich selbstsichere Persönlichkeit; er war sich des mächtigen Einflusses, den die Tätigkeit der Komitees auf die Massen ausübte, sehr wohl bewußt. Innerparteiliche Demokratie kannte der ›Komiteetschik‹ zumeist überhaupt nicht; für die Leute von der ›Auslandszentrale‹ hatte der ›Komiteetschik‹ nur ein mitleidiges Lächeln übrig; sie schreien, sie toben, sie zanken sich: ›In Rußland würden sie sich das bald abgewöhnen!‹ ... Auch irgendwelche Neuerungen wünschte er nicht; sich rasch wechselnden Verhältnissen anzupassen, war nicht nach dem Geschmack des ›Komiteetschik‹, und er war dazu auch nicht fähig.« Diese zurückhaltende, aber treffende Charakterisierung trägt erheblich zum Verständnis der politischen Psychologie Kobas bei, der ein »Komiteetschik« par excellence gewesen ist. Schon 1901, in den frühesten Tagen seiner revolutionären Laufbahn, sahen wir ihn in Tiflis im Komitee gegen die Zulassung von Arbeitern auftreten. Als »Praktiker«, das heißt als politischer Empiriker, betrachtete er die Emigranten, das »Auslandszentrum«, mit Gleichgültigkeit, später mit Verachtung. Die persönlichen Eigenschaften für eine direkte Einflußnahme auf die Massen gingen ihm ab, er hielt sich infolgedessen mit doppelter Hartnäckigkeit an den Apparat. Die Achse seines Universums war sein jeweiliges Komitee – das Tifliser, das Bakuer, das kaukasische, schließlich das Zentralkomitee. Diese durch nichts zu erschütternde Bindung an die Parteimaschine sollte sich späterhin außergewöhnlich festigen: der »Komiteetschik« wurde zum Ober-»Apparatschik«, zum »Generalsekretär«, zur Personifikation der Parteibürokratie überhaupt, zu ihrem Führer ohnegleichen.
Es ist recht verlockend, hier den Schluß zu ziehen, daß der zukünftige Stalinismus in der bolschewistischen Zentralisation seine Wurzeln hatte oder, allgemeiner gesagt, in der unterirdischen Hierarchie der Berufsrevolutionäre. Bei genauer Analyse legt eine solche Schlußfolgerung jedoch die erstaunlichste Armut an geschichtlichem Inhalt bloß und fällt in Staub zusammen. Natürlich hat die ganze, notwendigerweise eingeschränkte Art und Weise, in der Leute mit den fortgeschrittensten Auffassungen auszuwählen und dann in straff zentralisierte Organisationen überzuführen sind, ihre Gefahren, doch sind die tieferen Ursachen dieser Gefahren nicht im »Prinzip« der Zentralisation zu suchen, sondern in der Unterschiedlichkeit und Rückständigkeit der Denkweise der Werktätigen, das heißt eben in den allgemeinen sozialen Verhältnissen, die eine zentralisierte Leitung der Klasse durch ihren Vortrupp notwendig machen. Der Schlüssel zu dem dynamischen Problem der Führung liegt im realen Inhalt der Beziehungen zwischen dem politischen Apparat und der Partei, zwischen der Vorhut und der Klasse, dem Zentralismus und der Demokratie. Diese Beziehungen können weder a priori definiert werden noch unveränderlich dieselben bleiben. Sie hängen von konkreten geschichtlichen Umständen ab, ihr veränderliches Gleichgewicht wird durch den lebendigen Kampf der Tendenzen reguliert, die zwischen dem Despotismus des Apparats und impotenter Phrasendrescherei als ihren äußersten Polen hin- und herschwingen.
In meiner 1904 geschriebenen Broschüre »Unsere politischen Aufgaben«, die in bezug auf meine Kritik an Lenin ziemlich viel Unreifes und Irrtümliches enthält, finden sich immerhin einige Seiten, die eine ganz richtige Idee von der Mentalität der »Komiteetschiks« jener Tage geben, die »aufhörten, sich auf die Arbeiter zu stützen, seitdem sie eine Stütze in den ›Prinzipien‹ des Zentralismus gefunden hatten«. Der Kampf, den Lenin ein Jahr später auf dem Parteitag gegen die hochmütigen Komiteeleute auszufechten hatte, bestätigte vollauf, daß meine Kritik gerechtfertigt gewesen war. So berichtet einer der Delegierten, namens Ljadow, folgendes: »Die Debatte wurde leidenschaftlicher. Zwei getrennte Gruppen begannen sich zu bilden, Theoretiker und Praktiker, Literaten, und ›Komiteetschiks‹. In der Diskussion trat besonders ein noch ziemlich junger Arbeiter, Rykow mit Namen, hervor; er verstand es, den Großteil der ›Komiteetschiks‹ um sich zu sammeln.« Ljadows Sympathien gehören diesen letzteren. »Ich konnte kaum mehr an mich halten«, rief Lenin in seinem Schlußwort aus, »als ich hören mußte, daß es keine Arbeiter gäbe, die fähig wären, Mitglieder des Komitees zu sein!« Erinnern wir uns, mit welcher Hartnäckigkeit Koba die Arbeiter von Tiflis zu überzeugen versuchte – »Hand aufs Herz !« –, daß es niemanden unter ihnen gäbe, der würdig sei, in die hochheilige Ordenskaste aufgenommen zu werden. »Diese Frage«, darauf bestand Lenin, »bleibt offen. Augenscheinlich ist da etwas krank an der Partei.« Die Krankheit, das war die Willkür der Apparatleute, der Beginn der Bürokratisierung.
Lenin begriff besser als jeder andere die Notwendigkeit einer zentralisierten Organisation, doch sah er darin vorwiegend einen Hebel, um die Aktivität der fortschrittlichen Arbeiter zu steigern; aus dem Apparat einen Fetisch zu machen, das war ihm nicht nur fremd, sondern tief zuwider. Auf dem Parteitag spürte er alsbald den Kastengeist der Komiteeleute heraus und kämpfte leidenschaftlich dagegen an. Die Krupskaja bestätigt das: »Wladimir Iljitsch ereiferte sich, und die ›Komiteetschiks‹ ereiferten sich.« Den Sieg trugen für diesmal die Komiteeleute mit ihrem Wortführer Rykow davon, dem späteren Nachfolger Lenins auf dem Posten des Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare. Lenin konnte seine Resolution, wonach sich jedes Komitee in der Mehrheit aus Arbeitervertretern zusammensetzen sollte, nicht durchbringen. Ebenfalls gegen den Willen Lenins beschlossen die »Komiteetschiks«, daß die Redaktion des Auslandsorgans der Kontrolle des Zentralkomitees zu unterstellen sei. Ein Jahr früher hätte es Lenin eher zum Bruch kommen lassen, als zuzugeben, daß die politische Orientierung der Partei von einem Zentralkomitee abhängig gemacht werde, das in Rußland residierte, ständig von der Polizei bedroht war und dessen Zusammensetzung sich infolgedessen dauernd änderte. Gegenwärtig aber rechnete er fest darauf, daß er das letzte Wort haben würde. Sein Kampf gegen die maßgebende alte Führerschaft der russischen Sozialdemokratie hatte ihn stärker gemacht, er hatte weitaus mehr Selbstvertrauen als auf dem Zweiten Parteitag und war deshalb auch ruhiger. Wenn er sich während der Debatte, wie die Krupskaja sagt, »ereiferte«, oder besser, sich zu ereifern schien, so war er desto umsichtiger bei allen zu ergreifenden organisatorischen Maßnahmen. Er steckte nicht nur schweigend die Niederlage in zwei besonders wichtigen Fragen ein, sondern befürwortete sogar die Aufnahme Rykows ins Zentralkomitee. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß die Revolution, diese große Lehrmeisterin der Massen auf dem Felde des Unternehmungsgeistes und der Kühnheit, den noch jungen und nicht eingewurzelten Konservativismus des Parteiapparats vernichten würde.
Außer Lenin wurden ins Zentralkomitee gewählt: der Ingenieur Leonid Krassin; der Naturwissenschaftler, Arzt und Philosoph Bogdanow (beide Altersgenossen Lenins); ferner Postalowski, der bald darauf die Partei verließ, und Rykow. Ersatzmänner wurden der »Literat« Rumjantzew und zwei »Praktiker«, Gussew und Bur. Überflüssig zu sagen, daß niemand daran dachte, Koba für das erste Bolschewistische Zentralkomitee vorzuschlagen.
Im Jahre 1934 verkündete der Kongreß der Kommunistischen Partei Georgiens – nach einer Rede von Beria –, daß »alles, was bisher geschrieben worden ist, nicht die wirkliche und authentische Rolle des Genossen Stalin widerspiegelt, der in Wirklichkeit während einer langen Reihe von Jahren den Kampf der Bolschewiki im Kaukasus geleitet hat«. Wie das vor sich gegangen ist, das erklärte der Kongreß nicht. Aber alle, die bis zu diesem Zeitpunkt historische Arbeiten und Memoiren verfaßt hatten, sahen sich damit verurteilt; einige von ihnen sind wahrscheinlich erschossen worden. Um alles Unrecht der Vergangenheit wieder gutzumachen, wurde beschlossen, ein »Stalin-Institut« zu gründen. Damit beginnt jene allgemeine »Säuberung« aller alten Urkunden, auf denen von nun an neue Texte zum Vorschein kommen. Nie zuvor unter dem Himmelsgewölbe ist die Fabrikation von Lügen in solchem Ausmaße vorgenommen worden! Und dennoch ist die Lage für den Biographen nicht ganz hoffnungslos. Kann man doch die Wahrheit nicht nur in der Diskussion entdecken, wie die Franzosen sagen, sondern auch in den inneren Widersprüchen, aus denen sich die Lüge selbst zusammensetzt.
»Zwischen 1904 und 1907«, schreibt Beria, »stand Stalin am Steuerruder der transkaukasischen bolschewistischen Partei und führte eine gewaltige organisatorische und theoretische Arbeit durch.« Leider ist es nicht einfach zu erklären, worin diese Arbeit bestanden hat und wo und wie sie vonstatten ging. Hören wir vorerst Stalin selbst darüber. »Ich entsinne mich dann der Jahre 1905 bis 1907«, sagt er in seiner bereits zitierten autobiographischen Rede in Tiflis im Jahre 1926, »damals habe ich nach dem Willen der Partei in Baku gearbeitet. Zwei Jahre revolutionärer Tätigkeit unter den Arbeitern der Petroleumindustrie hatten mich für den praktischen Kampf und die Führung gestählt ... Dort, in Baku, erhielt ich also meine zweite revolutionäre Feuertaufe. Es waren Gesellenjahre der Revolution ...« Die »erste« Taufe hatte unser »Lehrling«, wie wir wissen, in Tiflis erhalten. »Meister« der Revolution sollte Stalin erst 1917 in Petersburg werden.
Wie so oft bei Stalin stimmen die Zeitangaben nicht. Aus dem angeführten Zitat scheint hervorzugehen, daß Koba die Jahre der ersten Revolution in Baku, der proletarischen Festung des Kaukasus, verbracht hat. Dem war aber nicht so. Koba wurde in Baku im März 1908 verhaftet, und wenn man ihm aufs Wort glauben wollte, hätte er in Baku nicht zwei, sondern über drei Jahre verbracht. In der von seinem Sekretariat verfaßten Biographie heißt es nun aber: »Mit dem Jahre 1907 beginnt die revolutionäre Tätigkeit des Genossen Stalin in Baku. Vom Londoner Parteitag zurückgekehrt, verläßt Stalin Tiflis und nimmt in Baku seinen Wohnsitz.« Dieser Londoner Kongreß hat im Juni 1907 stattgefunden, Stalin hat also nicht vor Juli oder August nach Baku kommen können; aller Wahrscheinlichkeit nach ist er im Anschluß an die berühmt gewordene »Expropriations«-Affäre von Tiflis nach Baku gekommen; mit der »Expropriation« werden wir uns noch zu beschäftigen haben. Folgen wir dieser hochoffiziellen Biographie, dann zeigt sich, daß die »Bakuer Periode«, die den »Lehrling« in den Gesellenstand erhob, nicht drei, nicht einmal zwei Jahre gedauert hat, sondern höchstens sechs bis sieben Monate. Diesmal ist der Widerspruch zu groß. Versuchen wir festzustellen, welche der zwei Lesarten – die beide aus der gleichen Quelle stammen – der Wahrheit am nächsten kommt.
