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Achtes Kapitel.
Der Volkskommissar


(Die Bolschewiki hatten ihre Hauptaufgabe, die bewaffneten Kräfte des Landes für sich zu gewinnen, so gründlich verwirklicht, daß sie den Endsieg am 7. November praktisch kampflos davontrugen. Der Oktoberaufstand war, um mit Lenin zu sprechen, »leichter als eine Feder aufzuheben«. Der demokratische Westen, der ins vierte Kriegsjahr eintrat, weigerte sich zu glauben, was eine vollendete Tatsache war, und Kerensky erklärte der erstaunten Welt, daß der Bolschewismus »als organisierte Kraft ... nicht mehr existiere, selbst nicht in Petrograd«.)

Unmittelbar nach dem Aufstand wurden auf Betreiben des rechten bolschewistischen Flügels hin – Sinowjew, Kamenew, Rykow, Lunatscharsky und andere – mit den Menschewiki und den Volkstümlern Verhandlungen zur Bildung einer Koalitionsregierung aufgenommen. Zu den Bedingungen, die die von der Erhebung gestürzten Parteien stellten, gehörte die Forderung nach einer Mehrheit für sie selbst und, vor allem und über allem die, daß Lenin und Trotzky als die Verantwortlichen für das Oktober-»Abenteuer« aus der Regierung ausscheiden sollten. Der rechte Flügel des Zentralkomitees neigte dazu, diese Forderung anzunehmen. Die Frage wurde auf der Sitzung des Zentralkomitees vom I. (14.) November diskutiert, Folgendes steht im Protokoll: »Vorschlag, daß Lenin und Trotzky ausscheiden sollen. Dieser Vorschlag würde unsere Partei köpfen, und wir akzeptieren ihn nicht.« Die Haltung der Rechten, die tatsächlich eine Preisgabe der Macht darstellte, wurde vom Zentralkomitee als »Angst der Sowjetmehrheit, ihre eigene Mehrheit auszunützen« verurteilt. Die Bolschewiki weigerten sich nicht, die Macht mit anderen Parteien zu teilen, wollten aber die Teilung nur auf der Basis des Kräfteverhältnisses in den Sowjets.

Der von mir gestellte Antrag, die Verhandlungen mit den Versöhnlern abzubrechen, wurde angenommen. Stalin nahm an der Diskussion nicht teil, stimmte jedoch mit der Mehrheit. Als Protest gegen diesen Beschluß traten die Vertreter des rechten Flügels aus dem Zentralkomitee und aus der Regierung aus. Die Mehrheit des Zentralkomitees forderte die Minderheit auf, sich der Parteidisziplin bedingungslos zu unterwerfen. Dies Ultimatum trug die Unterschrift von zehn Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees: Lenin, Trotzky, Stalin, Swerdlow usw. Über den Ursprung dieses Dokumentes erklärt eins der Mitglieder des Zentralkomitees, Bubnow: »Nachdem er (Lenin) es geschrieben hatte, rief er jedes Mitglied des Zentralkomitees einzeln in sein Arbeitszimmer, legte ihm den Text vor und bat um Unterschrift.« Diese Geschichte ist insofern interessant, als sie uns erlaubt, die Bedeutung der Reihenfolge der Unterschriften korrekt einzuschätzen. Zuerst legte Lenin mir den Text vor und dann, nachdem er meine Unterschrift erhalten hatte, rief er, mit Stalin angefangen, die anderen. So war es immer oder fast immer. Hätte es sich nicht um ein gegen Sinowjew und Kamenew gerichtetes Dokument gehandelt, wäre ihre Unterschrift wahrscheinlich vor der Stalins zu stehen gekommen.

Pestkowsky sagt, daß es in den Oktobertagen »notwendig war, unter den Mitgliedern des Zentralkomitees diejenigen auszuwählen, die den Aufstand leiteten. Dazu wurden Lenin, Stalin und Trotzky bestimmt«. Bemerken wir nebenbei, daß Stalins Mitarbeiter, indem er diesen drei Männern die Leitung zuschreibt, die praktische »Zentrale«, der weder Lenin noch ich angehörten, endgültig beerdigt. In Pestkowskys Zeugnis liegt ein Körnchen Wahrheit. Nicht in den Tagen des Aufstands, wohl aber nach dem Siege in den bedeutendsten Zentren, jedoch noch vor der Errichtung irgendeines festen Regimes, war es notwendig, einen festgefügten leitenden Stab der Partei zu schaffen, der imstande war, für die örtliche Durchführung aller wichtigen Entschlüsse zu sorgen. Wie es im Protokoll heißt, wählte das Zentralkomitee am 29. November (12. Dezember) 1917 zur Regelung dringender Fragen ein Büro von vier Mitgliedern: »Stalin, Lenin, Trotzky und Swerdlow.« »Dieses Büro hat das Recht, in allen außerordentlichen Angelegenheiten eine Entscheidung zu treffen, aber unter der Bedingung, alle jeweils im Smolny anwesenden übrigen Mitglieder des Zentralkomitees zur Entscheidung heranzuziehen.« Sinowjew, Kamenew und Rykow waren wegen der tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten, die sie mit der Mehrheit hatten, aus dem Zentralkomitee ausgeschieden; das erklärt die Zusammensetzung des Büros. Swerdlow indes war absorbiert von seiner Tätigkeit im Parteisekretariat, als Versammlungsredner, als Schiedsrichter bei Konflikten, und war selten im Smolny. Das »Viererkomitee« setzte sich praktisch aus drei Männern zusammen.

(In der Nacht vom 19. zum 20. Februar 1918 wählte die bolschewistisch-sozialrevolutionäre Koalition des Rates der Volkskommissare) ein Exekutivkomitee, das sich aus Lenin, Trotzky, Stalin, Profian und Karelin (zusammensetzte) und dessen Aufgabe es war, alle laufenden Arbeiten zwischen den Sitzungen des Rates zu erledigen. (Das Exekutivkomitee der Regierung bestand aus drei Bolschewiki und zwei Sozialrevolutionären. Es wäre aber ein Irrtum anzunehmen, die drei Bolschewiki hätten) ein »Triumvirat« dargestellt. Das Zentralkomitee trat häufig zusammen und entschied über alle wichtigen und besonders alle umstrittenen Fragen. Das »Trio« war notwendig für die praktischen Entscheidungen, die von Stunde zu Stunde getroffen werden mußten – im Zusammenhang mit der Entwicklung des Aufstands in den Provinzen, mit den Versuchen Kerenskys, Petrograd zu erreichen, mit der Versorgung der Hauptstadt mit Lebensmitteln, usw. Es existierte zumindest dem Namen nach bis zur Übersiedlung der Regierung nach Moskau.

Gelegentlich seiner Ausfälle gegen die Politik der Bolschewiki nach 1917 schreibt Iremaschwili: »Das von unstillbarem Rachegeist erfüllte Triumvirat begann, mit unmenschlicher Grausamkeit alles Lebendige und Tote auszurotten« usw. im selben Ton. In das »Triumvirat« schließt Iremaschwili Lenin, Trotzky und Stalin ein. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß diese Idee vom Triumvirat Iremaschwili erst viel später in den Kopf kam, nachdem Stalin eine so hervorragende Bedeutung erlangt hatte. Es liegt aber in seinen Worten ein Teil Wahrheit oder zumindest ein Schein von Wahrheit.

Im Zusammenhang mit den Unterhandlungen von Brest-Litowsk wird Lenins Satz: »Ich werde Stalin konsultieren und Ihnen dann antworten« ständig wiederholt. Tatsache ist, daß ein solches Dreierkomitee zu gewissen Momenten wirklich existierte, wenn auch nicht immer mit Beteiligung Stalins. Auch Dimitrijewsky spricht von diesem Dreierkomitee, obschon in einer etwas anderen Tonart: »Lenin brauchte zu jener Zeit Stalin so notwendig, daß er, wenn Mitteilungen von dem damals in Brest befindlichen Trotzky eintrafen und wichtige Beschlüsse zu fassen waren, Stalin aber nicht in Moskau war, an Trotzky telegrafierte: ›Ich möchte erst Stalin konsultieren, bevor ich Ihnen auf Ihre Fragen antworte.‹ Und erst drei Tage später telegraphierte Lenin: ›Stalin ist angekommen. Ich werde die Frage mit ihm durchsprechen, und wir werden Ihnen alsbald unsere gemeinsame Antwort zukommen lassen.‹«

Die wichtigsten Entscheidungen wurden in jener Periode häufig von Lenin mit meiner Zustimmung getroffen. Wenn aber eine Übereinstimmung nicht zu erzielen war, war ein Dritter nötig. Sinowjew war in Petrograd. Kamenew war nicht immer in Moskau, weil er, wie auch andere Mitglieder des Politischen Büros des Zentralkomitees, einen großen Teil seiner Zeit für die Agitation aufwandte. Stalin hatte mehr freie Zeit als alle anderen Mitglieder des Politischen Büros, deshalb spielte er vor seiner Abreise nach Zaritzyn gewöhnlich die Rolle des »Dritten«. Lenin hielt sehr auf Form und wollte natürlich nicht nur in seinem eigenen Namen antworten. Die zahlreichen Bemerkungen im neueren Schrifttum über die Art, in der Lenin lenkte, kommandierte usw. laufen im allgemeinen auf eine Analogie mit dem stalinistischen Regime hinaus. In Wirklichkeit hat ein solcher Zustand überhaupt nicht bestanden. Direktiven wurden gegeben und Befehle wurden erteilt, aber nur vom Politischen Büro, und wenn dessen Mitglieder nicht alle anwesend waren, vom Dreierkomitee, das das Quorum darstellte. Wenn Stalin nicht zugegen war, besprach sich Lenin mit Krestinsky, dem Sekretär des Zentralkomitees, mit derselben Gewissenhaftigkeit –, auf solche Konsultationen sind in den Parteiarchiven häufige Hinweise zu finden.