»Die Tifliser bolschewistischen Zeitungen«, sagt Jenukidse über die Zeit der ersten Revolution, »waren damals hauptsächlich von Stalin beeinflußt.« Koba muß also in Tiflis gelebt haben. Am 12. Juni 1905 nimmt er in dem Städtchen Choni am Begräbnis des schon erwähnten Revolutionärs Tsulukidse teil, der im Alter von neunundzwanzig Jahren an Tuberkulose gestorben war. Beria teilt uns darüber mit, daß »über zehntausend Personen« dem Begräbnis beigewohnt hätten und daß »der Genosse Stalin eine brillante Rede gehalten« habe. Die Zahl der Teilnehmer an der Trauerkundgebung dürfte fühlbar kleiner gewesen sein, Choni hatte nämlich nicht mehr als dreieinhalb tausend Einwohner. Man sieht auch Stalin kaum eine »brillante« Rede halten. Auf jeden Fall befand er sich Mitte 1905 nicht in Baku, sondern im Innern Georgiens. Der Bolschewik Golubow erwähnt allerdings in seinen Lebenserinnerungen, »daß Genosse Koba, Mitglied des Zentralkomitees, im Jahre 1905 nach Baku kam«. Nur wurde Koba erst sieben Jahre später Mitglied des Zentralkomitees. Stimmt dieser Hinweis auf eine episodische Reise mit den Tatsachen überein, so beweist das nur einmal mehr, daß Koba damals nicht in Baku lebte. In der offiziellen Biographie wird ohne weiteres behauptet, daß sich Stalin »zur Zeit des Zarenerlasses vom Oktober 1905 in Tiflis befand«. Beria selbst gibt an, daß Koba im November und Dezember 1905 in Tiflis das »Kaukasische Arbeiterblatt« redigierte. Gegen Ende 1905 schrieb er Flugblätter für das Tifliser Komitee. Nach der Niederlage im Dezember blieb er in Tiflis. Im April 1906 vertrat er die Tifliser Bolschewiki auf der Stockholmer Konferenz. Im Juni und Juli 1906 erscheint in Tiflis wieder eine legale Zeitung in georgischer Sprache und »unter der Leitung des Genossen Stalin«. Ordschonikidse, der spätere Leiter der Schwerindustrie, begegnet Stalin zum erstenmal im Jahre 1906 in Tiflis, auf der Redaktion der bolschewistischen Zeitung »Dro« (»Die Zeit«). Da besteht gar kein Zweifel: Koba verbrachte die Jahre der ersten Revolution nicht in Baku, wo die Arbeiterbewegung nach einem Gemetzel zwischen Armeniern und Tataren eine schwere Krise durchmachte, sondern in Tiflis, das er später einmal »einen menschewistischen Sumpf« genannt hat.
Wie sah die Tifliser Organisation, der Koba angehörte, im Revolutionsjahr aus? Über diesen Punkt besitzen wir ein unwiderlegbares Zeugnis, das mit einem Schlage mit allen Legenden aufräumt. Die von Lenin redigierte Zeitschrift »Proletarier« veröffentlichte im August einen parteioffiziellen Rechenschaftsbericht über »die Tätigkeit der Tifliser Bolschewiki im Jahre 1905«. Wir zitieren wörtlich: »Tiflis, den 1. Juli. Noch vor fünf Wochen existierte hier keine Organisation der Mehrheit (Bolschewiki), es gab nur Einzelpersonen und Grüppchen, mehr nicht. Anfang Juni fand endlich eine allgemeine Versammlung aller verstreuten Elemente statt ... Es begann eine Periode der Sammlung, in der wir uns jetzt noch befinden. Die Haltung der Massen uns gegenüber hat sich geändert. Die bisherige scharfe Feindschaft hat sich in Unentschlossenheit verwandelt ... Das Komitee plant, einmal wöchentlich ein Propagandaflugblatt herauszubringen.« So sieht das niederdrückende Bild aus, das die Tifliser Bolschewiki selbst, wahrscheinlich unter Mitwirkung Kobas, vom Zustand ihrer Organisation zeichnen; daß Koba im Juli 1905 am Aufbau einer bolschewistischen Organisation in Tiflis mitbeteiligt war, muß vorausgesetzt werden.
Koba kommt im Februar 1904 aus der Verbannung nach Tiflis zurück, um, unerschütterlich und triumphal, »die Tätigkeit der Bolschewiki zu leiten«. Von kurzen Unterbrechungen abgesehen, verbringt er den größten Teil der Jahre 1904 und 1905 in Tiflis. Den jüngsten Gedenkschriften nach ging unter den Arbeitern die Redensart um: »Koba zieht den Menschewiki das Fell ab!« Es scheint indes, als hätten die georgischen Menschewiki unter diesem chirurgischen Eingriff nicht sehr gelitten. Erst in der zweiten Hälfte von 1905 konnten die bis dahin nur »verstreut« vorhanden gewesenen Bolschewiki in Tiflis in die »Periode der Sammlung« eintreten und »planen«, Flugblätter herauszugeben. Welcher Organisation hat denn nun Koba eigentlich 1904 und in der ersten Hälfte von 1905 angehört? Wenn er nicht überhaupt außerhalb der Arbeiterbewegung gestanden hat, was unwahrscheinlich ist, dann muß er – was Beria auch immer sagen mag – der menschewistischen Organisation angehört haben. Anfang 1906 war die Zahl der Anhänger Lenins in Tiflis auf dreihundert gestiegen. Menschewiki aber gab es über dreitausend. Dieses Kräfteverhältnis verdammte Koba dazu, sich während des Höhepunktes der Revolution auf publizistische Opposition zu beschränken.
»Zwei Jahre (1905-1907) revolutionärer Tätigkeit unter den Arbeitern der Petroleumindustrie hatten mich ... gestählt«, versichert Stalin. Daß der Redner in der vor dem Druck sorgfältig durchgesehenen Wiedergabe seiner Rede sich einfach darin geirrt haben sollte, wo er das Jahr verbrachte, in dem das Volk seine revolutionäre Feuertaufe erhielt, ist absolut unwahrscheinlich; das gleiche gilt für das folgende Jahr, während dessen das ganze, von schmerzlichen Zuckungen ergriffene Land mit Besorgnis dem Ausgang der Dinge entgegensah. Solche Ereignisse vergißt man nicht! Man kann sich unmöglich des Eindrucks erwehren, daß sich Stalin über die Erste Revolution nur deshalb ausschweigt, weil er eben nichts darüber zu sagen hat. Baku hatte einen heroischeren Hintergrund zu bieten als Tiflis, deshalb transportierte er sich nachträglich zweieinhalb Jahre früher nach Baku, als ihn die Tatsachen dazu berechtigen. Einwendungen der Sowjethistoriker hat er nicht zu befürchten. Doch die Frage bleibt offen: was machte Koba wirklich im Jahre 1905?
Das erste Revolutionsjahr begann mit dem Salvenfeuer auf die Petersburger Arbeiter, die mit einer Bittschrift zum Zaren marschierten. Das Flugblatt, das Koba anläßlich des 9. Januar schrieb, schließt mit folgendem Appell: »Reichen wir uns die Hände und scharen wir uns um die Parteikomitees. Nicht eine Minute dürfen wir vergessen, daß nur die Parteikomitees imstande sind, uns zu führen; sie allein können unsern Weg ins Gelobte Land erleuchten ...«, und so weiter. Welche Selbstsicherheit in der Stimme unseres »Komiteetschik«! Am gleichen Tage, zur selben Stunde vielleicht, fügte im fernen Genf Lenin an den Artikel eines seiner Mitarbeiter einen Aufruf an die aufständischen Massen: »Laßt dem Zorn und dem Haß freien Lauf, der sich in Jahrhunderten der Ausbeutung, des Kummers und der Leiden in euren Herzen aufgespeichert hat!« Der ganze Lenin ist in diesem Satze. Er haßt zusammen mit den Massen und rebelliert gemeinsam mit ihnen und denkt nicht daran, die Revoltierenden darauf hinzuweisen, daß sie nur mit Erlaubnis des »Komitees« handeln dürften. Treffender kann die gegensätzliche Haltung der beiden Männer in bezug auf das, was sie politisch einte – die Revolution –, nicht zum Ausdruck gebracht werden.
Fünf Monate nach dem Dritten Parteitag, auf dem Koba keinen Platz gefunden hatte, begannen sich die ersten Sowjets zu bilden. Die Initiative dazu hatten die Menschewiki ergriffen, die sich allerdings nicht träumen ließen, wohin führen sollte, was sie mit eigenen Händen aufbauten. Die menschewistischen Fraktionen hatten in den Sowjets das Übergewicht, die menschewistische Masse aber wurde von den revolutionären Ereignissen mitgerissen; die Führer standen verdutzt vor der plötzlichen Linksschwenkung ihrer eigenen Bewegung. Das Petersburger Komitee der Bolschewiki war zuerst erschrocken über so eine Neuerung, wie es die nichtparteigebundene Vertretung der kämpfenden Massen war, und wußte nichts Besseres zu tun, als dem Sowjet ein Ultimatum zu stellen: entweder das sozialdemokratische Programm sofort anzuerkennen oder sich aufzulösen! Eine Forderung, über die sich der Petersburger Sowjet mit Einschluß seiner bolschewistischen Mitglieder ohne ein Wimperzucken hinwegsetzte. Erst nach Lenins Ankunft im November trat eine radikale Wendung in der Politik der »Komiteetschiks« gegenüber den Sowjets ein. Indessen hatte das voraufgegangene Ultimatum die bolschewistische Position entschieden geschwächt. Die Provinz folgte in dieser wie in anderen Fragen der Hauptstadt nach. Die tiefen Meinungsverschiedenheiten über die geschichtliche Bedeutung, die den Sowjets zuzumessen war, traten schon zu diesem Zeitpunkt hervor. Die Menschewiki wollten in den Sowjets nur eine vorübergehende Form der Arbeitervertretung sehen, ein »proletarisches Parlament«, ein »Organ der revolutionären Selbstverwaltung« und ähnliches. All das war äußerst mehrdeutig. Im Gegensatz dazu hatte Lenin ein feines Ohr für die Stimmung der Petersburger Massen, die den Sowjet die »proletarische Regierung« nannten, und er sah in der neuen Organisationsform sogleich den Hebel für den Kampf um die Macht.
In den Schriften Kobas aus dem Jahre 1905 – kümmerlich sowohl der Form wie dem Inhalt nach – findet sich kein Wort über die Sowjets. Dies nicht nur, weil es in Georgien keine Sowjets gegeben hat, sondern weil er der Sache überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkte, ihre Bedeutung überhaupt nicht begriff und sie einfach überging. Ist das nicht erstaunlich? Die Sowjets als machtvoller politischer Apparat hätten doch dem künftigen Generalsekretär auf den ersten Blick imponieren müssen! In seinen Augen jedoch handelte es sich bei den Sowjets um einen die rätselhaften Massen direkt vertretenden und deshalb fremden Apparat. Der Sowjet, der sich der Disziplin des Parteikomitees nicht unterwarf, verlangte geschmeidigere und kompliziertere Führungsmethoden. In gewisser Hinsicht trat der Sowjet als mächtiger Konkurrent des Komitees auf. So drehte Koba während der Revolution von 1905 den Sowjets den Rücken zu. Im Grunde genommen kehrte er damit der Revolution als solcher den Rücken – als ob sie eine persönliche Beleidigung für ihn wäre.
Die Ursache für diese Verstimmung lag in seiner Unfähigkeit, ein eigenes Verhältnis zur Revolution zu finden. Die Moskowiter Biographen und Künstler machen dauernd Anstrengungen, uns Koba an der Spitze dieser oder jener Demonstration vorzuführen, als »Zielscheibe«, als entflammenden Redner, als Volkstribun. Das alles ist Lüge. Selbst in späteren Jahren ist Stalin nicht zum Redner geworden; »flammende« Reden hat ihn nie jemand halten hören. Im Jahre 1917, als alle Agitatoren der Partei, mit Lenin angefangen, mit heiseren Stimmen herumliefen, ist Stalin kein einziges Mal in öffentlichen Versammlungen als Redner aufgetreten. Im Jahre 1905 hat es nicht anders sein können; Koba war nicht einmal in dem bescheidenen Maße ein Redner wie die anderen jungen kaukasischen Revolutionäre, die Knunjanz, Subarow, Kamenew, Tseretelli. Auf einer geschlossenen Parteisitzung konnte er recht gut Gedanken vortragen, die er sich fest zu eigen gemacht hatte, aber von einem Agitator hatte er nichts an sich. Mühsam formte er seine Sätze und brachte keine Betonung auf, keine Wärme, keine Farbe. Die organische Schwäche seiner Natur, Kehrseite ihrer Stärke, ist seine völlige Unfähigkeit, Feuer zu fangen, sich über langweilige Trivialitäten zu erheben, zwischen sich und den Zuhörern ein lebendiges Band zu schaffen, in dem Zuhörer das bessere Selbst zu wecken. Selbst ohne Feuer, ist er nicht imstande, in anderen eine Flamme anzufachen. Kalte Bosheit genügt nicht, um die Seele der Massen zu erobern.
Allen hatte das Jahr 1905 die Zunge gelöst; das Land, das tausend Jahre lang geschwiegen hatte, sprach jetzt zum erstenmal. Wer auch nur einigermaßen imstande war, dem Haß gegen die Bürokratie und den Zaren Ausdruck zu geben, fand unermüdliche und dankbare Zuhörer. Auch Koba hat sich wahrscheinlich im Reden versucht. Doch muß der Vergleich mit anderen improvisierten Rednern allzu ungünstig ausgefallen sein. Und das konnte er nicht vertragen. So grob er anderen gegenüber sein kann, so leicht fühlt er sich selbst beleidigt und, so überraschend das erscheinen mag, so launenhaft ist er. Seine Reaktionen sind primitiv. Sobald er sich übergangen glaubt, neigt er dazu, Menschen sowohl als Ereignissen den Rücken zu kehren, mürrisch seine Pfeife zu schmauchen und von Rache zu träumen. So hat er sich denn auch 1905 voll verborgener Gekränktheit in den Schatten zurückgezogen, um so etwas wie ein Zeitungsschreiber zu werden.
Doch war er weit davon entfernt, ein geborener Journalist zu sein. Koba denkt zu langsam, seine Ideenverbindungen sind zu monoton, sein Stil ist linkisch und ärmlich. Will er einen kräftigen Effekt hervorrufen, so verfällt er in niedrige Ausdrucksweise. Nicht einer seiner damaligen Artikel wäre von einer halbwegs genauen und anspruchsvollen Redaktion angenommen worden. Freilich ist es wahr, daß sich die Mehrzahl der illegalen Publikationen keinesfalls durch hohe literarische Qualitäten auszeichnete, wurden sie doch von Leuten verfaßt, die aus der dringenden Notwendigkeit heraus und nicht aus Berufung zur Feder gegriffen hatten. Koba jedenfalls ist über dieses Niveau nicht hinausgekommen. Seine Artikel bezeugen ein gewisses Streben nach systematischer Darstellung des Themas, was sich jedoch vornehmlich in einer scholastischen Gliederung des Stoffes äußert, in der numerierenden Aufzählung der Argumente, in rein rhetorischen Fragen, in schwerfälligen Wiederholungen, wie Prediger sie anzuwenden pflegen. Jede Zeile, die er schreibt, trägt den Stempel der Banalität, weil ihm eigene Gedanken, eine originelle Form, lebendige Bilder fehlen. Wir haben es mit einem Autor zu tun, der niemals freimütig seine Gedanken äußert, sondern sich unsicher abmüht, fremde Gedanken wiederzugeben. Unsicher – ein Wort, das überraschen mag, wenn es auf Stalin angewendet wird; es charakterisiert indessen vollkommen die tastende Art, die Stalin als Schriftsteller, von seiner kaukasischen Zeit bis auf' den heutigen Tag, kennzeichnet.
Ein Irrtum wäre es allerdings, anzunehmen, daß derartige Artikel keine Wirkung ausgeübt hätten. Sie waren notwendig, sie entsprachen einem dringenden Bedürfnis. Ihre Stärke lag darin, daß sie den Ideen und Losungsworten der Revolution Ausdruck gaben; für den Leser aus der breiten Masse, der in der bürgerlichen Presse nichts Entsprechendes fand, waren sie neu und erfrischend. Aber ihre kurzbefristete Wirkung beschränkte sich auf den Leserkreis, für den sie geschrieben wurden. Heute kann niemand mehr diese trockenen, plumpen, grammatikalisch nicht immer einwandfreien, überraschenderweise mit den Papierblumen der Rhetorik verzierten Sätze lesen, ohne eine mit Ärger untermischte Verlegenheit oder manchmal unwiderstehliche Lachlust über den unfreiwilligen Humor zu verspüren. Kein Wunder, selbst in jener Zeit hat nie jemand in der Partei Koba für einen Journalisten gehalten. Alle bolschewistischen Schriftsteller, die kleinen und die großen, die aus der Hauptstadt wie die aus der Provinz, haben an der ersten bolschewistischen Tageszeitung »Nowaja Schisn« (»Neues Leben«), die ab Oktober 1905 unter Lenins Leitung in Petersburg erschien, mitgearbeitet – Stalins Name ist unter ihnen nicht zu finden. Nicht er, sondern Kamenew wurde aus dem Kaukasus zur Mitarbeit am »Neuen Leben« berufen. Koba war nicht zum Schriftsteller geboren und ist es nie geworden. Daß er 1905 mit mehr Eifer als zu anderen Zeiten geschrieben hat, unterstreicht nur noch die Tatsache, daß ihm eine andere Weise, den Massen näher zu kommen, noch weniger lag.
Jene Zeit der endlos dauernden Versammlungen, heftigen Streikkämpfe und Straßenzusammenstöße überstieg von vornherein das Durchhaltevermögen so manchen »Komiteetschiks«. Die Revolutionäre hielten ihre Ansprachen auf öffentlichen Plätzen, schrieben ihre Aufrufe auf den Knien, faßten schwerwiegende Entschlüsse in der Hast. Für all das fehlte Stalin jede Voraussetzung, seine Stimme ist ebenso schwach wie seine Einbildungskraft, seiner vorsichtigen Denkungsart fehlt die Fähigkeit zur Improvisation, er geht nur tastend voran. Erscheinungen mit mehr Leuchtkraft verdrängen ihn, sogar vom kaukasischen Firmament. Er beobachtet die Revolution mit eifersüchtiger Unruhe, mit Abneigung fast: sie ist nicht sein Element. »Wenn er nicht in Versammlungen oder auf dem Parteilokal zu tun hatte«, schreibt Jenukidse, »saß er in seinem mit Büchern und Zeitschriften angefüllten Kämmerchen oder in dem ebenso ›geräumigen‹ Redaktionszimmer der bolschewistischen Zeitung.« Man vergegenwärtige sich einen Augenblick lang den wilden Strom, in dem das »tolle Jahr« dahinfloß, und die Größe seines Pathos, um ganz das Bild zu begreifen, das der ehrgeizige junge Einzelgänger bietet, der, in seiner höchstwahrscheinlich nicht übermäßig ordentlich gehaltenen Kammer vergraben, an der Feder kaut und vergeblich nach der gehaltvollen Redewendung sucht, die wenigstens bis zu einem gewissen Grade mit der Epoche in Einklang steht.
Die Ereignisse überstürzten sich. Koba blieb abseits stehen, zerfallen mit sich selbst und mit der ganzen Welt. Alle prominenten Bolschewiki, darunter diejenigen, die damals die Parteiarbeit im Kaukasus unter sich hatten: Krassin, Postalowski, Stopani, Lehmann, Halperin, Kamenew, Taratuta und andere, übergingen Stalin; in ihren Memoiren haben sie ihn nicht erwähnt, und er seinerseits sagt nichts über sie. Mehrere unter ihnen, wie Kurnatowski oder Kamenew, sind zweifellos durch die Parteiarbeit mit ihm zusammengekommen, auch andere mögen mit ihm zusammengetroffen sein, ohne daß er einem von ihnen in der Reihe der übrigen durchschnittlichen »Komiteetschiks« aufgefallen wäre. Keiner hat ihm ein Wort der Anerkennung oder der Sympathie gewidmet, keiner gab den künftigen offiziellen Biographen den mindesten Hinweis, auf den sie einen lobenden Artikel bauen könnten.
Eine offizielle Kommission für Parteigeschichte hat 1926 eine umgearbeitete, das heißt eine den Tendenzen der Nach-Leninschen Zeit angepaßte Version des Quellenmaterials über das Jahr 1905 herausgegeben. Auf etwas über hundert Dokumente kommen an die dreißig Artikel von Lenin, ebensoviele stammen von anderen Verfassern. Obwohl sich der Kampf gegen den Trotzkismus damals seinem Höhepunkt näherte, konnte die rechtgläubige Redaktion nicht umhin, vier Artikel von Trotzky in das Sammelwerk aufzunehmen. Von Stalin jedoch findet man in den vierhundertfünfundfünfzig Seiten keine einzige Zeile. In der alphabetischen Inhaltsangabe, die mehrere hundert Namen umfaßt, darunter jeden, der während des Revolutionsjahrs einigermaßen bekannt geworden war, erscheint Stalins Name nicht. Nur »Iwanowitsch« ist erwähnt, als Teilnehmer der Parteikonferenz von Tammerfors im Dezember 1905. Wie aufschlußreich, daß die Herausgeber des Sammelbandes noch 1926 nichts davon wußten, daß »Iwanowitsch« und Stalin einunddieselbe Person sind! Solche unparteiischen Details wirken überzeugender als alle späteren Verherrlichungen.
Stalin scheint außerhalb der Revolution von 1905 gestanden zu haben. Seine »Lehrzeit« fällt in die revolutionären Jahre, die er in Tiflis, Batum, im Gefängnis, in der Verbannung verbrachte. Später wird er, in Baku in der Zeit von 1907–1908, »Revolutionsgeselle«. Die erste Revolution spielt in seiner Entwicklung zum künftigen »Meister« überhaupt keine Rolle. Wann immer er über seine eigene Biographie spricht, gleitet er über das große Jahr hinweg, das alle hervorragenden revolutionären Führer der älteren Generation geformt und bekannt gemacht hat. Es ist gut, sich das fest einzuprägen, denn es handelt sich dabei um keinen Zufall. Das nächste revolutionäre Jahr, 1917, wird in der Autobiographie auch nur wieder in so nebelhafter Form auftauchen wie 1905, wieder werden wir den inzwischen zum Stalin gewordenen Koba in einem bescheidenen Redaktionsraum finden, diesmal der Petersburger »Prawda«, wo er wiederum, ohne sein Tempo zu steigern, einfältige Kommentare zu hochbedeutenden Ereignissen niederschreibt. Wir haben es mit einem Revolutionär zu tun, den eine wirkliche Revolution der Massen jedesmal aus seinem Geleise hebt und beiseite stellt. Alle Revolutionen, später die in Deutschland, China, Spanien, treffen ihn immer von neuem völlig unvorbereitet an. Er ist für den Apparat geboren, nicht für die Führung in den schöpferischen Aktionen der Massen. Nun pflegt aber die Revolution die herkömmlichen Parteiapparate zu zerbrechen und sich neue, weniger fügsame zu schaffen. Sie gründet sich auf Begeisterung, Improvisation, kühne Initiative und erwartet mit Recht von ihren Führern die gleichen Eigenschaften. Diese Eigenschaften besaß Koba nicht. Weder Tribun, noch Stratege, noch Führer im Aufstand, ist er immer nur der Bürokrat der Revolution gewesen. Deshalb war er, um seine Talente von neuem spielen lassen zu können, verurteilt, als halb passiver Zuschauer zu warten, bis die ungestümen Fluten der Revolution wieder in ihre Ufer zurückgetreten waren.
Die Spaltung in eine »Mehrheit« (Bolschewiki) und eine »Minderheit« (Menschewiki) war auf dem Dritten Parteitag endgültig vollzogen worden, der die Menschewiki zum »abgesplitterten Teil der Partei« erklärt hatte. Die revolutionären Ereignisse des Herbstes 1905, die eine völlig veruneinigte Partei vorfanden, übten sofort einen wohltuenden Druck aus und linderten die fraktionelle Feindschaft einigermaßen. Im Oktober, am Vorabend seiner langersehnten Abreise aus dem Schweizer Exil ins revolutionäre Rußland, schrieb Lenin einen in wärmsten Worten gehaltenen, versöhnlichen Brief an Plechanow, in dem er seinen alten Lehrer und Gegner »die beste Kraft der russischen Sozialdemokratie« nannte, ihm Zusammenarbeit vorschlug und erklärte: »Unsere taktischen Meinungsverschiedenheiten werden mit verblüffender Schnelligkeit von der Revolution selbst bereinigt.« Das war richtig. Doch sollte es nicht lange richtig bleiben, da die Revolution selbst nicht lange dauerte.
Kein Zweifel, daß zu Anfang die Menschewiki mehr Findigkeit in der Schaffung und Ausnützung von Massenorganisationen bewiesen als die Bolschewiki. Als politische Partei aber schwammen sie mit dem Strom und versanken prompt darin. Im Gegensatz dazu kamen die Bolschewiki nur langsam in Schwung. Dafür befruchteten sie die ganze Bewegung mit ihren präziseren Losungsworten, Ergebnissen einer realistischen Bewertung der Kräfte der Revolution. Die Menschewiki überwogen in den Sowjets, die große politische Linie der Sowjets jedoch verlief in der Richtung der bolschewistischen Strategie. Opportunisten bis aufs Mark, waren die Menschewiki zeitweise dazu fähig, sich der revolutionären Erhebung anzupassen, doch waren sie unfähig, sie zu leiten, noch ihren geschichtlichen Aufgaben treu zu bleiben, als der Rückschlag eingesetzt hatte.
Nach dem Generalstreik vom Oktober 1905, der dem Zaren das Verfassungsversprechen abgetrotzt hatte, das in den Arbeitervierteln eine Atmosphäre von Wagemut und Optimismus schuf, gewannen die Vereinigungstendenzen in beiden Fraktionen eine unwiderstehliche Kraft. Vereinigte oder föderative Komitees von Bolschewiki und Menschewiki bildeten sich allerorten. Die Führer folgten dieser Tendenz. Beide Fraktionen hielten Konferenzen ab, die einen völligen Zusammenschluß vorbereiten sollten. Die Menschewiki konferierten Ende November in Petersburg, wo noch die neuerworbene »Freiheit« herrschte. Die Bolschewiki versammelten sich erst im Dezember, als die Reaktion schon in vollem Gange war; ihre Konferenz mußte deshalb auf finnischem Boden, in Tammerfors, stattfinden.