Man sprach jedoch in jener Zeit weitaus mehr von einem »Duumvirat«. »Unseren beiden« widmete der preisgekrönte Sowjetpoet Demjan Bjedny während des Bürgerkrieges einige seiner von den Zeitungen veröffentlichten Gedichte. Niemand sprach damals von einem Triumvirat. Auf alle Fälle würde jemand, der diesen Terminus angewendet hätte, nicht Stalin als Dritten genannt haben, sondern Swerdlow, der der sehr volkstümliche Vorsitzende des Zentralen Exekutivkomitees des Sowjets war und als solcher die wichtigsten Beschlüsse unterzeichnete. Ich entsinne mich, ihn einige Male auf die ungenügende Autorität mancher unserer Direktiven in der Provinz hingewiesen zu haben. Bei einer solchen Unterhaltung antwortete er mir: »In der Provinz akzeptieren sie nur drei Unterschriften: die Iljitschs, Ihre, und bis zu einem gewissen Grade auch die meinige.« (Swerdlow verfügte über eine unerhörte Arbeitskraft.) »Niemand war imstande, allein die politische und organisatorische Arbeit so zusammenzufassen, wie Swerdlow das konnte«, sagte Lenin auf dem Parteitag von 1920, »und bei dem Versuch, ihn zu ersetzen, mußten wir ein ganzes Kollegium schaffen.«

Als ich Anfang Mai in Petrograd ankam, konnte ich mich kaum an Stalins Namen erinnern. Ich sah ihn wahrscheinlich in den Zeitungen, unter Artikeln, die meine Aufmerksamkeit kaum in Anspruch nahmen. Die ersten Begegnungen hatte ich mit Kamenew, Lenin und Sinowjew. Zusammen unterhandelten wir über die Fusion. Stalin begegnete ich weder auf den Sitzungen des Sowjets, noch auf denen des Zentralen Exekutivkomitees, noch auf den zahlreichen Versammlungen, die einen beträchtlichen Teil meiner Zeit in Anspruch nahmen. Von meiner Ankunft an stand ich infolge meiner Tätigkeit im Zentralen Exekutivkomitee mit allen führenden Leuten in Verbindung, niemals aber habe ich Stalin bemerkt, selbst nicht unter den zweitrangigen Mitgliedern des Zentralkomitees, wie Bubnow, Miljutin und Nogin. (Auch nach der Fusion der »Interdistriktler« mit den Bolschewiki blieb Stalin immer eine obskure Figur.) Nach den Protokollen des Zentralkomitees der Partei »vertraten Trotzky und Kamenew die Bolschewiki im Büro des Vorparlaments«. (Als der Augenblick gekommen war, die Kandidaten für die Konstituierende Versammlung zu bestimmen, wurde Stalin aufgetragen, sie aufzustellen. Dem Protokoll nach sagte Stalin:) »Genossen, als Kandidaten für die Konstituierende Versammlung schlage ich vor die Genossen Lenin, Sinowjew, Kollontai, Trotzky und Lunatscharsky.« Das waren die fünf von der ganzen Partei aufgestellten Kandidaten. Erinnern wir daran, daß ich (der offiziellen Geschichtsschreibung nach) kaum vierzehn Tage vorher das Erscheinen Lenins vor Gericht verlangt hatte.

In der vollständigen Liste der bolschewistischen Delegierten für die Konstituante, mit Lenin an der Spitze, nimmt Stalin den achten Platz ein. Die fünfundzwanzig aufgestellten Bolschewiki waren die offiziellen Kandidaten des Zentralkomitees. Die Liste war von einer Kommission unter Leitung von drei Mitgliedern des Zentralkomitees vorbereitet worden: Uritzky, Sokolnikow und Stalin. Lenin kritisierte die Zusammenstellung sehr heftig: zuviel zweifelhafte Intellektuelle, zu wenig zuverlässige Arbeiter. »Es ist unerläßlich«, sagte er von der Liste, »sie zu revidieren und zu verbessern. Es ist klar, daß niemand daran denkt, eine Kandidatur unter den neuen Mitgliedern, die aus den ›Interdistriktler‹-Organisationen kommen, anzuzweifeln, wenn es sich zum Beispiel um eine solche wie die von L. D. Trotzky handelt, denn zunächst einmal ist die Einstellung Trotzkys seit seiner Ankunft die der Internationalisten gewesen und ferner hat er sich für die Fusion geschlagen; schließlich hat er sich in den schwierigen Julitagen als den gestellten Aufgaben gewachsen erwiesen und war ein loyaler Führer der Partei des revolutionären Proletariats. Es ist klar, daß man von vielen der gestern Hinzugekommenen, deren Name auf der Liste steht, nicht dasselbe sagen kann.«

Nach der Machtübernahme fühlte sich Stalin selbstsicherer, blieb aber dennoch eine Gestalt zweiten Ranges. Ich merkte bald, daß Lenin ihn »poussierte«, da er in ihm seine Entschlossenheit, seinen Mut, seine Hartnäckigkeit, ja, bis zu einem gewissen Grade seine Verschlagenheit als für den Kampf notwendige Eigenschaften schätzte. Niemals erwartete er von ihm originelle Ideen, politische Initiative oder schöpferisches Vorstellungsvermögen. Stalin war langsam und vorsichtig; wenn immer möglich, verhielt er sich still. Die bolschewistischen Siege in Petrograd und später in Moskau stärkten ihn. Er begann, sich an die Machtausübung zu gewöhnen. »Nach dem Oktober«, berichtet Allilujew, »bezog Stalin im Smolny zwei kleine Zimmer im Erdgeschoß.« (Er war Kommissar für das Nationalitätenwesen.) Die erste Sitzung der bolschewistischen Regierung fand im Smolny in Lenins Büro statt; eine Bretterwand trennte das Sitzungszimmer von dem Raum für das Büropersonal. Stalin und ich waren als erste angekommen. Hinter den Brettern hörten wir die tiefe Baßstimme Dybenkos. Er telephonierte mit Finnland, und das Gespräch, das er führte, war recht zärtlichen Charakters. Der muntere, neunundzwanzig Jahre alte bärtige Riese war kurz zuvor der Intimus Alexandra Kollontais geworden, was in gewissen Parteikreisen Anlaß zu Klatschgeschichten gab. Stalin, mit dem ich bis dahin keine persönliche Unterhaltung gehabt hatte, näherte sich mir belustigt, und mit dem Ellbogen auf die Bretterwand deutend, sagte er schmunzelnd: »Das ist der mit der Kollontai, mit der Kollontai!« Seine mir ganz unerwartet kommende Haltung und sein Lachen erschienen mir, besonders bei dieser Gelegenheit und an diesem Orte, äußerst fehl am Platze und von unerträglicher Vulgarität. Ich entsinne mich nicht, ob ich mich damit begnügte, den Kopf abzuwenden oder ob ich in scharfem Ton antwortete: »Das ist ihre Angelegenheit!« Aber Stalin fühlte, daß er einen Fehler begangen hatte. Sein Gesichtsausdruck wechselte, und in seine gelben Augen trat derselbe feindselige Schimmer, den ich schon in Wien bemerkt hatte Trotzky, damals noch nicht Mitglied der bolschewistischen Fraktion, war Stalin schon 1913 in Wien begegnet. (Anm. des Übers.).

Ende Januar 1918 nahm Stalin als Vertreter der Partei an einer Konferenz von Delegierten mehrerer linker sozialistischer Parteien des Auslands teil. Diese Konferenz kam am Ende ihrer Tätigkeit zu dem Entschluß, »einen internationalen sozialistischen Kongreß ... unter folgenden Bedingungen einzuberufen: erstens, daß sich die Parteien und Organisationen verpflichten, einen revolutionären Kampf gegen ›ihre eigenen Regierungen‹ für den unmittelbaren Frieden zu führen; zweitens, daß sie mit allen ihren Kräften die Oktoberrevolution und die Sowjetregierung unterstützen«.

Zur Zeit der Brest-Litowsker Verhandlungen war die Konstituierende Versammlung aufgelöst worden. Die Initiative dazu war von Lenin ausgegangen. Zur gleichen Zeit wurde die »Erklärung der Rechte der Werktätigen und der ausgebeuteten Völker« veröffentlicht. In den Text dieses historischen Dokuments wurden von Bucharin und Stalin Korrekturen eingefügt. »Die meisten dieser Korrekturen«, sagt eine Fußnote in Lenins »Sämtlichen Werken«, »haben keinen prinzipiellen Charakter.«

Die Posten, die Stalin in den ersten Jahren der Revolution einnahm, und die Aufgaben, die ihm übertragen wurden, waren sehr verschieden. Doch war das in jener Zeit das Los der meisten führenden Parteifunktionäre. Ob direkt oder indirekt, jeder von ihnen nahm am Bürgerkrieg teil; mit den Verwaltungsarbeiten wurden ihre nächsten Mitarbeiter betraut. Stalin war nominell Mitglied des Redaktionskomitees des Zentralorgans der Partei, hatte aber in Wirklichkeit nichts mit der »Prawda« zu tun; am regelmäßigsten arbeitete er auf dem Kommissariat für Nationalitätenwesen. Der Sowjetstaat war damals in Bildung begriffen, und es war nicht leicht, das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten zueinander zu bestimmen. Lenin hatte dieses Amt geschaffen, und dessen allgemeine Leitung lag ganz in seiner Hand. Nächst der Agrarfrage war ihm zu allen Zeiten nichts wichtiger erschienen als das Nationalitätenproblem. Aus dem Tagebuch seines Sekretariats geht hervor, daß er häufig nationale Delegationen aller Art empfing, mit ihnen in Verbindung blieb, über diese oder jene Nationalität Untersuchungen anstellen ließ und Instruktionen erteilte. Die wesentlichsten Maßnahmen erfolgten über das Politbüro; das Kommissariat für das Nationalitätenwesen befaßte sich hauptsächlich mit der technischen Aufgabe, die gefaßten Beschlüsse auszuführen.

Informationen über die Arbeit dieses Kommissariats finden sich in den Memoiren Pestkowskys, die 1922 bzw. 1930 veröffentlicht worden sind. Pestkowsky war in den ersten zwanzig Monaten des Sowjetregimes Stalins nächster Mitarbeiter. Alter polnischer Revolutionär, war er zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden; er nahm an der Oktoberrevolution teil und hatte nach dem Siege verschiedene Posten inne, so vor allem den eines sowjetischen Gesandten in Mexiko von 1924 bis 1926. Er gehörte lange Zeit einer der oppositionellen Gruppen an, wußte aber noch rechtzeitig Buße zu tun. Zeichen kürzlich getaner Buße erscheinen in der zweiten Auflage seiner Memoiren, nehmen ihnen aber nichts von ihrer Frische und ihrem Interesse.

Die Initiative für diese Zusammenarbeit ging von Pestkowsky aus. Er hatte an die verschiedensten Türen geklopft und vergeblich ein Betätigungsfeld für seine bescheidenen Talente gesucht. Bei Stalin hatte er Glück, was er folgendermaßen wiedergibt:

»Genosse Stalin, sagte ich, sind Sie Volkskommissar für das Nationalitätenwesen?«

»Ja.«

»Aber haben Sie ein Kommissariat?«

»Nein.«

»Na gut, ich werde Ihnen ein Kommissariat machen.«

»Ausgezeichnet, was wollen Sie dafür haben?«

»Für den Augenblick nur eine Vollmacht!«

»Daraufhin ging Stalin, der überflüssige Worte haßte, zum Büro des Rates der Volkskommissare und kam einige Minuten später mit einer Vollmacht zurück.«

In einem der Räume des Smolny fand Pestkowsky einen freien Tisch. Er rückte ihn an die Wand, klebte darüber ein Stück Papier mit der Aufschrift: »Volkskommissariat für das Nationalitätenwesen« und vervollständigte die Einrichtung mit Hilfe von zwei Stühlen. Er fährt fort:

»Genosse Stalin, sagte ich, wir haben nicht eine Kopeke auf unseren eigenen Namen.« (In jenen Tagen hatte die neue Regierung die Staatsbank noch nicht in Besitz genommen.)

»Brauchen Sie viel? fragte Stalin.«

»Für den Anfang sind tausend Rubel genug.«

»Kommen Sie in einer Stunde wieder.«

»Als ich eine Stunde später zurückkam, beauftragte mich Stalin, bei Trotzky dreitausend Rubel zu borgen.«

»Er hat Geld, sagte er, er hat es im Ministerium des Auswärtigen gefunden.«

»Ich ging zu Trotzky und unterzeichnete eine Quittung über dreitausend Rubel. Soviel ich weiß, hat das Kommissariat für das Nationalitätenwesen dem Genossen Trotzky diese Summe noch nicht zurückerstattet.«

(Stalin befand sich) am 9. (22.) November 1917 von zwei bis viereinhalb Uhr morgens (bei Lenin), als dieser, der mit Chefkommandeur General Duchonin über eine direkte Leitung verhandelte, den Befehl gab, Friedensverhandlungen mit allen im Kriege befindlichen Nationen einzuleiten. Auf die Weigerung Duchonins hin verfügte er augenblicklich dessen Abberufung und die Einsetzung N. V. Krylenkos als Chefkommandeur. (Bei der Schilderung von Vorkommnissen solcher Art) behauptet Pestkowsky, Stalin wäre »Lenins Stellvertreter in der Leitung der revolutionären Schlachten geworden. Er mußte die militärischen Operationen überwachen, die am Don stattfanden, in der Ukraine und anderen Teilen Rußlands«. »Stellvertreter« ist nicht das richtige Wort, »technischer Assistent« wäre korrekter. Da die Anweisungen über eine besondere Leitung gehen mußten, wurde Stalin mit ihrer Übermittlung beauftragt, denn sein Kommissariat ließ ihm mehr freie Zeit, als den übrigen Mitgliedern des Zentralkomitees ihre Tätigkeit ließ.

Stalins Mitteilungen über den direkten Draht waren im wesentlichen halb technischer, halb politischer Art. Er gab Anweisungen weiter. Äußerst interessant ist eine seiner ersten Unterhaltungen, vom 17. (30.) November 1917, mit dem Vertreter der ukrainischen Rada, Porsch. Die ukrainische Rada glich der Kerensky-Regierung. Sie stützte sich auf die oberen Schichten des Kleinbürgertums und hatte selbstverständlich die Unterstützung der Bourgeoisie und der Alliierten gegen die Bolschewiki. Zu gleicher Zeit kamen die ukrainischen Sowjets unter den Einfluß der Bolschewiki und gerieten zur Rada in Opposition. Ein Konflikt zwischen der Rada und den Sowjets war unvermeidlich, besonders nach dem erfolgreichen Aufstand in Petrograd und Moskau. Porsch fragte im Namen der Rada, welches die Haltung der Petrograder Regierung in der nationalen Frage im allgemeinen wäre und was das Schicksal der Ukraine und ihres inneren Regimes im besonderen sein würde. Stalin antwortete mit Allgemeinheiten: »In der Ukraine müßte wie in den anderen Gebieten die Macht der Gesamtheit der Delegierten der Arbeiter, Bauern und Soldaten gehören, mit Einschluß der Rada-Organisation. Auf diesem Gebiete besteht ein breites Feld für eine Vereinbarung zwischen der Rada und dem Sowjet der Volkskommissare.« Das war eben jene Koalition, die die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre nach der Oktoberrevolution wollten, und eben an dieser Frage waren die von Kamenew geführten Verhandlungen gescheitert.

In Kiew, am anderen Ende des Drahtes, befand sich an der Seite des ukrainischen Ministers Porsch der Bolschewik Sergej Babinsky, der seinerseits Fragen stellte; beide kontrollierten sich gegenseitig, wobei Babinsky die Sowjets vertrat. Er erklärte, daß die Zentral-Rada nicht gewillt sei, die örtliche Macht den Sowjets zu übertragen. Stalin antwortete, daß, wenn die Zentral-Rada sich weigere, gemeinsam mit den Bolschewiki einen Kongreß einzuberufen, dann »beruft ihn ohne sie ein. Ferner muß die Sowjetregierung von jeder Region anerkannt werden. Das ist ein revolutionäres Gebot, das wir nicht verleugnen können, und wir können nicht verstehen, wie die ukrainische Zentral-Rada gegen ein solches Axiom auftreten kann.«

Eine Viertelstunde vorher hatte Stalin eine Koalition der Sowjets mit den demokratischen Organisationen der Rada für möglich erklärt, jetzt behauptete er, daß die Sowjetregierung ohne irgendeine Kombination ein Axiom sei. Wie diesen Widerspruch aufklären?

Obwohl uns keinerlei Dokument zur Verfügung steht, ist es leicht, sich vorzustellen, was sich hinter dieser Konversation abspielte. Stalin übergab Lenin einen Bericht über seine Unterhaltung mit Porsch – Lenin hatte kaum davon Kenntnis genommen, als er mit einer unerbittlichen Kritik antwortete. Daraufhin diskutierte Stalin nicht mehr und gab im zweiten Teil der Unterhaltung Anweisungen, die denen, die er zuerst übermittelt hatte, diametral entgegengesetzt waren.

Als Mitglied des Politischen Büros gehörte Stalin der Delegation der Russischen Kommunistischen Partei auf dem Parteitag der Sozialistischen Partei Finnlands an. Diese Zugehörigkeit war rein nomineller Art, denn er nahm an den Debatten keinen Anteil. »Als Ende Dezember 1917 der Parteitag der Sozialistischen Partei Finnlands zusammentrat«, schreibt Pestkowsky, »war die Hauptfrage, welchen Weg die finnische Arbeiterklasse einschlagen würde. Das Zentralkomitee der Bolschewiki sandte Stalin als seinen Vertreter zu diesem Kongreß.« Weder Lenin, noch Swerdlow, noch ich konnten Petrograd verlassen; andererseits war es in jener Periode nicht angezeigt, Sinowjew und Kamenew mit der Aufgabe nach Finnland zu schicken, dort eine revolutionäre Bewegung auszulösen. So blieb nur, Stalin zu delegieren. Auf diesem Parteitag begegnete er zum erstenmal Tanner, mit dem er zweiundzwanzig Jahre später die Besprechungen am Vorabend des russisch-finnischen Krieges führen sollte.