Die bolschewistische Konferenz war ursprünglich als Sondertagung der Partei gedacht. Doch der Eisenbahnerstreik, der Aufstand in Moskau und eine Reihe anderer unvorhergesehener Ereignisse verhinderten zahlreiche Delegierte am Kommen, so daß die Vertretung der verschiedenen Parteiorganisationen sehr unvollständig war. Von sechsundzwanzig Organisationen trafen einundvierzig Delegierte ein, die etwa viertausend Mitglieder vertraten. Diese Zahl erscheint verschwindend gering für eine revolutionäre Partei, die sich anschickte, den Zarismus zu stürzen und ihren Platz in der Revolutionsregierung einzunehmen. Doch brachten diese Viertausend bereits den Willen von hunderttausend anderen zum Ausdruck. Mit Rücksicht auf die schwache Teilnahme wurde beschlossen, den Kongreß lediglich als eine Konferenz zu betrachten. Koba, unter dem Namen Iwanowitsch, und ein Arbeiter namens Tlejiga waren als Vertreter der transkaukasischen bolschewistischen Organisation anwesend. Die aufregenden Ereignisse, die sich damals gerade in Tiflis abspielten, hatten Koba nicht hindern können, seinen Redaktionsschreibtisch zu verlassen.
Die Protokolle der Diskussionen von Tammerfors, die vor sich gingen, während in Moskau die Kanonen donnerten, sind bis heute noch nicht wieder aufgefunden worden. In dem von den grandiosen Geschehnissen jener Tage überwältigten Gedächtnis der Teilnehmer hat die Konferenz nur geringe Spuren hinterlassen. »Welch ein Unglück«, schrieb die Krupskaja dreißig Jahre später, »daß diese Protokolle nicht aufbewahrt worden sind! Welcher Enthusiasmus hat dort geherrscht! Die Revolution war auf ihrem Höhepunkt angekommen, die Genossen brannten darauf zu kämpfen. In den Sitzungspausen bildeten sie sich im Schießen aus ... Keiner von denen, die an dieser Konferenz teilgenommen haben, wird sie je vergessen. Losowski, Baranski, Jaroslawski, viele andere waren dabei. Die Namen dieser Genossen sind mir im Gedächtnis haften geblieben, weil ihre Berichte über ihre Heimatgebiete besonders interessant waren.« Iwanowitsch wird nicht genannt, an diesen Namen erinnert sich die Krupskaja nicht. In den Memoiren Gorews, der Mitglied des Präsidiums der Konferenz war, lesen wir unter anderem: »Unter den Delegierten waren Swerdlow, Losowski, Stalin, Newski und andere.« Die Reihenfolge der Namen ist nicht ohne Bedeutung. Bekannt ist ferner noch geworden, daß Iwanowitsch, der sich für den Boykott der Dumawahlen aussprach, in die Kommission gewählt wurde, die sich mit dieser Frage zu befassen hatte.
Die Wogen der revolutionären Brandung gingen noch so hoch, daß selbst die Menschewiki, noch erschrocken über ihre eigenen, soeben begangenen opportunistischen Fehler, es nicht wagen durften, gleich mit beiden Füßen auf den schwankenden Steg des Parlamentarismus hinüberzuspringen. Sie schlugen vor, sich aus Gründen der Agitation am ersten Wahlgang zu beteiligen, aber keinen Sitz in der Duma einzunehmen. Die bei den Bolschewiki vorherrschende Stimmung war für einen »aktiven Boykott«. Auf seine Weise beschreibt Stalin Lenins Haltung in jenen Tagen, gelegentlich einer bescheidenen Feier des fünfzigsten Geburtstags Lenins im Jahre 1920, folgendermaßen:
»Ich entsinne mich, wie Lenin, dieser Riese, zweimal Fehler zugab, die ihm unterlaufen waren. Die erste Episode hat sich in Finnland zugetragen, im Jahre 1905, im Dezember, auf der Allrussischen bolschewistischen Konferenz. Es ging um den Boykott der von Witte geplanten Duma... Die Diskussion begann, die Vertreter der Provinz, die Sibirier, die Kaukasier gingen in die Offensive, und wie groß war nicht unser Erstaunen, als am Ende unserer Reden Lenin das Wort ergriff und erklärte, er sei Anhänger der Wahlbeteiligung gewesen, er sehe jedoch nunmehr ein, daß er sich geirrt habe und er werde nun unsere Fraktion unterstützen. Wir waren betroffen. Es war wie ein elektrischer Schock. Wir brachten ihm eine donnernde Ovation.«
Niemand sonst erinnert sich an den »elektrischen Schock«, noch an die »donnernde Ovation« von fünfzig Paar Händen. Stalins Schilderung kann dennoch der Sache nach richtig sein. Die »bolschewistische Härte« war zu jener Zeit noch nicht mit taktischer Geschmeidigkeit verbunden, zumal nicht bei den »Praktikern«, denen dafür Erfahrung und Weitblick fehlten. Lenin selbst mag geschwankt haben. Der Druck, den die Provinzler ausübten, mag ihm als der elementare Druck der Revolution selbst erschienen sein. Ob dem nun so gewesen ist oder nicht, die Konferenz beschloß jedenfalls »zu versuchen, die Bildung dieser Polizei-Duma zu verhindern und jede Teilnahme an ihr abzulehnen«. Merkwürdig ist nur, daß Stalin auch noch im Jahre 1920 überzeugt davon war, der »Fehler« Lenins müsse in seiner ursprünglichen Bereitschaft, an den Dumawahlen teilzunehmen, gesehen werden, während doch Lenin selbst inzwischen längst zugegeben hatte, daß sein wirklicher Fehler seine Konzession an die Anhänger des Wahlboykotts gewesen war.
Über die Beteiligung »Iwanowitschs« selbst an den Diskussionen zur Duma-Frage existiert der farbenfreudige, jedoch anscheinend völlig frei erfundene Artikel eines gewissen Dimitrijewsky. »Anfänglich war Stalin aufgeregt«, schreibt er. »Zum erstenmal sprach er vor den Führern der Partei. Zum erstenmal sprach er vor Lenin. Doch Lenin hörte ihm voller Interesse zu und nickte zustimmend mit dem Kopf. Stalins Stimme wurde sicherer. Er schloß unter allgemeiner Zustimmung. Sein Standpunkt wurde angenommen.« Woher hat der Autor, der nicht das geringste mit der Konferenz zu tun hatte, seine Informationen? Dimitrijewsky ist ein ehemaliger Sowjetdiplomat, Chauvinist und Antisemit, der sich während des Kampfes gegen den Trotzkismus der Stalinfraktion angeschlossen hatte und der später im Ausland ins Lager des rechten Flügels der weißen Emigration desertierte. Bezeichnend ist, daß er auch als offener Faschist nicht aufhörte, Stalin sehr hoch zu stellen, Stalins Opponenten zu hassen und alle Legenden des Kremls zu wiederholen. Hören wir ihm noch einen Augenblick zu. Nach der Sitzung, auf der über den Boykott der Duma beraten worden war, verließen Lenin und Stalin »gemeinsam das Volkshaus, wo die Konferenz stattgefunden hatte. Es war kalt. Ein scharfer Wind wehte. Dennoch wanderten die beiden lange durch die Straßen von Tammerfors. Lenin interessierte sich für diesen Mann, von dem er bereits als von einem der härtesten und entschlossensten Revolutionäre Transkaukasiens sprechen gehört hatte. Er wollte ihn näher kennenlernen. Lange und eingehend fragte er ihn nach seiner Arbeit, nach seinem Leben, nach den Personen, denen er begegnet war und nach den Büchern, die er gelesen hatte. Von Zeit zu Zeit machte Lenin eine kurze Bemerkung ... und ihr Tonfall ließ sein Einverständnis und seine Befriedigung erkennen. Das war der Mann, den er brauchte.« Dimitrijewsky war nicht in Tammerfors und hat das nächtliche Gespräch zwischen Lenin und Stalin nicht belauscht. Er beruft sich auch nicht auf Stalin selbst, mit dem er, wie aus seinem Buch hervorgeht, niemals gesprochen hat. Jedoch, etwas klingt in der ganzen Erzählung lebendig und... vertraut. Ich habe erst mein Gedächtnis anstrengen müssen, ehe mir meine eigene Schilderung meiner ersten Begegnung mit Lenin und unseres gemeinsamen Spaziergangs durch die Straßen von London im Herbst 1902 einfiel, die Dimitrijewsky einfach ins finnische Klima versetzt hat. In der Folklore kommen häufig derartige Übertragungen eindrucksvoller Szenen von einer mythologischen Gestalt auf eine andere vor. Die Schöpfung bürokratischer Mythen folgt denselben Regeln.
Koba war genau sechsundzwanzig Jahre alt, als er schließlich die provinziellen Eierschalen abstreifte und vor die Arena der ganzen Partei trat. Allerdings wird sein Auftreten noch kaum zur Kenntnis genommen, und es sollten noch sieben Jahre vergehen, bevor er ins Zentralkomitee aufgenommen wurde. Doch bedeutet die Tammerforser Konferenz einen Meilenstein in seinem Leben. Er besucht Petersburg, lernt die Führer der Partei kennen, beobachtet den Mechanismus der Partei einmal aus der Nähe, kann Vergleiche zwischen sich selbst und den anderen Delegierten anstellen, nimmt an den Debatten teil, wird in eine Kommission gewählt und, wie die offizielle Biographie meint, »verbindet sich für immer mit Lenin«. Bedauerlicherweise wissen wir über all das nur recht wenig.
Über seine erste Begegnung mit Lenin hat Stalin selbst berichtet, allerdings erst acht Tage nach dem Tode Lenins, nämlich am 28. Januar 1924 bei einer Trauerfeier der Offiziersschüler der Roten Armee im Kreml. Ein vollkommen konventioneller und kühler Bericht, aus dem so gut wie nichts zu entnehmen ist. Er ist aber derart charakteristisch für seinen Verfasser, daß er hier vollständig wiedergegeben werden soll. »Ich bin dem Genossen Lenin zum erstenmal in Finnland auf der bolschewistischen Konferenz von Tammerfors im Dezember 1905 begegnet«, so beginnt Stalin. »Ich hoffte, den Bergadler unserer Partei zu sehen, den großen Mann, groß nicht nur in der Politik, sondern, wenn man will, groß auch seiner äußeren Erscheinung nach, denn ich stellte mir den Genossen Lenin als Riesen und als imponierende Erscheinung vor. Wie groß war nicht meine Enttäuschung, als ich den unauffälligsten aller Menschen sah, kaum mittelgroß, der sich nicht im geringsten von anderen Sterblichen unterschied.« Unterbrechen wir einen Augenblick. Hinter der vorgespiegelten Naivität der Bilder vom »Riesen« und »Bergadler« verbirgt sich schlaue Berechnung zu eigenen Gunsten. Stalin sagte den angehenden Offizieren der Roten Armee etwa dies: Laßt euch nicht durch meine eigene mittelmäßige Erscheinung täuschen, auch Lenin hat sich nicht durch ansehnlichen Wuchs und Schönheit ausgezeichnet! Seine Vertrauensleute unter den Kadetten haben dann später ihren Kameraden diese Andeutungen mit der nötigen Offenheit erläutert.