Pestkowsky hebt die enge Zusammenarbeit zwischen Lenin und Stalin hervor. »Lenin konnte Stalin auch nicht einen Tag lang entbehren. Wahrscheinlich aus diesem Grunde stand unser Büro im Smolny ›unter den Fittichen‹ Lenins. Kein Tag verging, ohne daß Lenin mehrmals nach Stalin fragte, und manchmal kam er ihn selbst holen. Stalin verbrachte einen großen Teil des Tages mit Lenin in dessen Büro. Ich weiß nicht, was sie dort machten, aber einmal trat ich in das Büro ein und hatte dort ein interessantes Bild vor Augen. An der Wand hing eine große Karte von Rußland, und vor der Karte standen zwei Stühle, auf denen Lenin und Stalin saßen. Ihre Finger bewegten sich in der Richtung nach Norden, nach Finnland zu, glaube ich.«

»Am Abend, wenn sich die gewöhnliche Aufregung ein wenig gelegt hatte, richtete sich Stalin am Telefon ein und verbrachte dort Stunden. Von da aus führte er wichtige Besprechungen mit unseren militärischen Führern (Antonow, Pawlunowsky, Murawjow und anderen) oder mit unseren Feinden, mit dem Kriegsminister der ukrainischen Rada, Porsch. Manchmal, wenn ihn eine dringende Aufgabe anderswohin berief, beauftragte er mich, ihn am Telefon zu vertreten.« Die Tatsachen sind hier mehr oder weniger korrekt mitgeteilt, ihre Interpretation ist parteiisch. Sicher ist, daß Lenin in jener Periode Stalin dringend brauchte. Sinowjew und Kamenew befanden sich ihm gegenüber in grundlegenden Fragen in der Opposition, meine Zeit wurde von Versammlungen und den Brest-Litowsker Verhandlungen in Anspruch genommen, auf Swerdlow lag die erdrückende Aufgabe der Organisationsarbeit für die ganze Partei. Stalin jedoch hatte keine präzisen Aufgaben, und das Kommissariat für Nationalitätenwesen verlangte besonders im Anfang nur wenig Zeit. Auf diese Weise kam er dazu, die Rolle eines Generalstabschefs oder eines Sonderbeauftragten unter Lenins Leitung zu spielen. Die telefonischen Unterhaltungen waren, obwohl natürlich äußerst wichtig, doch wesentlich technischer Natur, und Lenin konnte sie nur einem Manne mit Erfahrung anvertrauen, der über alle im Smolny auftauchenden Fragen auf dem laufenden war.

(Selbst nach der Übersiedlung der Regierung von Petrograd nach Moskau folgte Lenin einer Richtschnur, die in seinen Augen unantastbar war: niemals persönliche Befehle zu geben. Drei Jahre später), am 24. September 1920, bat Ordschonikidse von Baku aus telegrafisch um Übersendung eines Torpedobootes nach Enzeli (Persien). Lenin schrieb an den Rand der Depesche: »Ich werde die Sache mit Trotzky und Krestinsky besprechen.« Tatsächlich existieren solche Telegramme, Briefe, Berichte in unübersehbarer Menge. Lenin entschied niemals allein, er wandte sich stets an das Politbüro. Von dessen Mitgliedern waren gewöhnlich drei, manchmal auch nur zwei, stets in Moskau. Aus Hunderten von Notizen bezüglich der Konsultation anderer Mitglieder des Politbüros hat man nur die ausgewählt, die besagen: »Ich werde Stalin konsultieren!« Man versucht damit zu beweisen, daß Lenin nichts ohne Stalin entschied.

(In Hinsicht auf die Brest-Litowsker Verhandlungen) haben Stalins Historiographen jede Zurückhaltung fallen lassen. (Sie verfügten über authentische Dokumente, nämlich die Archive des Kommissariats des Auswärtigen, dem Trotzky damals vorstand. Im Jahre 1935 schreibt jedoch ein gewisser Sorin:)

In einem Briefe an Lenin aus Brest schlug Trotzky einen gefährlich phantastischen Plan vor: den Annexionsfrieden nicht zu unterzeichnen, aber den Krieg nicht weiterzuführen und währenddessen die Armee zu demobilisieren. Am 15. (2.) Januar, in einem Telefongespräch mit Trotzky, der eine unmittelbare Antwort verlangte, charakterisierte Wladimir Iljitsch Trotzkys Plan als ›diskutabel‹ und verschob seine Antwort bis zur Ankunft Stalins, der damals nicht in Petrograd war und den Lenin konsultieren wollte. Wir zitieren den vollständigen Wortlaut dieser Gespräche:

»15. (2.) Januar. – Folgendes Gespräch findet telefonisch zwischen Lenin und Trotzky statt: Trotzky fragt Lenin, ob er den Brief erhalten hat, den er ihm durch einen lettischen Soldaten überbringen lassen hat. Trotzky muß eine unmittelbare Antwort auf diesen Brief haben. Der Wortlaut der Antwort müsse Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken.

Lenin am Apparat: ›Ich habe soeben Ihren Brief durch Sonderkurier erhalten. Stalin ist nicht hier, und ich konnte ihn ihm noch nicht zeigen. Ihr Plan scheint mir diskutabel. Ist es nicht möglich, die endgültige Entscheidung bis zu einer besonderen Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees aufzuschieben? Sobald Stalin eingetroffen sein wird, werde ich ihm Ihren Brief übergeben. – Lenin.‹

›Wir werden versuchen, die Entscheidung solange wie möglich hinauszuschieben und auf Ihre Mitteilung warten. Bitte beeilen Sie sich. Die Rada-Delegation verfolgt eine Politik des Verrats. Die Diskussion meines Vorschlags vor dem Zentralkomitee scheint mir gefährlich, denn sie könnte eine Reaktion hervorrufen, bevor der Plan zur Ausführung kommt. – Trotzky.‹

Antwort an Trotzky: ›Ich möchte zuerst Stalin konsultieren, bevor ich Ihnen auf Ihre Frage antworte. Heute ist eine Delegation des ukrainischen Zentralen Exekutivkomitees, die versichert, daß die Kiewer Rada aus dem letzten Loch pfeift, abgereist, um Sie zu sehen. – Lenin.‹

Als die Verhandlungen am 18. (5.) Januar in eine kritische Phase eintraten, verlangte L. D. Trotzky, daß ihm telefonische Instruktionen gegeben würden, und erhielt nacheinander die beiden folgenden Noten:

1. An Trotzky: ›Stalin trifft ein. Ich werde die Frage mit ihm durchsprechen und Ihnen unsere gemeinsame Antwort zukommen lassen. – Lenin.‹

2. ›Trotzky benachrichtigen, daß er die Verhandlungen unterbrechen und nach Petrograd kommen soll. – Lenin, Stalin.‹«

(Die offizielle Geschichte der Bolschewistischen Partei von 1939 übergeht diese Tatsache völlig. Sie erklärt:)

Am 10. Februar 1918 wurden die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk unterbrochen. Obwohl Lenin und Stalin im Namen des Zentralkomitees der Partei darauf bestanden hatten, daß der Friede unterzeichnet würde, vergewaltigte Trotzky, der der Vorsitzende der sowjetischen Delegation in Brest war, in verräterischer Weise die ausdrücklichen Direktiven der Partei. Er erklärte, daß die Sowjetrepublik sich weigere, den Frieden auf der Basis der von Deutschland vorgeschlagenen Bedingungen zu unterzeichnen, und informierte zu gleicher Zeit die Deutschen darüber, daß die Sowjetrepublik den Krieg nicht weiterführen und fortfahren würde, die Armee zu demobilisieren.

Das war ungeheuerlich. Mehr konnten die deutschen Imperialisten von diesem Verräter an den Interessen des Sowjetvaterlandes nicht verlangen.

(Schlagen wir die Seiten 207, 208 desselben Buches auf, so finden wir folgendes:)

Lenin bezeichnete diese Erklärung als »eigenartig und ungeheuerlich«. In jener Epoche sah die Partei noch nicht klar den wahren Grund der parteifeindlichen Haltung Trotzkys und der »linken Kommunisten«. Wie aber kürzlich auf dem Prozeß des »Antisowjetischen Blocks der Rechten und der Trotzkisten« festgestellt worden ist (Anfang 1938), waren Bucharin und die von ihm geleitete Gruppe der Linkskommunisten zusammen mit Trotzky und den linken Sozialrevolutionären damals schon in eine geheime Verschwörung gegen die Sowjetregierung verwickelt. Bucharin, Trotzky und die anderen Verschwörer hatten, wie bewiesen worden ist, den Plan gefaßt, den Brester Friedensvertrag zu kündigen, W. I. Lenin, J. W. Stalin und J. Swerdlow zu verhaften und zu ermorden, und eine neue Regierung aus Bucharinisten, Trotzkisten und linken Sozialrevolutionären zu bilden.

(Betrachten wir nunmehr die Protokolle. Dreiundsechzig Bolschewiki waren auf der Konferenz vom 21. (8.) Januar 1918 anwesend, von denen die absolute Mehrheit (zweiunddreißig) für einen revolutionären Krieg stimmte. Die Position Trotzkys – weder Krieg noch Frieden – erhielt sechzehn Stimmen; die Lenins – Frieden mit dem kaiserlichen Deutschland – fünfzehn Stimmen. Die Frage kam drei Tage später von neuem vor dem Zentralkomitee der Partei zur Diskussion. Das Protokoll der Sitzung vom 24. (11.) Januar 1918 sagt:)

Der Genosse Trotzky schlägt folgende Formulierung zur Abstimmung vor: »Wir beendigen den Krieg, wir unterzeichnen den Frieden nicht, wir demobilisieren die Armee.«

Die Abstimmung ergab folgendes Resultat: neun Stimmen dafür, sieben Stimmen dagegen.

Daraufhin wurde Lenins Vorschlag zur Abstimmung gestellt: »Wir zögern die Unterzeichnung des Friedensvertrages mit allen Mitteln hinaus.« Dafür zwölf, dagegen eine Stimme. L. D. Trotzky stellt die Frage: »Schlagen wir vor, einen Aufruf für einen revolutionären Krieg zu erlassen?« Dafür zwei, dagegen elf Stimmen, eine Stimmenthaltung; und: »Wir beendigen den Krieg, wir unterzeichnen den Frieden und demobilisieren die Armee«; dafür neun, dagegen sieben Stimmen.

Auf dieser Sitzung begründete Stalin die Notwendigkeit, einen Sonderfrieden zu unterzeichnen, mit folgendem Argument: »Es gibt im Westen keine revolutionäre Bewegung. Keine Tatsachen, nur Möglichkeiten, und Möglichkeiten können wir nicht in Rechnung stellen.« – »Nicht in Rechnung stellen?« Lenin wies sogleich die Unterstützung zurück, die ihm Stalin angedeihen lassen wollte; es sei richtig, daß die Revolution im Westen noch nicht begonnen habe, »wenn wir aber unsere Taktik aus diesem Grunde änderten, würden wir Verräter am internationalen Sozialismus sein«.

Am nächsten Tage, dem 25. (12.) Januar, wurde die Friedensfrage auf einer gemeinsamen Sitzung der Zentralkomitees der Bolschewiki und der linken Sozialrevolutionäre diskutiert. Mit Stimmenmehrheit wurde beschlossen, dem Sowjetkongreß die Formulierung vorzuschlagen: »Den Krieg nicht fortsetzen, den Frieden nicht unterzeichnen.«

Welches war die Haltung Stalins gegenüber dieser Formulierung? Hier die Erklärung Stalins eine Woche nach der Sitzung, in deren Verlauf diese Formulierung mit neun gegen sieben Stimmen angenommen worden war: »Sitzung vom 1. Februar (19. Januar) 1918: Genosse Stalin: ›Der Weg aus dieser schwierigen Situation heraus wurde von dem mittleren Gesichtspunkt aus aufgewiesen – von der Position Trotzkys.‹«

Diese Erklärung Stalins erhält erst ihren vollen Sinn, wenn man in Rechnung stellt, daß in dieser ganzen kritischen Periode die Mehrheit der Partei- und der Sowjetorganisationen für einen revolutionären Krieg war und daß sich infolgedessen Lenins Standpunkt nur mit Hilfe einer Revolution in der Partei und im Staat (was natürlich ausgeschlossen war) hätte durchsetzen können. So erkannte also Stalin, weit davon entfernt, sich zu täuschen, eine unbestreitbare Tatsache an, wenn er sagte, daß meine Position zu jener Zeit für die Partei der einzige Ausweg aus der Situation war.

(Am 10. Februar) veröffentlichte die sowjetische Delegation auf der Friedenskonferenz von Brest-Litowsk die offizielle Erklärung der Sowjetregierung, wonach sie sich weigerte, den Annexionsfrieden zu unterzeichnen, und den Krieg mit den Mächten des Viererbundes beendete. (Zwei Tage später wurde) der Befehl des Chefkommandeurs N. V. Krylenko über die Einstellung der militärischen Handlungen gegen diese Mächte und die Demobilisierung der russischen Armee (veröffentlicht).

(Zu diesen Ereignissen schrieb Lenin ein Jahr später:)

Wie war es möglich, daß nicht eine einzige Tendenz, nicht eine einzige Leitung, nicht eine einzige Organisation unserer Partei sich dieser Demobilisierung entgegenstellte? Worum handelte es sich für uns? Hatten wir vollständig den Kopf verloren? Nicht im mindesten! Die Offiziere, und nicht die Bolschewiki, sagten selbst vor dem Oktober, daß sich die Armee nicht schlagen könne, daß sie nur noch während einiger Wochen an der Front gehalten werden könne. Nach dem Oktober wurde das offensichtlich, vollständig offensichtlich für diejenigen, die die Tatsachen ins Auge zu fassen gewillt waren, die die unangenehme und bittere Realität sehen und nicht die Augen schließen oder sich mit leeren Phrasen zufrieden geben wollten. Es gab keine Armee; es war unmöglich, sich auf sie zu stützen. Das Beste, was man tun konnte, war, das, was übrigblieb, so schnell wie möglich zu demobilisieren.

Das war die wunde Stelle im russischen Staatsorganismus, der die Last des Krieges nicht länger tragen konnte. Je schneller wir demobilisierten, um so schneller würden sich die Reste der Armee den noch gesunden Teilen eingliedern, um so schneller würde das Land zu neuen und schwierigen Aufgaben bereit sein. Das fühlten wir, als wir einmütig und ohne den mindesten Protest die Resolution für die Demobilisierung faßten – eine Entscheidung, die, oberflächlich betrachtet, absurd erschien. Das war genau das, was wir tun mußten. Die Armee bestehen zu lassen, wäre eine frivole Illusion gewesen. Je schneller wir demobilisierten, um so schneller würde die Wiedergesundung des sozialen Organismus in seiner Gesamtheit einsetzen. Deshalb waren revolutionäre Phrasen wie »Die Deutschen können nicht vorrücken«, aus der die andere hervorging: »Wir können den Kriegszustand nicht für beendet erklären; weder Krieg, noch Unterzeichnung des Friedens«, ein tiefer Irrtum, eine Überschätzung der Ereignisse. Aber nehmen wir an, die Deutschen rücken vor? »Nein, sie sind nicht imstande vorzurücken!«

Tatsächlich dauerte der Vormarsch der deutschen Truppen vierzehn Tage, vom 18. Februar bis zum 3. März. Den ganzen Tag des 18. Februar widmete das Zentralkomitee der Frage: Wie auf den deutschen Vormarsch antworten, der soeben begann?

Nach dem Abbruch der Verhandlungen in Brest am 10. Februar und nachdem die russische Delegation die Erklärung veröffentlicht hatte, daß sie den Krieg als beendet betrachte, sich aber weigere, den Frieden mit Deutschland zu unterzeichnen, hatte die »Militärpartei« – die Partei der extremen Annexionisten die Oberhand gewonnen. Auf einer Konferenz, die am 13. Februar in Hamburg unter dem Vorsitz von Kaiser Wilhelm stattgefunden hatte, war folgende von diesem vorgeschlagene Erklärung angenommen worden: »Trotzkys Weigerung, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, beendet automatisch den Waffenstillstand.« Am 16. Februar teilte das deutsche Oberkommando der Sowjetregierung offiziell mit, daß der Waffenstillstand am 18. Februar um 12 Uhr abgelaufen sei, auf diese Weise die Abmachung durchbrechend, die vorsah, daß das Ende des Waffenstillstandes sieben Tage vor der Auslösung kriegerischer Handlungen bekanntgegeben werden sollte.

Die Frage unserer Erwiderung auf den deutschen Vormarsch wurde zuerst auf der Sitzung des Zentralkomitees der Partei am Abend des 17. Februar examiniert. Ein Vorschlag, neue Verhandlungen zur Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit Deutschland einzuleiten, wurde mit sechs gegen fünf Stimmen abgelehnt. Andererseits stimmte niemand »für einen revolutionären Krieg«, während N. I. Bucharin, G. I. Lomow und A. A. Joffe, sich »weigerten, über eine so gestellte Frage abzustimmen«. Die Mehrheit nahm die Resolution an, »die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen bis zu dem Augenblick zu vertagen, wo der Vormarsch eine genügende Entwicklung angenommen habe und seine Auswirkungen auf die Arbeiterbewegung sichtbar geworden seien«. Abgesehen von drei Stimmenthaltungen wurde der folgende Entschluß einstimmig gefaßt: »Wenn sich im Augenblick, wo sich der deutsche Vormarsch entwickelt, keine revolutionäre Bewegung in Deutschland und in Österreich zeigt, dann unterzeichnen wir den Frieden.«