»Von einem ›großen Mann nimmt man an«, fährt Stalin fort, »daß er gewöhnlich bei Versammlungen zu spät kommt, damit die Versammelten mit Herzklopfen auf sein Kommen warten, bis es dann heißt: Pscht! Ruhe! Er kommt! Ein solches Ritual erschien mir damals nicht als überflüssig, denn es flößt Respekt ein und es imponiert. Wie groß war nicht meine Enttäuschung, als ich erfuhr, daß Lenin schon vor den anderen Delegierten erschienen war und in irgendeiner Ecke ganz schlicht mit dem einen oder dem anderen plauderte. Ich will nicht verschweigen, daß mir diese Art damals geradezu als Verletzung notwendiger Regeln erschien. Erst später habe ich begriffen, daß diese Schlichtheit und Bescheidenheit des Genossen Lenin, sein Bestreben, nicht aufzufallen, seine hohe Stellung nicht zu unterstreichen, daß gerade das zum Charakter Lenins gehörte, als dem Führer neuer Massen, gewöhnlicher und einfacher Massen, Massen aus den tiefsten Tiefen der Menschheit.« Dieser grobschlächtigen Gegenüberstellung liegt eine wohldurchdachte Lüge zugrunde. Koba dürfte in Tiflis oder Batum vor 1905 kaum Gelegenheit gehabt haben, das »Ritual« beim Empfang großer Persönlichkeiten aus der Nähe kennenzulernen. In der Zeit der Illegalität gab es in der Partei überhaupt keine effektvollen »Führerempfänge« mit ergriffenen Beifallskundgebungen und anderen Riten. Am allerwenigsten konnte Stalin erwarten, daß sich etwas ähnliches im engen Rahmen einer Parteileiterkonferenz abspielen würde. Wenn er sich mit geheuchelter Gutmütigkeit dazu bekennt, daß ihm feierliche Regeln »nicht als überflüssig« erschienen wären, so versucht er nur, durch gespielte Offenherzigkeit das Vertrauen seiner Zuhörer zu gewinnen. Die eindeutige Fälschung besteht jedoch darin, daß Stalin vorsätzlich in die Vergangenheit zurück verlegte, was eben erst zur neuen sowjetischen Sitte gehörte, nämlich den populären Führern. Ovationen, manchmal recht stürmische, darzubringen – übrigens ohne »Ritual« und ohne jede Vorbereitung. Solchen Ovationen konnte auch Lenin nicht aus dem Wege gehen, ja, Lenin, dem sie lästig waren, konnte ihnen noch weniger als ein anderer entrinnen. Stalin selbst war damals noch nicht an Ovationen gewöhnt, sein Erscheinen auf der Tribüne wurde von niemandem beachtet. Und das keineswegs darum, weil Stalin sich bemühte, »nicht aufzufallen«. Im Gegenteil, seine Rede über Lenin zeigt deutlich, wie sehr er sich dessen bewußt war, keinen Kontakt mit den Massen zu besitzen. Gerade darum versuchte er ja, die Popularität anderer Sowjetführer ins Lächerliche zu ziehen und, indem er Lenin vorschiebt, den Mangel an eigener Popularität mit dem Mangel an Interesse daran zu erklären. Berücksichtigt man, daß Stalin diese seine Rede vor den im Kreml stationierten roten Kadetten hielt, so kann man leicht erraten, gegen wen sein Phrasenmanöver gerichtet war.
Hören wir weiter: »Zwei Reden des Genossen Lenin auf dieser Konferenz waren bemerkenswert: eine über die allgemeine politische Lage und eine andere über die Agrarfrage. Leider sind sie uns nicht erhalten geblieben. Es waren schwungvolle Reden, die die ganze Zuhörerschaft in Begeisterung versetzten. Eine außergewöhnliche Überzeugungskraft, die Einfachheit und Klarheit in der Beweisführung, die kurzen, jedem verständlichen Sätze, ohne jede Gespreiztheit, das Vermeiden von theatralischen Gesten und von nur auf Eindruck berechneten Phrasen, das kennzeichnete in erfreulicher Weise diese Reden Lenins, besonders wenn man sie mit denen der üblichen parlamentarischen' Redner verglich. Mich fesselten jedoch damals nicht diese besonderen Eigenschaften in diesen Reden des Genossen Lenin. Mich fesselte die unüberwindliche Logik in diesen Ausführungen, eine etwas trockene Logik, die aber die Zuhörer beherrscht, sie immer mehr elektrisiert und sie schließlich restlos in ihren Bann zieht, wie man sagt. Ich entsinne mich, daß damals mehrere Delegierte sagten: ›Die Logik des Genossen Lenin in seinen Reden kann man mit mächtigen Fühlern vergleichen, die einen von allen Seiten her wie mit Zangen umfassen und aus denen es kein Hinaus mehr gibt; ergib dich oder du bist verloren!‹ Ich glaube, daß dieser Zug in den Reden des Genossen Lenin die größte Stärke seiner Redekunst war.« Auch hier spricht Stalin weniger von Lenin, als er versucht, seinen Zuhörern weiszumachen, daß er ein Redner sei. Er müht sich ab, sein junges Auditorium davon zu überzeugen, daß der gute Redner nur fürs bürgerliche Parlament taugt und daß mächtige Überzeugungskraft nur denjenigen eigen ist, die nicht reden können. Besonders komisch klingt seine Charakteristik der Leninschen Redekunst, die zugleich »schwungvoll« und von »etwas trockener Logik« ist, die die Zuhörer »elektrisiert« und »mit Zangen umfaßt«. Wenn diese wohldurchdachten Zeilen auch nur eine sehr entfernte Idee vom Redner Lenin geben, so kennzeichnen sie, wie erwartet, um so treffender den Redner und den Menschen Stalin.
Der Einigungsparteitag konnte erst im April 1906 in Stockholm abgehalten werden. Der Petersburger Sowjet war verhaftet, der Moskauer Aufstand niedergeschlagen, die Dampfwalze der Repression rollte über das Land. Die Menschewiki flüchteten sich nach rechts. Plechanow drückte ihre seelische Verfassung in dem berühmten Satz aus: »Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen!« Die Bolschewiki nahmen weiter Kurs auf den Aufstand. Auf dem zertrümmerten Gebein der Revolution stehend, berief der Zar die erste Duma ein, in der vom Anfang der Wahlen an die Liberalen über die offene monarchistische Reaktion den Sieg davontrugen. Die Menschewiki, die noch vor wenigen Wochen für den teilweisen Boykott gewesen waren, setzten ihre Hoffnungen nunmehr auf die konstitutionellen Eroberungen statt auf den revolutionären Kampf. Zur Zeit des Stockholmer Parteitags erschien ihnen die Unterstützung der Liberalen als die wichtigste Aufgabe der Sozialdemokratie. Die Bolschewiki blickten auf die weitere Entwicklung der Bauernaufstände, die berufen schien, auch den proletarischen Kampf wieder offensiv werden zu lassen und die Zaren-Duma hinwegzufegen. Im Gegensatz zu den Menschewiki hielten sie weiterhin am Boykott fest. Wie immer nach einer Niederlage, wurden die Meinungsverschiedenheiten äußerst heftig. Unter so bösen Vorzeichen begann der Einigungsparteitag seine Arbeit.
An der Tagung nahmen 113 Delegierte teil, davon 62 Menschewiki und 46 Bolschewiki. Da theoretisch jeder Delegierte 300 organisierte Sozialdemokraten vertrat, darf man schließen, daß die Partei 34 000 Mitglieder hatte, wovon 19&nb000 Menschewiki und 14 000 Bolschewiki waren. In der heftigen Wahlkonkurrenz sind diese Ziffern wohl übertrieben worden. Auf alle Fälle nahm die Partei zur Zeit des Kongresses nicht zu, sondern verlor Mitglieder. Elf der 113 Delegierten vertraten Tiflis, zehn davon waren Menschewiki, einer Bolschewik. Dieser einzige Bolschewik war Koba, unter seinem Pseudonym Iwanowitsch. Das Kräfteverhältnis drückt sich hier in der präzisen Terminologie der Arithmetik aus. Beria hat den Mut zu behaupten, »unter der Führung Stalins« hätten die Bolschewiki im Kaukasus die Menschewiki von den Massen abgeschnitten. Die Zahlen geben ihm unrecht. Darüber hinaus spielte der eng zusammengeschweißte Block der kaukasischen Menschewiki innerhalb ihrer eigenen Fraktion auf dem Kongreß eine hervorragende Rolle.
Die Protokolle weisen aus, daß Iwanowitschens Teilnahme an den Arbeiten der Tagung ziemlich rege war. Wüßte man jedoch beim Durchlesen der Protokolle nicht, daß Iwanowitsch Stalin ist, würde man seine Reden und Bemerkungen nicht sonderlich beachten. Noch bis vor zehn Jahren sind sie von niemand zitiert worden, und die Parteihistoriker wußten nicht einmal, daß Iwanowitsch und der Generalsekretär der Partei identisch sind. Iwanowitsch war Mitglied einer technischen Kommission, die beauftragt war, die Wahlmandate der Delegierten zu überprüfen. In ihrer Unbedeutendheit ist die Aufgabe, für die Koba ausgewählt wurde, für ihn bezeichnend: die Beschäftigung mit dem Mechanismus des Apparats stellte ihn an seinen rechten Platz. Nebenbei bemerkt warfen ihm die Menschewiki bei dieser Gelegenheit zweimal vor, gefälschte Berichte abgegeben zu haben. Niemand kann sich für die Objektivität der Ankläger verbürgen. Doch kann man nicht umhin festzustellen, daß sich solche Vorkommnisse immer wieder um Koba herum zutragen.
Die Agrarfrage stand auf der Tagung im Mittelpunkt des Interesses. Die Aufstandsbewegung auf dem flachen Lande war für die Partei ganz unversehens gekommen. Das alte sozialdemokratische Agrarprogramm, das den Großgrundbesitz unangetastet gelassen hatte, war mit einem Schlage überholt. Die Enteignung der großen Güter stand auf der Tagesordnung. Die Menschewiki vertraten ein Programm der »Kommunalisierung«, die den Grund und Boden in die Hände der demokratischen Gemeindeverwaltungen überführen sollte. Lenin war für die Verstaatlichung, und zwar unter der Bedingung, daß alle Macht auf das Volk überginge. Plechanow, erster Theoretiker der Menschewiki, warnte davor, der zukünftigen zentralen Regierungsgewalt blind zu vertrauen und ihr die Waffe, die der Boden des Landes ist, in die Hand zu geben. »Die Republik, von der Lenin träumt, einmal errichtet«, sagte er, »wird nicht ewigen Bestand haben. Wir können nicht damit rechnen, daß sich in Rußland in naher Zukunft ein demokratisches Regime ähnlich dem der Schweiz, Englands oder der Vereinigten Staaten herausbildet. Da die Möglichkeit einer Restauration besteht, ist die Verstaatlichung gefährlich ...« So vorsichtig und bescheiden schaute der Begründer des russischen Marxismus in die Zukunft! Seiner Überzeugung nach konnte man dem Übergang des Grundeigentums an den Staat nur dann zustimmen, wenn der Staat den Arbeitern gehört. »Die Machtergreifung«, sagte Plechanow weiter, »ist unumgänglich, wenn wir eine proletarische Revolution machen. Da aber die kommende Revolution nur eine kleinbürgerliche Revolution sein kann, so müssen wir auf die Machtübernahme verzichten.« Plechanow ordnete den Kampf um die Macht einer a priori aufgestellten soziologischen Definition unter, genauer, einer bloßen Nomenklatur der Revolution, nicht aber dem wirklichen Verhältnis ihrer inneren Kräfte - er zeigt hier die Achillesferse seiner ganzen doktrinären Strategie.
Lenin verfocht die Beschlagnahme des Großgrundbesitzes durch die revolutionären Bauernkomitees, wobei die Enteignung durch ein von der verfassunggebenden Versammlung zu erlassendes Verstaatlichungsgesetz rechtskräftig gemacht werden sollte. »Mein Agrarprogramm«,sagte und schrieb er, »stützt sich auf das Programm eines Bauernaufstandes und einer vollendeten bürgerlichen demokratischen Revolution.« In einem entscheidenden Punkte ging er mit Plechanow einig: die Revolution würde nicht nur in ihrem Anfang, sondern auch auf ihrem Höhepunkt eine bürgerliche sein. Der Führer des Bolschewismus hielt nicht nur Rußland für nicht fähig, aus eigenen Kräften den Sozialismus aufzubauen (niemand dachte vor 1924 daran, diese Frage überhaupt zu stellen!), sondern glaubte auch nicht, daß Rußland seine künftigen demokratischen Errungenschaften ohne eine sozialistische Revolution im Westen aufrechterhalten können würde. Eben gerade auf dem Stockholmer Parteitag formulierte er diesen Gesichtspunkt mit der schärfsten Präzision. »Die russische (bürgerlich-demokratische) Revolution kann aus eigenen Kräften siegen«, sagte er, »aber unter keinen Umständen wird sie ihre Eroberungen aus eigenen Kräften aufrechterhalten und ausbauen können. Das kann sie nur mit Hilfe eines sozialistischen Umschwungs im Westen.« Es wäre falsch zu glauben – wie es Stalin späterhin glauben machen wollte –, daß Lenin damals nur eine äußere militärische Intervention im Auge hatte. Nein, er sprach von der Unvermeidlichkeit einer inneren Restauration, weil sich der Bauer, nach der Umschichtung des Landbesitzes Kleinbürger geworden, gegen die Revolution wenden würde. »Die Wiederherstellung der alten Verhältnisse ist unvermeidlich, sowohl auf der Basis des Gemeindeeigentums wie bei der Verstaatlichung oder der Aufteilung, weil der Kleineigentümer, welches auch immer die Besitzform ist, eine Stütze der Restauration sein wird. Nach dem vollständigen Siege der demokratischen Revolution«, betonte Lenin, »wird sich der Kleinbesitzer gegen das Proletariat wenden, und zwar um so schneller, je rascher die gemeinsamen Feinde des Kleinbürgertums und des Proletariats gestürzt worden sind ... Unsere demokratische Revolution verfügt über keine andere Reserve als das sozialistische Proletariat des Westens.«
Doch für Lenin, der so das Schicksal der russischen Demokratie direkt mit dem des europäischen Sozialismus verband, war das sogenannte »Endziel« nicht durch eine unabsehbare Geschichtsperiode von der demokratischen Revolution getrennt. Schon im Augenblick des Kampfes um die Demokratie suchte er die Grundlagen für einen raschen Vormarsch auf das sozialistische Ziel zu schaffen. Der Sinn der Verstaatlichung des Bodens lag darin, daß sie ein Fenster für den Blick in die Zukunft öffnete: »Im Stadium der demokratischen Revolution und der Bauernerhebung kann man sich nicht damit begnügen, den Großgrundbesitz zu enteignen. Man muß weitergehen und den entscheidenden Schlag gegen das Privateigentum an Grund und Boden führen, um so den Weg für den Endkampf um den Sozialismus freizulegen.«
In dieser Grundfrage der Revolution war Iwanowitsch mit Lenin nicht einverstanden. Er sprach sich auf der Tagung entschieden gegen die Verstaatlichung des Bodens und für die Aufteilung des enteigneten Grundbesitzes aus. Dieser Gegensatz in den Auffassungen, den die Seiten der Kongreßprotokolle festhalten, ist in Rußland nur sehr wenigen Leuten bekannt; es ist niemandem gestattet, Iwanowitschs Reden in der Agrardebatte des Stockholmer Kongresses wiederzugeben oder zu kommentieren. Sie sind natürlich von höchstem Interesse. Hören wir Stalin: »Da wir ein zeitweises revolutionäres Bündnis mit der kämpfenden Bauernschaft eingehen, müssen wir auch mit den Forderungen dieser Bauernschaft rechnen und müssen diese Forderungen unterstützen, sofern sie nicht zur Gesamtheit der ökonomischen Entwicklungstendenzen im Widerspruch stehen und den Fortschritt der Revolution nicht aufhalten. Die Bauern verlangen die Aufteilung, die Aufteilung steht zu den oben erwähnten Erscheinungen (?) nicht im Widerspruch. Wir müssen also für die völlige Enteignung und Aufteilung eintreten. Von diesem Gesichtspunkt aus sind sowohl Nationalisierung wie Kommunalisierung in gleicher Weise unannehmbar.« Den Offiziersanwärtern im Kreml hatte Stalin erzählt, daß Lenins Agrarrede in Tammerfors unvergeßlich wäre und die Begeisterung aller hervorgerufen hätte. Nun stellt sich heraus, daß Iwanowitsch in Stockholm keineswegs von Lenins Rede in die »Zange« genommen worden war. Nicht nur tritt er gegen Lenins Agrarprogramm auf, sondern bezeichnet es auch noch als ebenso unannehmbar wie das von Plechanow.