Am 18. Februar, bei Beginn des deutschen Vormarschs, blieb das Zentralkomitee mit kurzen Unterbrechungen den ganzen Tag über versammelt. Auf der ersten Sitzung, nach den Reden Lenins und Sinowjews für eine Unterzeichnung des Friedensvertrages und nach meiner und Bucharins Rede dagegen, wurde der Antrag: »Sofort einen Vorschlag unterbreiten, die Friedensverhandlungen wiederaufzunehmen« mit sieben gegen sechs Stimmen abgelehnt. Auf der zweiten Sitzung, am Abend, nach Reden Lenins, Stalins, Swerdlows und Krestinskys für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen und Uritzkys und Bucharins dagegen und einer Rede meinerseits mit dem Vorschlag, daß wir die Verhandlungen nicht wieder aufnehmen, aber den Deutschen vorschlagen sollten, ihre Forderungen zu formulieren, wurde folgende Frage zur Abstimmung gestellt: »Soll der deutschen Regierung der Vorschlag gemacht werden, sofort Frieden zu schließen?« Diese Frage wurde mit sieben bejahenden Stimmen (Lenin, Smilga, Stalin, Swerdlow, Sokolnikow, Trotzky, Sinowjew), fünf verneinenden (Uritzky, Lomow, Bucharin, Joffe, Krestinsky) und einer Stimmenthaltung (Stassowa) beantwortet. Daraufhin wurde sogleich beschlossen, einen genauen Text mit dem gefaßten Beschluß zu redigieren und ihn der deutschen Regierung zukommen zu lassen. Über einen Vorschlag Lenins, den Inhalt des Telegramms betreffend, wurde von neuem abgestimmt. Alle Mitglieder außer zweien stimmten für die Feststellung des gewaltsamen Charakters der Friedensbedingungen; für die Bereitschaft zur Annahme der bereits vorliegenden Bedingungen, mit dem Hinweis, daß man sich nicht weigern würde, schlimmere Bedingungen anzuerkennen, stimmten sieben, dagegen vier, bei zwei Stimmenthaltungen. Die Aufgabe, den Text zu redigieren,, wurde Lenin und mir übertragen. Das Radiogramm wurde sodann stehenden Fußes von Lenin verfaßt und, nachdem ich Berichtigungen angebracht hatte, von der gemeinsamen Sitzung der Zentralkomitees der Bolschewiki und der linken Sozialrevolutionäre angenommen, mit den Unterschriften des Rates der Volkskommissare versehen und am 19. Februar nach Berlin gesandt.

Auf der Sitzung der Volkskommissare vom 20. Februar stimmten die Vertreter der linken Sozialrevolutionäre dagegen, daß eine mögliche Hilfe der Entente für den Widerstand gegen den deutschen Vormarsch in Anspruch genommen werden sollte. Verhandlungen mit den Alliierten wegen militärischer und technischer Unterstützung hatten alsbald nach der Oktoberrevolution begonnen. Sie waren von Lenin und mir mit den Generalen Lavergne und Niessel und dem Hauptmann Sadoul als Vertretern der Franzosen und mit dem Obersten Raymond Robbins als Vertreter der Amerikaner geführt worden. Am 21. Februar telegrafierte mir der französische Botschafter Noulens unter Bezugnahme auf den ständigen Vormarsch der Deutschen: »Für Ihren Widerstand gegen Deutschland können Sie auf die militärische und finanzielle Mitwirkung Frankreichs rechnen.« Der Unterschied, den wir zwischen dem deutschen und dem französischen Militarismus machten, war für uns natürlich keine prinzipielle Frage. Es war lediglich ein Mittel, die Neutralisierung gewisser feindlicher Kräfte zu sichern, um die Sowjetregierung zu retten. (Die französische Regierung hielt aber nicht Wort.) Clemenceau proklamierte den heiligen Krieg gegen die Bolschewiki. Wir waren also gezwungen, den Brest-Litowsker Vertrag zu unterzeichnen.

Die Antwort auf das sowjetische Radiogramm, die die deutschen Friedensbedingungen enthielt, wurde in Petrograd am 23. Februar um zehneinhalb Uhr morgens in Empfang genommen. Im Vergleich zu den am 10. Februar gestellten Bedingungen waren sie fühlbar schlechter. Livland und Estland sollten sofort von der Roten Armee geräumt und von der deutschen Polizei besetzt werden; Rußland verpflichtete sich, mit den bürgerlichen Regierungen der Ukraine und Finnlands Frieden zu schließen, und andere drakonische Bestimmungen. Über die Annahme dieser neuen Bedingungen wurde am selben Tage diskutiert, zuerst in der Sitzung des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei, dann auf der gemeinsamen Sitzung unseres und des Zentralkomitees der linken Sozialrevolutionäre, schließlich auf der Vollsitzung des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees selbst.

Auf der Sitzung des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei sprachen Lenin, Sinowjew, Swerdlow und Sokolnikow zugunsten der Annahme dieser Bedingungen. Bucharin, Dzerschinsky, Uritzky und Lomow sprachen dagegen. Ich erklärte, daß »wenn wir einmütig wären, wir die Aufgabe auf uns nehmen könnten, die Verteidigung zu organisieren. Wir hätten es tun können ... aber das hätte das Höchstmaß von Einheit erfordert. Da das fehlt, will ich nicht die Verantwortung auf mich nehmen, für den Krieg zu stimmen«. Das Zentralkomitee beschloß mit sieben Stimmen gegen vier, bei vier Stimmenthaltungen, den deutschen Vorschlag sofort anzunehmen, sich auf einen revolutionären Krieg vorzubereiten und (einstimmig, bei drei Stimmenthaltungen) die Angelegenheit vor die Wählerschaft der Petrograder und Moskauer Sowjets zu bringen, um genau die Haltung der Massen gegenüber den Friedensbedingungen kennenzulernen.

Auf dieser Sitzung des Zentralkomitees vom 23. Februar erklärte Stalin: »Wir brauchen nicht zu unterzeichnen, aber wir müssen Friedensverhandlungen einleiten.« Worauf Lenin erwiderte: »Stalin irrt sich, wenn er sagt, daß wir es nicht nötig haben zu unterzeichnen. Diese Bedingungen müssen unterzeichnet werden. Wenn wir sie nicht unterzeichnen, dann werden wir in drei Wochen das Todesurteil der Sowjetregierung unterzeichnen.« Und das Protokoll statuiert ferner: »Der Genosse Uritzky wies Stalin darauf hin, daß die Bedingungen angenommen oder abgelehnt werden müßten, daß es aber nicht mehr möglich sei zu unterhandeln.«

Für alle diejenigen, die mit der Situation vertraut waren, war es klar, daß hier Widerstand hoffnungslos war. Stalins Erklärung zeugte von völligem Unverständnis. Schon am 18. Februar hatte die deutsche Armee Dwinsk eingenommen. Ihr Vormarsch ging mit außerordentlicher Schnelligkeit voran. Alle Bemühungen, ihn aufzuhalten, waren erschöpft. Stalin aber schlug fünf Tage später, am 23. Februar vor, nicht den Frieden zu unterzeichnen, sondern ... Verhandlungen einzuleiten.

Stalin intervenierte auf der Sitzung vom 23. Februar noch ein zweites Mal, diesmal für die Notwendigkeit, den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Er benützte die Gelegenheit, um seine voraufgegangene Erklärung über die Frage der internationalen Revolution zu korrigieren: »Auch wir«, sagte er, »setzen auf die Revolution, aber ihr rechnet mit Wochen, während wir mit Monaten rechnen.« Das war die allgemeine Mentalität in jenen Tagen, die auch in den Worten Sergujews (Artems) auf der Sitzung vom 24. Januar 1918 ihren Ausdruck fand, daß alle Mitglieder des Zentralkomitees in einem Punkte übereinstimmten: ohne einen Sieg der internationalen Revolution in der kürzest möglichen Zeit (nach Stalin in den nächstfolgenden Monaten) geht die Sowjetrepublik unter. So herrschte also der »Trotzkismus« in jener Zeit im Zentralkomitee der Partei einmütig vor.

In der schwierigen Periode der Brester Unterhandlungen hat Stalin in Wirklichkeit überhaupt niemals persönlich Stellung genommen; er zögerte, nahm sich Zeit, hielt den Mund – und manövrierte. »Der Alte rechnet immer noch mit Frieden«, sagte er zu mir, mit dem Kopf auf Lenin weisend, »aber er wird keinerlei Frieden bekommen.« Wahrscheinlich ging er dann zu Lenin und machte dieselben Bemerkungen über mich. Stalin nahm niemals offen Stellung. Allerdings interessierte sich auch niemand besonders dafür, weder für seine Ansichten, noch für seine Widersprüche. Ich bin überzeugt davon, daß mein Hauptziel, dem Weltproletariat unsere Haltung in der Friedensfrage so verständlich wie möglich zu machen, für ihn eine sekundäre Angelegenheit war. Er war an dem »Frieden in einem Lande« interessiert, genau so wie später an dem »Sozialismus in einem Lande«. Bei den entscheidenden Abstimmungen folgte er Lenin. Und erst einige Jahre später, in seinem Kampf gegen den Trotzkismus, nahm er sich die Mühe, sich seinen angeblichen »Standpunkt« hinsichtlich der Brester Ereignisse zu konstruieren. (Vergleichen wir seine Haltung mit der Lenins, der auf dem Siebenten Parteitag vom 8. März, unmittelbar nach der heftigen Fraktionsschlacht sprechend, erklärte:)

 

Ich muß einige Worte über die Position des Genossen Trotzky sagen.
Es ist notwendig, zwei Aspekte seiner Tätigkeit zu unterscheiden; als er die
Verhandlungen in Brest begann und sie in bewundernswürdiger Weise für
die Agitation ausnützte, waren wir alle mit ihm einverstanden ... Später ist
Trotzkys Taktik, insofern sie darauf berechnet war, die Dinge in die Länge
zu ziehen, richtig gewesen. Sie wurde unrichtig, als er vorschlug, den Kriegszustand
als beendet zu erklären, aber nicht den Frieden zu unterzeichnen.
Da aber die Geschichte hierüber hinweggegangen ist, ist es nicht angebracht,
darauf zurückzukommen.