Die Tatsache, daß ein junger Kaukasier, der nichts von Rußland weiß, sich dazu entschließt, gegen seinen Fraktionsführer in der Agrarfrage Stellung zu nehmen, in der Lenins Autorität ganz besonders unbestritten war, macht staunen. Liegt es doch sonst nicht in der vorsichtigen Art Kobas, sich aufs Glatteis zu wagen und sich in die Minderheit zu begeben. Gewöhnlich griff er in die Diskussion nur ein, wenn er eine Mehrheit hinter sich wußte, oder wenn er später davon überzeugt sein konnte, daß ihm ein Apparat, unabhängig von Majoritätsfragen, den Sieg sicherte. Um so zwingender müssen die Gründe gewesen sein, die ihn damals dazu bewogen haben, für die nicht dermaßen populäre These der Landaufteilung Stellung zu beziehen. Mag es auch nicht leicht sein, sie über dreißig Jahre später herauszufinden, so sind doch zumindest zwei Beweggründe für sein Verhalten erkennbar; beide sind charakteristisch für Stalin.
Koba war in die revolutionäre Bewegung als plebejischer Demokrat, als Provinzler und Empiriker hineingekommen. Lenins Erwägungen über den internationalen Charakter der Revolution waren ihm fremd und unverständlich. Er hielt nach näher liegenden »Garantien« Ausschau. Unter den georgischen Bauern, die Gemeindeeigentum nicht kannten, war die individualistische Einstellung in bezug auf den Landbesitz viel ausgeprägter und verbreiteter als unter den russischen Bauern. Deswegen sah der Sohn des Bauern aus Didi-Lilo in der Zuteilung von Landparzellen an die Kleineigentümer die beste Garantie gegen die Konterrevolution. Die »Aufteilungs«-Theorie war also bei ihm nicht das Ergebnis theoretischer Schlußfolgerungen – über solche Auffassungen, die sich aus der Doktrin ergeben, kann er mit spielender Leichtigkeit hinweggehen –, sie war vielmehr das ihm organisch eigene Programm, in vollkommener Übereinstimmung mit den Grundeigenschaften seines Charakters, seiner Erziehung, seiner sozialen Umwelt. Zwanzig Jahre später werden wir ihn in der Tat abermals auf die »Aufteilung« zurückkommen sehen.
Kobas zweites Motiv läßt sich mit der annähernd gleichen Sicherheit begründen. Die Dezember-Niederlage konnte in seinen Augen die Autorität Lenins nur schwächen; er maß den Tatsachen immer größere Bedeutung bei als den Ideen. Lenin war auf dem Kongreß in der Minderheit. Mit Lenin siegen konnte Koba nicht. Das allein minderte sein Interesse am Nationalisierungsprogramm. Sowohl Bolschewiki als Menschewiki betrachteten die »Aufteilung« als das kleinere Übel im Vergleich zur These der entgegengesetzten Fraktion. Koba konnte hoffen, daß sich in letzter Rechnung eine Kongreßmehrheit auf dem Boden des kleineren Übels zusammenfinden würde. So fiel die organische Tendenz des radikalen Demokraten mit den taktischen Berechnungen des Pläneschmieds zusammen. Doch Koba täuschte sich: die Menschewiki verfügten über eine genügende Majorität und brauchten das kleinere Übel nicht zu wählen, sie entschieden sich für das größere.
Wichtig in bezug auf spätere Ereignisse ist, zu vermerken, daß Stalin ebenso wie Lenin das Bündnis des Proletariats und der Bauernschaft als »zeitweilig« ansah, das heißt als auf die Lösung gemeinsamer demokratischer Aufgaben beschränkt. Es fiel ihm keineswegs ein, zu behaupten, daß die Bauernschaft als solche zur Verbündeten des Proletariats in der sozialistischen Revolution werden könnte. Zwanzig Jahre später sollte das »Mißtrauen« gegenüber der Bauernschaft zur schlimmsten aller Ketzereien des »Trotzkismus« erklärt werden. So manches sollte zwanzig Jahre später in einem ganz anderen Lichte erscheinen. Als er 1906 das Agrarprogramm der Bolschewiki sowohl als das der Menschewiki für »in gleicher Weise unannehmbar« hielt, war Stalin der Ansicht, daß die Landaufteilung »nicht im Widerspruch mit den ökonomischen Entwicklungstendenzen« stehe. Was er tatsächlich damit meinte, war die kapitalistische Entwicklung. Was die zukünftige sozialistische Revolution anbelangt, an die er damals noch keinen Augenblick ernsthaft gedacht hatte, so war er sicher, daß erst noch Jahrzehnte vergehen müßten, in deren Verlauf die kapitalistischen Entwicklungsgesetze ihre Aufgabe zu Ende zu führen hätten: die Konzentration und Proletarisierung innerhalb der wirtschaftlichen Struktur des Dorfes. Nicht ohne Grund hatte Stalin in einem seiner Flugblätter das sozialistische Ziel mit dem biblischen Ausdruck vom »Gelobten Land« bezeichnet.
Das Hauptreferat für die »Aufteilungs«-These wurde natürlich nicht von dem faktisch unbekannten Iwanowitsch gehalten, sondern von Suworow, einem Bolschewiken mit größerer Autorität, der den Standpunkt seiner Gruppe mit hinreichender Vollständigkeit klar machte. »Man sagt, daß es sich hierbei um eine bürgerliche Maßnahme handelt«, argumentierte Suworow, »aber die Bauernbewegung ist an sich kleinbürgerlich, und wenn wir die Bauernschaft unterstützen können, dann nur in dieser Richtung. Im Vergleich zur Leibeigenschaft ist die Individualbewirtschaftung ein Schritt nach vorwärts, später wird sie dann durch eine neue Entwicklung überholt werden.« Die sozialistische Umformung der Gesellschaft wird erst auf der Tagesordnung stehen, wenn die kapitalistische Entwicklung »überholt« worden sein wird, das heißt, wenn sie den von der bürgerlichen Revolution geschaffenen unabhängigen Kleinbesitzer ruiniert und enteignet haben wird.
Der eigentliche Schöpfer der Aufteilungstheorie ist nicht Suworow, sondern der fortschrittliche Historiker Rojkow, der erst kurz vor der Revolution von 1905 zu den Bolschewiki gekommen war. Er ist nur deswegen auf der Tagung nicht als Redner aufgetreten, weil er gerade im Gefängnis saß. Rojkows Gedankengang, den er in einer Polemik gegen den Verfasser dieses Buches entwickelte, war, daß nicht nur Rußland, sondern selbst die fortgeschrittenen Länder noch weit entfernt davon wären, für eine sozialistische Revolution reif zu sein. In der ganzen Welt hätte der Kapitalismus noch eine lange Epoche des Fortschritts vor sich, ihr Ende verlöre sich in nebelhafter Ferne. Um die Widerstände zu beseitigen, die einem schöpferischen Fortschreiten des russischen Kapitalismus, dieses am meisten zurückgebliebenen Kapitalismus, im Wege standen, müsse das Proletariat den Preis für das Bündnis der Bauernschaft mit ihm zahlen und für die Landaufteilung eintreten. Der Kapitalismus würde dann mit den Gleichheitsillusionen kurzen Prozeß machen und nach und nach den Landbesitz in den Händen der mächtigsten und fortgeschrittensten Landeigentümer konzentrieren. Lenin nannte die Anhänger dieses Programms, das direkt darauf hinauslief, den kapitalistischen Grundeigentümer zu unterstützen, »Rojkowisten«, nach dem Namen ihres Führers. Rojkow, der theoretische Fragen sehr ernst nahm, ist in den Jahren der Reaktion zu den Menschewiki übergegangen.
Bei der ersten Abstimmung stimmte Lenin mit den Anhängern der Aufteilung, um, wie er sagte, »nicht die Stimmen gegen die Kommunalisierung zu zersplittern«. Er hielt die Aufteilung für das kleinere Übel, jedoch mit der Einschränkung, daß sie leicht zur sozialen Basis für eine bonapartistische Diktatur werden könnte, wenn sie auch gegen die Wiederherstellung von Großgrundbesitz und Zarenherrschaft einen gewissen Schutz bot. Er warf den »Aufteilern« vor, die Bauernbewegung nur vom Standpunkt der Vergangenheit und der Gegenwart aus zu sehen, ohne den Blick auf die Zukunft zu richten, das heißt auf den Sozialismus. Wenn der Bauer meine, das Land gehöre »niemand« oder sei »Gottes Eigentum«, dann läge darin sehr viel Konfusion und nicht wenig mystisch verschleierter Individualismus. Man müsse nichtsdestoweniger an das anknüpfen, was in diesen Auffassungen an fortschrittlichen Tendenzen enthalten sei und es zum Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ausnützen. Gerade dazu wären die »Aufteiler« nicht imstande. »Die Praktiker ... werden das gegenwärtige Programm vulgarisieren ... und aus einem kleinen Fehler einen großen machen ... Sie werden mit der Bauernschaft ausrufen, daß das Land niemandem, Gott, der Regierung gehört, sie werden auf die Vorteile der Aufteilung hinweisen und so den Marxismus vulgarisieren und entstellen.« Lenin bezeichnet als »Praktiker« einen Revolutionär mit beschränktem Horizont, einen Propagandisten, der mit den primitivsten Formeln arbeitet. Das trifft den Nagel auf den Kopf, noch dazu wenn wir in Betracht ziehen, daß sich Stalin im kommenden Vierteljahrhundert stolz nie anders denn als einen »Praktiker« zu bezeichnen pflegt, zum Unterschied von den »Literaten« und den »Emigranten«. Zum Theoretiker ernannte er sich erst, nachdem ihm der politische Apparat den Sieg gesichert hatte und ihn gegen jede Kritik schützte.