 

Es bestand natürlich ein großer Unterschied zwischen der Politik Lenins in der Brester Krise und der Politik Stalins, die der Sinowjews viel näher kam. Übrigens muß gesagt werden, daß Sinowjew den Mut hatte, die unmittelbare Friedensunterzeichnung zu verlangen, wobei er voraussagte, daß ein Hinauszögern der Verhandlungen nichts anderes bewirken würde als eine Verschlimmerung der Friedensbedingungen. Niemand von uns zweifelte daran, daß es vom »patriotischen« Gesichtspunkt aus viel vorteilhafter gewesen wäre, den Vertrag fristlos zu unterzeichnen, aber Lenin glaubte, daß das Hinauszögern der Verhandlungen als revolutionäre Agitation wirke und daß die Aufgaben der internationalen Revolution vor den patriotischen Überlegungen stünden – vor den territorialen und anderen Bedingungen des Friedensvertrages. Für Lenin handelte es sich darum, uns eine vorteilhafte Pause im Kampf für die internationale Revolution zu sichern. Stalin gab zu, daß die internationale Revolution eine »Möglichkeit« sei, mit der wir zu rechnen hätten. Es ist wahr, daß er seine Erklärungen später modifizierte, vor allem, um sich anderen entgegenzustellen; im wesentlichen aber blieb für ihn die internationale Revolution in jener Zeit wie noch lange später eine leblose Formel, die er in der praktischen Politik nicht anzuwenden wußte.

Gerade in jener Krisenepoche stellte sich heraus, daß die Faktoren der Weltpolitik für Stalin unbekannte Größen waren. Er wußte nichts über sie, und sie interessierten ihn nicht. In der deutschen Arbeiterklasse wurde unter den fortgeschrittensten Elementen leidenschaftlich über die Frage debattiert, warum die Bolschewiki Friedensverhandlungen eingeleitet hatten und sich anschickten, den Frieden zu unterzeichnen. Es fehlte dort nicht an Stimmen, nach denen die Bolschewiki und die Hohenzollernregierung eine abgekartete Komödie spielten. Der Kampf für die Revolution forderte also von uns, den Arbeitern klar zu zeigen, daß wir nicht anders handeln konnten, daß der Feind überall aufmarschierte, daß wir gezwungen waren, den Frieden zu unterzeichnen. Eben aus diesem Grunde war der deutsche Vormarsch der beste Beweis für den Zwangscharakter der Unterzeichnung. Ein Ultimatum Deutschlands hätte nicht genügt, es hätte zum Spiel mit verteilten Rollen gehören können. Etwas ganz anderes war die tatsächliche Bewegung der deutschen Truppen, die Einnahme von Städten, die Erbeutung von Kriegsmaterial. Wir verloren große Reichtümer, aber wir gewannen das politische Vertrauen der Arbeiterklasse der ganzen Welt. Das war der Sinn der Meinungsverschiedenheiten.

 

Nach dem Text der Verfassung setzte sich ein Volkskommissariat aus dem Vorsitzenden (dem Volkskommissar) und einem »Kollegium« von einem halben Dutzend und manchmal einem Dutzend Mitgliedern zusammen. Die Leitung eines Volkskommissariats war keine leichte Aufgabe. Nach Pestkowsky standen »alle Mitglieder des Kollegiums des Kommissariats für Nationalitätenwesen in der nationalen Frage in Opposition zu Stalin, und es kam häufig vor, daß Stalin in der Minderheit blieb«. Der bußfertige Verfasser beeilt sich hinzuzufügen: »Stalin unternahm es, uns umzuerziehen. Bei dieser Aufgabe entfaltete er sehr viel Verstand und Weisheit.« Unglücklicherweise berichtet Pestkowsky darüber keine Details. Hingegen unterrichtet er uns wohl über die originelle Weise, in der Stalin die Konflikte mit seinen Kollegen beilegte. »Manchmal verlor er die Geduld«, schreibt Pestkowsky, »ließ sich aber während der Sitzung nichts anmerken. Bei solchen Gelegenheiten, wenn nach endlosen Diskussionen seine Geduld aufgebraucht war, verschwand er plötzlich mit einer bemerkenswerten Geschicklichkeit ›gerade für einen Moment‹ aus dem Zimmer und versteckte sich in einem abgelegenen Raum im Smolny oder später im Kreml. Es war dann unmöglich, ihn zu entdecken. Anfangs warteten wir, bis er wiederkäme, aber schließlich mußte die Sitzung vertagt werden. Ich blieb allein in unserem gemeinsamen Büro und wartete geduldig auf seine Rückkehr, aber vergeblich. In solchen Augenblicken kam es vor, daß das Telefon klingelte und Lenin Stalin verlangte. Wenn ich antwortete, daß Stalin verschwunden sei, befahl er nur immer das gleiche: ›Suchen Sie ihn sofort!‹ Das war nicht leicht. Ich mußte durch die langen Korridore vom Smolny oder des Kremls laufen, auf der Suche nach Stalin. Ich fand ihn an den unerwartetsten Orten. Zweimal zum Beispiel in der Wohnung eines Matrosen, des Genossen Worontsow; er war in der Küche, lag auf dem Diwan ausgestreckt, rauchte seine Pfeife und sann über seine Thesen.«

Da die besten Kräfte der Partei von militärischen und wirtschaftlichen Aufgaben aufgesogen worden waren, bestand das Kollegium des Volkskommissariats für Nationalitätenwesen aus Leuten minderer Bedeutung. Nichtsdestoweniger kamen diese oft in die Lage, Stalin widersprechen zu müssen und ihm Fragen zu stellen, auf die zu antworten er nicht imstande war. Er hatte die Macht, aber nicht genügend Macht, um etwas zu erzwingen – er mußte überzeugen. Dieser Situation war er nicht gewachsen. Der Widerspruch zwischen seiner tyrannischen Natur und seinen ungenügenden geistigen Kräften brachte ihn in eine unerträgliche Lage. Innerhalb seines eigenen Arbeitsgebietes hatte er keine Autorität. Wenn seine Geduld erschöpft war, versteckte er sich ganz einfach »an den unerwartetsten Orten«. Man kann daran zweifeln, daß er in der Küche des Kommandanten an seine Thesen dachte. Es ist wahrscheinlicher, daß er seine innere Wunde verband und darüber brütete, wieviel besser alles gehen würde, wenn die, die nicht mit ihm einverstanden waren, es nicht zu sagen wagen würden. Doch konnte ihm in jenen Tagen noch nicht in den Sinn gelangen, daß einmal eine Zeit kommen würde, wo er nur zu befehlen brauchte und alle anderen schweigend gehorchen würden.

Nicht weniger pittoresk ist Pestkowskys Beschreibung, wie sie für das Kommissariat in Moskau, wohin die Regierung im März übersiedelte, ein Büro suchten. Die verschiedenen Dienststellen lieferten sich gegenseitig einen heftigen Kampf um die verfügbaren Räume. Anfänglich hatte das Nationalitäten-Kommissariat überhaupt nichts. »Ich bestand aber bei Stalin darauf, und bald war das Kommissariat im Besitz mehrerer Privathäuser. Das Zentralamt für Weißrußland wurde in der Powarskaja untergebracht, die Letten und Esten in der Nikitskaja, die Polen auf dem Arbat, die Juden in der Preschistenska, während die Tataren irgendwo auf einem Quai der Moskwa waren. Außerdem hatten Stalin und ich Büros im Kreml. Stalin war mit dieser Situation sehr unzufrieden. ›Es ist völlig unmöglich, sie alle im Auge zu behalten. Man muß ein Gebäude finden, das groß genug ist, um sie alle unterzubringen.‹ Diese Idee verließ ihn keinen Augenblick mehr. Einige Tage später sagte er zu mir: ›Man hat uns das Grand Hôtel de Sibérie gegeben, aber der Oberste Volkswirtschaftsrat hat es schon in Besitz genommen. Wir werden aber nicht zurückweichen. Sagen Sie der Allilujewa, sie soll folgende Worte auf mehrere Bogen Papier tippen: Diese Büros sind vom Volkskommissariat für das Nationalitätenwesen besetzt! Und nehmen Sie ein paar Reißzwecken mit.‹«

Die Allilujewa, die zukünftige Frau Stalins, war Stenotypistin auf dem Kommissariat. Mit den magischen Papierblättchen und Reißzwecken bewaffnet, fuhren Stalin und sein Assistent vor dem Grand Hôtel de Sibérie vor. »Die Dunkelheit war schon hereingebrochen. Das Hauptportal des Hotels war geschlossen. Es war mit einem Bogen Papier geschmückt, auf dem zu lesen stand: ›Vom Obersten Rat besetztes Gebäude.‹ Stalin riß ihn herunter, und wir brachten unser Papier an seiner Stelle an. ›Jetzt müssen wir versuchen‹, sagte Stalin, ›hier einzudringen.‹ Das war nicht leicht. Unter großen Schwierigkeiten entdeckten wir eine kleine Hintertür. Aus einem unerfindlichen Grunde gab es keinen elektrischen Strom. Wir leuchteten mit Streichhölzern. Im zweiten Stock stolperten wir in einen langen Korridor. Dort befestigten wir unsere Zettelchen an einigen Türen, wie es der Zufall wollte. Als wir wieder fortgehen wollten, hatten wir keine Streichhölzer mehr. In völliger Dunkelheit stiegen wir die Treppen hinunter und kamen schließlich unten an, fast hätten wir uns das Genick gebrochen. Schließlich fanden wir auch den Ausgang und unser Automobil wieder.«