Plechanow hatte natürlich recht gehabt, als er die Agrarfrage mit dem Problem der Machtübernahme verband. Aber Lenin hatte die Natur dieses Zusammenhanges ebenfalls erfaßt, und noch tiefer als Plechanow. Um die Verstaatlichung möglich zu machen, hatte die Revolution die, wie er es formulierte, »demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft«, zu errichten, die er scharf von der sozialistischen Diktatur des Proletariats unterschied. Im Gegensatz zu Plechanow glaubte Lenin, daß die Agrarrevolution nicht von den Liberalen, sondern von plebejischen Fäusten durchgeführt werden würde, oder sie würde überhaupt nicht durchgeführt werden. Immerhin blieb die Natur der »demokratischen Diktatur«, für die er eintrat, verschwommen und widerspruchsvoll. Erlangten die Kleineigentümer eine vorherrschende Stellung in der Revolutionsregierung – was an sich in einer bürgerlichen Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts unwahrscheinlich ist – dann würde diese Regierung Gefahr laufen, zum Werkzeug der Reaktion zu werden. Nimmt man aber an, daß die Regierungsgewalt im Verlauf der Agrarrevolution an das Proletariat fällt, dann wird die Grenze zwischen demokratischer und sozialistischer Revolution verwischt, die eine geht dann ganz natürlicherweise in die andere über: die Revolution wird »permanent«. Für dieses Argument hatte Lenin noch keine Antwort bereit. Unnötig zu sagen, daß Koba in seiner Eigenschaft als »Praktiker« und »Aufteiler« auf die Perspektive der permanenten Revolution mit souveräner Verachtung herabsah.
Die bäuerlichen Revolutionskomitees waren die Instrumente, mit deren Hilfe der Grund und Boden in Besitz genommen wurde; Iwanowitsch verteidigte sie gegen die Menschewiki: »Wenn die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, dann kann die Befreiung der Bauernschaft nur das Werk der Bauernschaft selbst sein!« Eine symmetrische Formel, die eine Parodie auf den Marxismus ist. Die historische Mission des Proletariats rührt ja gerade in hohem Maße aus der Unfähigkeit des Kleinbürgertums her, sich selbst zu befreien. Eine bäuerliche Revolution ist sicherlich unmöglich ohne die aktive Teilnahme der Bauern selbst in Form von bewaffneten Haufen, Ortskomitees und so weiter. Doch das Schicksal der bäuerlichen Revolution entscheidet sich in der Stadt und nicht auf dem Lande. Amorphes Überbleibsel des Mittelalters, ist die Bauernschaft nicht zu einer selbständigen Politik fähig und bedarf eines außenstehenden Führers. Zwei neue Klassen erheben diesen Führungsanspruch. Folgt die Bauernschaft der liberalen Bourgeoisie, so wird die Revolution auf halbem Wege steckenbleiben, um dann später wieder zurückzurollen. Findet sie ihren Führer im Proletariat, dann muß die Revolution ganz unvermeidlich den bürgerlichen Rahmen sprengen. Gerade auf diesem besonderen Verhältnis zwischen den Klassen in einer historisch verspäteten bürgerlichen Gesellschaft beruhte die Perspektive der permanenten Revolution.
Diese Perspektive, um deren theoretische Fundierung ich mich zu jener Zeit in einer Zelle des Petersburger Gefängnisses abermals bemühte, wurde auf der Stockholmer Tagung von niemandem vertreten. Der Aufstand war niedergeschlagen, die Revolution auf dem Rückzuge. Die Menschewiki schielten nach einem Block mit den Liberalen. Die Bolschewiki waren in der Minderheit und überdies gespalten. Die Perspektive der permanenten Revolution schien in Mißkredit geraten zu sein. Elf Jahre lang sollte sie auf ihre Revanche warten müssen. Mit zweiundsechzig gegen zweiundvierzig Stimmen und sieben Stimmenthaltungen nahm der Kongreß das menschewistische Kommunalisierungsprogramm an, was im weiteren Verlauf der Ereignisse aber keine Rolle spielen sollte: bei den Bauern stieß es auf taube Ohren, die Liberalen lehnten es ab. 1917 stimmten die Bauern der Verstaatlichung des Bodens ebenso zu, wie sie die Sowjetregierung und die bolschewistische Führung akzeptierten.
Zwei weitere Diskussionsreden Iwanowitschs auf dem Kongreß waren lediglich verkürzte Wiederholungen von Reden und Artikeln Lenins. In bezug auf die allgemeine politische Situation warf Iwanowitsch den Menschewiki mit Recht vor, die Bewegung der Massen zu hemmen, indem sie diese dem politischen Kurs der liberalen Bourgeoisie anzupassen suchten. »Entweder die Hegemonie des Proletariats« – er wiederholte die allgemein übliche Formel –, »oder die Hegemonie der demokratischen Bourgeoisie: so stellt sich die Frage vor der Partei. Und darin bestehen unsere Meinungsverschiedenheiten.« Doch war der Redner weit entfernt davon, alle historischen Konsequenzen aus dieser Alternative zu erfassen. Die »Hegemonie des Proletariats« bedeutet die politische Vorherrschaft des Proletariats über alle revolutionären Kräfte im Lande, vor allem über die Bauernschaft. Im Falle eines vollständigen Sieges der Revolution muß die »Hegemonie« natürlicherweise zur Diktatur des Proletariats führen, mit allen darin liegenden Konsequenzen. Iwanowitsch aber hielt noch eisern daran fest, daß die russische Revolution nur den Weg für ein bürgerliches Regime freilegen könne. In einigermaßen unverständlicher Weise verband er die Idee der proletarischen Hegemonie mit der Vorstellung einer unabhängigen Politik der Bauernschaft, die sich durch Aufteilung des Bodens in kleine Parzellen selber befreien würde.
Dieser sogenannte »Einigungsparteitag« brachte in der Tat die Vereinigung nicht nur der beiden Hauptfraktionen der Partei, sondern auch den Anschluß der national organisierten polnischen und lettischen Sozialdemokratie und des jüdischen »Bund«. Doch lag seine wahre Bedeutung eher darin, daß er, wie Lenin es ausdrückte, »dazu beitrug, die Scheidung der Sozialdemokratie in einen rechten und einen linken Flügel klarer zu machen«. Wenn die Spaltung auf dem Zweiten Parteitag nur erst eine »Vorwegnahme« bedeutet hatte und sie in der Folge noch einmal überwunden werden sollte, so wurde die »Vereinigung« auf dem Stockholmer Kongreß ein Markstein auf dem Wege zum endgültigen und definitiven Bruch, der sechs Jahre später erfolgte. Auf dem Kongreß selbst war Lenin allerdings noch weit davon entfernt, die Spaltung für unvermeidlich zu halten. Die Erinnerung an die turbulenten Monate des Jahres 1905, in denen die Menschewiki eine scharfe Linkswendung gemacht hatten, war noch gar zu frisch. Trotzdem sie bald, wie die Krupskaja schreibt, »ihr wahres Gesicht zeigten«, hoffte Lenin weiter, sagt sie, »daß ein neuer Aufschwung der Revolution, an dem er nicht zweifelte, die Menschewiki mitreißen und sie wieder auf die bolschewistische Linie führen würde«. Doch blieb der neue Aufschwung aus.
Unmittelbar nach dem Kongreß richtete Lenin einen Aufruf an die Partei, in dem er eine zurückhaltende, aber unzweideutige Kritik an den auf dem Kongreß angenommenen Resolutionen übte. Der Aufruf war von Delegierten »der ehemaligen Fraktion der Bolschewiki« unterzeichnet – auf dem Papier galten die Fraktionen als aufgelöst. Beachtenswert ist, daß von zweiundvierzig auf dem Kongreß anwesenden Delegierten nur sechsundzwanzig dieses Dokument unterzeichneten. Weder Iwanowitsch noch Suworow, der Führer seiner Gruppe, haben es unterschrieben. Die Anhänger der Bodenaufteilung hielten die Meinungsverschiedenheit offensichtlich für so bedeutend, daß sie vermieden, zusammen mit der Leninschen Gruppe vor die Partei zu treten, obgleich der Abschnitt über die Agrarfrage in dem Aufruf sehr vorsichtig formuliert war. In den heutigen parteioffiziellen Veröffentlichungen sucht man vergeblich nach Kommentaren über diese Angelegenheit. Lenin jedenfalls erwähnt in einem Bericht über den Stockholmer Kongreß, der gedruckt erschienen ist, in dem die Diskussionen im einzelnen wiedergegeben und die hauptsächlichsten Redner, Bolschewiki sowohl wie Menschewiki, aufgeführt werden, nicht ein einziges Mal die Debattenreden von Iwanowitsch: offensichtlich erscheinen sie ihm als für die Diskussion nicht so wesentlich, wie man sie dreißig Jahre später hinzustellen versucht hat. Die Stellung Stalins innerhalb der Partei hatte sich, wenigstens nach außen hin, nicht verändert. Niemand schlug ihn für das Zentralkomitee vor, das sich aus sieben Menschewiki und drei Bolschewiki zusammensetzte: Krassin, Rykow und Desnitzky. Nach Stockholm wie vor Stockholm blieb Koba ein Parteiarbeiter von »kaukasischem« Kaliber.
In den beiden letzten Monaten des Revolutionsjahres hatte der Kaukasus einem siedenden Kessel geglichen. Im Dezember leitete das Streikkomitee, nachdem es die Verwaltung der transkaukasischen Eisenbahn und des Telegraphennetzes in die Hand genommen hatte, praktisch das ganze Transportwesen und Wirtschaftsleben von Tiflis. Die Vororte der Stadt waren von bewaffneten Arbeitern besetzt. Nicht für lange allerdings, die Militärbehörden gewannen rasch die Oberhand. Über das Gouvernement Tiflis wurde der Belagerungszustand verhängt. In Kutaïs, Zithory und anderwärts kam es zu Kämpfen. In Westgeorgien loderte der Bauernaufstand auf. Am 10. Dezember schrieb Schirinkin, der Polizeichef des Kaukasus, an seinen Petersburger Vorgesetzten: »Im Gouvernement von Kutaïs herrscht eine besondere Lage ... die Ortspolizei ist entwaffnet worden, die Aufständischen haben sich des westlichen Eisenbahnabschnitts bemächtigt, sie verkaufen selber die Billetts und halten die öffentliche Ordnung aufrecht ... Ich bekomme keine Rapporte aus Kutaïs; die Gendarmen sind von dieser Linie zurückgezogen und in Tiflis konzentriert worden. Kuriere werden von den Revolutionären angehalten, und die Rapporte, die sie bei sich tragen, werden ihnen abgenommen; die Lage ist unmöglich ... Der Generalgouverneur ist krank vor nervöser Erschöpfung ... Weitere Einzelheiten werde ich durch die Post senden, oder, wenn das nicht möglich sein sollte, durch Kurier ...«
All diese Ereignisse kamen nicht von ungefähr. Sie gingen vor allem aus der gemeinschaftlichen Initiative der Massen hervor, sie bedurften ferner für jeden neuen Schritt leitender und organisierender Individuen. Zu diesen letzteren gehörte Koba nicht. Er nahm sich Zeit und widmete schon überholten Ereignissen seine Kommentare. Das allein hatte ihm erlaubt, in den Tagen der hitzigsten Auseinandersetzungen nach Tammerfors zu gehen. Niemand bemerkte seine Abwesenheit, niemand nahm von seiner Rückkunft Notiz.
Mit der Niederschlagung des Moskauer Aufstandes setzte eine Wendung ein. Die Petersburger Arbeiter, durch voraufgegangene Kämpfe und Aussperrungen erschöpft, blieben während dieser Zeit passiv. Es folgte die Unterdrückung der Rebellion in Transkaukasien, in den baltischen Ländern und in Sibirien. Die Reaktion kam wieder zu sich. Das zuzugeben waren die Bolschewiki um so weniger geneigt, als noch immer verspätete Flutwellen gegen die allumfassende Ebbe anrannten. Alle revolutionären Parteien glaubten felsenfest, daß die große Woge kommen würde. Als einige der skeptischeren Anhänger Lenins ihn darauf aufmerksam machten, daß der Rückzug vielleicht schon in vollem Gange sei, antwortete er: »Ich werde der Letzte sein, der das zugibt!« Am deutlichsten konnte man den Pulsschlag der russischen Revolution an den Streiks, dieser Grundvoraussetzung für die Mobilisierung der Massen, ablesen. Das Jahr 1905 sah zweieinhalb Millionen Streikende, 1906 nahezu eine Million; an und für sich gewaltig, drücken diese Zahlen doch ein brüskes Nachlassen aus.
Kobas Erklärung nach hatte das Proletariat eine vorübergehende Niederlage erlitten, »hauptsächlich, weil es keine oder nicht genügend Waffen hatte; wie klassenbewußt man auch ist, man kann nicht mit bloßen Händen gegen Kugeln ankämpfen«. Das heißt das Problem gar sehr versimpeln. Sicherlich ist es kaum möglich, mit leeren Händen gegen Kugeln »anzukämpfen«, aber es gab tiefere Gründe für die Niederlage. Die bäuerlichen Massen hatten sich nicht in ihrer Gesamtheit erhoben, und im Zentrum des Landes weniger als in den Randgebieten. Die Armee war nur teilweise von der Rebellion erfaßt worden. Das Proletariat war sich seiner eigenen Kraft noch ebensowenig bewußt wie der Stärke seines Gegners. Das Jahr 1905 – hier liegt seine überragende Bedeutung – ging als die »Generalprobe« in die Geschichte ein. Diese Charakterisierung konnte Lenin aber erst nach vollendeter Tatsache geben. 1906 rechnete er mit einer raschen Entscheidung. Im Januar 1906 schrieb Koba, wie immer Lenin wiederholend und wie üblich in allzu vereinfachender Weise: »Wir müssen ein für allemal alles Zögern sein lassen, alle Unentschlossenheit beiseite lassen, wir müssen unwiderruflich wieder zur Offensive übergehen. Eine geeinte Partei, ein von der Partei organisierter bewaffneter Aufstand und eine Politik des Angriffs, das ist es, was von uns für den Sieg des Aufstandes verlangt wird.« Selbst die Menschewiki wagten noch nicht laut auszusprechen, daß die Revolution zu Ende sei. Ohne Widerspruch fürchten zu müssen, konnte Iwanowitsch auf dem Stockholmer Parteitag erklären: »Und so stehen wir also an der Schwelle eines neuen Ausbruchs ... darüber sind wir uns alle einig.« In Wirklichkeit gehörte der »Ausbruch« zu dieser Zeit schon der Vergangenheit an. Die »Politik des Angriffs« äußerte sich allmählich nur noch in Überfällen und Einzelaktionen. Eine Welle der »Expropriationen« schwemmte über das Land, der bewaffneten Überfälle auf Banken, Sparkassen und andere Gelddepots.
Mit dem Abbröckeln der Revolution ging die Initiative für den Angriff wieder auf die Regierung über, deren Nerven sich wieder beruhigten. Im Herbst und im Winter waren die revolutionären Parteien aus der Illegalität herausgetreten, und das Turnier war mit offenem Visier weiter ausgefochten worden. Auf diese Weise hatte die zaristische Polizei den Gegner kennengelernt, den ganzen und vor allem auch den einzelnen. Mit der Verhaftung der Petersburger Sowjets am 3. Dezember 1905 setzte der Terror ein. Alle, die irgendwie hervorgetreten waren, wurden, soweit sie sich nicht verbergen konnten, einer nach dem anderen verhaftet. Mit dem Siege Admiral Dubassows über die Moskauer Arbeitermiliz nahm die mit der üblichen Grausamkeit vor sich gehende Unterdrückung einen besonders schändlichen Charakter an. In der Zeit zwischen Januar 1905 und der Einberufung der ersten Duma am 27. April (10. Mai nach der neuen Zeitrechnung) 1906 hat die zaristische Regierung nach vorsichtigen Schätzungen über vierzehntausend Menschen töten lassen. Hingerichtet wurden über tausend Menschen, zwanzigtausend wurden verwundet und über siebzigtausend wurden verhaftet, gefangengehalten und verbannt. Die meisten Opfer fielen im Dezember 1905 und in den ersten Monaten von 1906. Koba bot sich nicht als »Zielscheibe« dar. Er wurde weder verwundet, noch verbannt, noch verhaftet. Er brauchte sich nicht einmal zu verstecken, sondern konnte nach wie vor in Tiflis bleiben. So etwas kann nicht durch persönliche Geschicklichkeit oder einen glücklichen Zufall erklärt werden. Die Reise nach Tammerfors konnte man im geheimen bewerkstelligen, die Massenbewegung von 1905 konnte man nicht heimlich leiten. Einen aktiven Revolutionär konnte in dem kleinen Tiflis auch ein »glücklicher Zufall« nicht schützen. Tatsache ist, daß Koba derart fern von den großen Ereignissen geblieben war, daß die Polizei sich nicht mit ihm zu beschäftigen brauchte. Mitte 1906 vegetierte er immer noch auf der Redaktion der legalen bolschewistischen Zeitung dahin.
Lenin hielt sich damals in Kuokalla in Finnland verborgen und war in ständiger Verbindung mit Petersburg und dem ganzen Land. Auch die übrigen Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees befanden sich am gleichen Ort, um von dort aus die zerrissenen Fäden der illegalen Organisation wieder anzuknüpfen. »Aus allen Ecken und Enden Rußlands«, schreibt die Krupskaja, »kamen die Genossen, mit denen die Arbeit besprochen wurde.« Sie führt eine Reihe von Namen auf, darunter den Swerdlows, der im Ural »außerordentlichen Einfluß besaß«, sie erwähnt Woroschilow und andere. Dem ominösen Drängen der offiziellen Kritik zum Trotz, dem sie ausgesetzt war, als sie ihr Buch schrieb, sagt sie über Stalin in dieser Periode nichts. Und dies durchaus nicht etwa, weil sie seinen Namen absichtlich vermeiden will. Im Gegenteil, wo immer es die Tatsachen erlauben, bemüht sie sich, ihn in den Vordergrund zu stellen. Sie konnte ganz einfach in ihrer Erinnerung an jene Zeit keine Spur von ihm finden.
Die erste Duma wurde am 8. Juli 1906 aufgelöst. Der Proteststreik, zu dem die Parteien der Linken aufgerufen hatten, kam nicht zustande: die Arbeiter hatten zu verstehen gelernt, daß der Streik allein nicht genügte und daß sie zu schwach waren, um mehr zu tun. Der Versuch der Revolutionäre, die Aushebung der Rekruten zu verhindern, schlug kläglich fehl. Die Meuterei auf der Festung Sveaborg, an der die Bolschewiki teilnahmen, erwies sich als ein isoliertes Aufflackern und wurde bald niedergeschlagen. Die Reaktion gewann an Kraft. Die Partei ging tiefer und tiefer in den Untergrund. »Faktisch leitete Iljitsch von Kuokalla aus die ganze Tätigkeit der Bolschewiki«, schreibt die Krupskaja. Wieder folgen eine Anzahl Namen und Einzelheiten, wieder wird Stalin nicht genannt. Er wird ferner nicht erwähnt anläßlich der Novembertagung der Partei in Terioki, auf der über die Frage der Wahlbeteiligung an der zweiten Duma entschieden wurde. Koba kommt nicht nach Kuokalla. Von der angeblichen Korrespondenz zwischen ihm und Lenin im Jahre 1906 ist keine Spur zu entdecken. Obwohl sich beide in Tammerfors kennengelernt hatten, war eine persönliche Beziehung nicht zustande gekommen, noch hatte sie die zweite Begegnung in Stockholm einander näher gebracht. Die Krupskaja spricht von einem Spaziergang in der schwedischen Hauptstadt, an dem Lenin, Rykow, Strojew, Alexinsky und andere teilnahmen, Stalin nennt sie nicht. Es kann auch sein, daß die erst kürzlich zustande gekommene Bekanntschaft durch die Meinungsverschiedenheit in der Agrarfrage getrübt worden ist: Iwanowitsch hatte den Aufruf an die Partei nicht unterzeichnet, also erwähnte Lenin Iwanowitsch in seinem Kongreßbericht nicht.
Entsprechend den Beschlüssen von Tammerfors und Stockholm schlossen sich die kaukasischen Bolschewiki den Menschewiki an. Koba wurde nicht Mitglied des Vereinigten Bezirkskomitees. Er wurde jedoch, wenn man Beria glauben kann, Mitglied des bolschewistischen kaukasischen Büros, das 1906 neben dem offiziellen Parteikomitee insgeheim weiter existierte. Tatsachen über die Arbeit dieses Komitees und die Rolle, die Koba darin gespielt hat, liegen aber nicht vor. Eins ist sicher: die Ansichten des »Komiteetschiks« über Organisationsfragen hatten sich seit der Tiflis-Batumer Periode wenn auch nicht in ihrem Wesen, so doch ihrer Ausdrucksform nach geändert; die Arbeiter aufzufordern, sie müßten anerkennen, daß sie zum Eintritt in das Komitee nicht geeignet seien, das hätte Koba nun nicht länger gewagt. Sowjets und Gewerkschaften stellten nun revolutionäre Arbeiter in den Vordergrund, die sich gewöhnlich besser zur Führung der Massen geeignet zeigten als die Mehrzahl der illegalen Intellektuellen. Wie Lenin vorausgesagt hatte, sahen sich die »Komiteetschiks« gezwungen, ihre Ansichten oder jedenfalls ihre Argumente schnellstens zu revidieren. Koba verteidigte jetzt in den Zeitungen die Notwendigkeit der inneren Parteidemokratie, mehr noch, einer Demokratie, in der »die Masse selbst über die Fragen entscheidet und selbst handelt«. Bloße Wahldemokratie genügt jedoch nicht: »Napoleon der Dritte wurde mit dem allgemeinen Stimmrecht gewählt. Doch wer wüßte nicht, daß er später einer der größten Volksbedrücker geworden ist?« Hätte Besoschwili (Kobas damaliges Pseudonym) in seine eigene Zukunft blicken können, würde er sich wohl gehütet haben, auf die bonapartistischen Plebiszite anzuspielen. Doch hat er manches nicht vorausgesehen. Er besaß die Gabe der Vorausschau nur auf kurze Distanz. Das aber war nicht nur seine Schwäche, sondern, wie wir sehen werden, auch seine Stärke, zumindest für eine gewisse Zeit.
Die Niederlagen des Proletariats zwangen den Marxismus auf die Verteidigungsstellung zurück. Gegner und Feinde, die in den stürmischen Monaten geschwiegen hatten, hoben jetzt das Haupt. Materialismus und Dialektik wurden von der Linken wie von der Rechten für die Sünden der Reaktion verantwortlich gemacht. Auf der Rechten von Liberalen, Demokraten, Volkstümlern, auf der Linken von den Anarchisten. Der Anarchismus hatte in der Bewegung von 1905 keine Rolle gespielt. Im Petersburger Sowjet hatte es nur drei Fraktionen gegeben: Menschewiki, Bolschewiki, Sozialrevolutionäre. In der allgemeinen Enttäuschung nach der Auflösung der Sowjets fanden die Anarchisten größere Resonanz. Die Ebbe-Stimmung erfaßte auch den Kaukasus, wo der Anarchismus auf bessere Vorbedingungen stieß als irgendwo sonst im Lande. Kobas Anteil an der Verteidigung der angegriffenen marxistischen Positionen besteht in einer in seiner georgischen Muttersprache geschriebenen Artikelserie über das Thema »Anarchismus und Sozialismus«. Diese Artikel, die des Verfassers guten Willen bezeugen, lassen sich schlecht zusammenfassen, weil sie selbst schon eine Zusammenfassung der Arbeiten anderer sind. Es ist auch schwierig, etwas daraus zu zitieren; sie sind alle von derselben grauen Farbe, was die Auswahl einer persönlicher gehaltenen Formulierung unmöglich macht. Es genügt zu wissen, daß dieses Werk nie wieder herausgegeben worden ist.
Rechts von denjenigen georgischen Menschewiki, die sich weiterhin als Marxisten betrachteten, kam die Föderalistische Partei auf, eine georgische Parodie teils auf die Sozialrevolutionäre, teils auf die »Kadetten«. Besoschwili warf dieser Partei mit Recht ihre furchtsamen Manöver und Kompromisse vor, doch bediente er sich dabei recht gewagter Redewendungen. »Wie bekannt«, so schreibt er, »hat jedes Tier seine eigene Farbe. Nur das Chamäleon ist damit nicht zufrieden. Vor dem Löwen nimmt es die Farbe des Löwen an, vor dem Wolf die des Wolfs, vor der Kröte die der Kröte; es nimmt die Farbe an, die ihm am vorteilhaftesten erscheint ...« Der Zoologe wird gegen diese Verleumdung des Chamäleons protestieren. Doch da unser bolschewistischer Kritiker im Grunde recht hat, wollen wir für diesen Stil eines Menschen, der eigentlich Dorfpope werden sollte, Nachsicht üben.
Das ist alles, was über die Tätigkeit Koba-Iwanowitsch-Besoschwilis während der ersten Revolution zu sagen ist. Es ist nicht viel, selbst rein der Quantität nach. Indessen hat der Verfasser größte Mühe aufgewendet, nichts zu vergessen, was der Erwähnung wert gewesen wäre. Der wunde Punkt ist eben, daß Kobas Intellekt der Einbildungskraft ermangelt und nicht sehr schöpferisch ist. Außerdem, trotz der später geschaffenen Legende, verhält es sich so, daß dieser starrköpfige, gallige und anmaßende Charakter alles andere als arbeitsam ist. Geistige Arbeit als Gewohnheit ist ihm fremd. Alle, die ihn später aus der Nähe kennenlernten, wußten, daß er die Arbeit scheute. »Koba ist ein Faultier«, haben, mit halb verächtlichem Lächeln, Bucharin, Krestinsky, Serebriakow und andere später oft gesagt. Auch Lenin hat auf diesen ganz persönlichen Zug manchmal vorsichtige Anspielungen gemacht. Diese Neigung zu brütendem Nichtstun ließ einerseits seine orientalische Abstammung erkennen, andererseits seinen unbefriedigten Ehrgeiz. Es bedurfte jedesmal eines zwingenden und direkten Anstoßes, um Koba zu veranlassen, eine längere systematische Arbeit aufzunehmen. Die Revolution, die ihn links liegen ließ, war ein solches Stimulans nicht. Daher erscheint das, was er zur Revolution beigetragen hat, als so lächerlich geringfügig im Vergleich zu dem, was die Revolution für sein persönliches Glück bedeutet hat.