Es bedarf schon einiger Anstrengung der Einbildungskraft, um sich vorzustellen, wie sich ein Mitglied der Regierung nächtlicherweise in ein von einer anderen Regierungsstelle besetztes Gebäude einschleicht, Anschläge abreißt und andere anbringt. Bestimmt wäre keiner der anderen Volkskommissare und kein anderes Mitglied des Zentralkomitees auf die Idee gekommen, etwas Ähnliches zu unternehmen. Wir finden hier den Koba aus der Bakuer Gefängniszeit wieder. Stalin mußte wissen, daß über die Zuerteilung eines Gebäudes letztlich der Rat der Volkskommissare oder das Politische Büro entschied, und es wäre einfacher gewesen, sich an den einen oder das andere zu wenden. Aber Stalin hatte zweifelsohne Gründe anzunehmen, daß der Konflikt nicht zu seinen Gunsten entschieden werden würde, und wollte den Rat vor eine vollendete Tatsache stellen. Sein Manöver schlug aber fehl, das Gebäude wurde dem Obersten Wirtschaftsrat zugesprochen, der ein weitaus wichtigerer Organismus war als Stalins Kommissariat Im Jahre 1930 war Stalin schon allmächtig, aber der staatliche Kult seiner Person stak noch in den Anfängen. Das erklärt die Tatsache, daß man in Pestkowskys Memoiren trotz ihres im allgemeinen panegyrischen Tones eine familiäre Note findet und daß sie sich sogar eine Spur von gutmütiger Ironie erlauben. Einige Jahre später, als die Säuberungen und Exekutionen den Sinn für die notwendige Distanz etabliert hatten, wären Berichte, die Stalin in der Kommandantenküche versteckt oder nachts ein Haus in Besitz nehmend zeigen, unziemlich erschienen und hätten das in Frage stehende Dokument tabu gemacht; sein Verfasser hätte die Verletzung der Etikette teuer bezahlt. (Anmerkung des Verfassers). Abermals mußte Stalin seinen Groll gegen Lenin hinunterschlucken.

Pestkowsky nach ging die Mehrheit des Kollegiums des Nationalitäten-Kommissariats von folgendem Räsonnement aus: »Alle nationale Unterdrückung ist nur ein Ausdruck der Klassenherrschaft. Die Oktoberrevolution hat die Grundlage der Klassenunterdrückung zerstört, infolgedessen ist es nicht notwendig, in Rußland nationale Republiken und autonome Gebiete zu organisieren. Die territoriale Aufteilung muß sich ausschließlich nach den Wirtschaftsgrenzen richten.« Die Opposition gegen Lenins Politik war, so befremdlich das auch zunächst scheinen mag, bei den nichtrussischen Bolschewiki (Letten. Ukrainern, Armeniern, Juden und anderen) besonders stark. Die Bolschewiki der Grenzgebiete, die die Unterdrückung erlitten, kämpften Seite an Seite mit den einheimischen nationalen Parteien und neigten dazu, nicht nur das Gift des Chauvinismus, sondern auch jede Maßnahme fortschrittlichen Charakters zurückzuweisen. Das Kollegium des Nationalitäten-Kommissariats setzte sich aus russifizierten Nichtrussen zusammen, die ihren abstrakten Nationalismus den wirklichen Entwicklungsbedürfnissen der unterdrückten Völkerschaften gegenüberstellten. In Wirklichkeit erhielt diese Politik die alte Tradition der Russifizierung aufrecht und stellte als solche unter den Bedingungen des Bürgerkriegs eine besondere Gefahr dar.

Das Kommissariat für Nationalitätenwesen war geschaffen worden, um alle Völker Rußlands, die der Nationalismus unterdrückt hatte, mittels nationaler Kommissariate zu organisieren. Seine besondere Aufgabe war die Erziehung der Nationalitäten auf sowjetischer Grundlage. Es gab eine Wochenschrift in russischer Sprache, »Das Leben der Nationalitäten«, heraus und mehrere andere Zeitschriften in den verschiedensten nationalen Sprachen. Doch seine Hauptaufgabe blieb die Organisierung der Gebiete und nationalen Republiken, es mußte die notwendigen führenden Kader innerhalb der einzelnen Nationalitäten selbst auffinden und sollte ein Führer sowohl für die neugebildeten territorialen Einheiten sein als auch für die nationalen Minderheiten, die außerhalb eines eigenen Territoriums siedelten. In den Augen der zurückgebliebenen Völkerschaften, die durch die Revolution zum erstenmal zu einer selbständigen nationalen Existenz erweckt worden waren, genoß das Nationalitäten-Kommissariat unangezweifelte Autorität. Es öffnete ihnen die Tür zur Unabhängigkeit im Rahmen des Sowjetregimes. Auf diesem Gebiet war Stalin für Lenin ein unersetzlicher Helfer. Er kannte das Leben der einheimischen Völker des Kaukasus aufs genaueste – wie es nur ein von dort Gebürtiger kennen konnte. Diese Kenntnis lag ihm im Blut. Er liebte die Gesellschaft primitiver Menschen, mit ihnen fand er eine gemeinsame Sprache, er brauchte nicht zu fürchten, daß sie ihm, worin auch immer, überlegen sein könnten, und konnte infolgedessen mit ihnen freundschaftliche und demokratische Beziehungen unterhalten. Lenin schätzte diese Eigenschaften Stalins, die in der Partei nicht häufig zu finden waren; er bemühte sich, Stalins Autorität in den Augen der nationalen Delegationen zu erhöhen. »Sprechen Sie mit Stalin. Er kennt diese Frage gut. Er kennt die Situation, diskutieren Sie die Frage mit ihm.« Solche Empfehlungen wiederholte er Hunderte von Malen. Wenn Stalin wichtige Konflikte mit den nationalen Delegierten oder seinen Mitarbeitern vom Kollegium hatte, ging die Frage an das Politische Büro, wo alle Beschlüsse stets zugunsten Stalins ausfielen. Das mußte seine Autorität in den Augen der führenden Kreise der zurückgebliebenen Nationalitäten stärken: im Kaukasus, an der Wolga, in Asien. Die neue Bürokratie der nationalen Minderheiten wurde später für ihn eine nicht zu unterschätzende Stütze.

Am 27. November 1919 versammelte sich in Moskau der Zweite Allrussische Kongreß der Muselmanischen Kommunistischen Organisationen und der Völker des Orients. Der Kongreß wurde von Stalin im Namen des Zentralkomitees der Partei eröffnet. Vier Ehrenvorsitzende wurden gewählt: Lenin, Trotzky, Sinowjew und Stalin. Der Kongreßpräsident, Sultan-Galijew, schlug dem Kongreß vor, Stalin als »einen der Kämpfer, die von Haß gegen den Weltimperialismus entflammt sind«, zu begrüßen. Es ist indes absolut charakteristisch für die Bedeutung, die den Führern jener Zeit selbst auf diesem Kongreß zuerkannt wurde, daß der Bericht Sultan-Galijews über die allgemeine politische Lage mit den Worten endete: »Es lebe die Russische Kommunistische Partei! Es leben ihre Führer, die Genossen Lenin und Trotzky!« Selbst auf diesem Kongreß der Orientvölker, die unter der persönlichen Führung Stalins standen, schien es nicht notwendig, Stalin zu den Führern der Partei zu zählen.

Stalin war Nationalitätenkommissar vom Anfang der Revolution bis zur Auflösung des Kommissariats im Jahre 1923, die durch die Bildung der Sowjetunion und des Nationalitätenrates des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR veranlaßt wurde. Man kann als feststehend ansehen, daß sich Stalin bis zum Mai 1919 nicht viel mit den Angelegenheiten des Kommissariats beschäftigte. Anfänglich schrieb Stalin keine Leitartikel im »Leben der Nationalitäten«, als die Zeitung aber später Großformat annahm, erschien in jeder Nummer ein Leitartikel von ihm. Stalins literarische Produktion blieb aber sehr beschränkt und ging von Jahr zu Jahr zurück. In den Jahrgängen 1920-1921 finden sich nur zwei oder drei Artikel von ihm, 1922 nicht ein einziger. Zu dieser Zeit war Stalin vollständig von politischen Machinationen in Anspruch genommen.

Im Jahre 1922 erklärte das Redaktionskomitee der Zeitung: »Zu Beginn der Veröffentlichung des ›Lebens der Nationen‹ nahm der Genosse Stalin, Volkskommissar für das Nationalitätenwesen, starken Anteil daran. Er schrieb in dieser Zeit nicht nur die Leitartikel, sondern häufig auch eine Informationsrubrik, Notizen über das Leben der Partei usw. ...« Liest man diese Beiträge nach, so begegnet man wieder dem ehemaligen Redakteur der Tifliser Publikationen und dem der »Prawda« aus dem Petersburg von 1913.

Er hatte oft Veranlassung, dem Osten seine Aufmerksamkeit zu widmen. Das war eine der leitenden Ideen Lenins, auf die man in vielen seiner Reden und Artikel stößt. Zweifellos war das Interesse, das Stalin dem Orient widmete, in hohem Maße persönlich bedingt. Er stammte selbst von dort her; während er sich vor Vertretern des Abendlandes, dessen Lebensweise ihm fremd und dessen Sprachen ihm nicht geläufig waren, immer völlig verloren fühlte, hatte er in Gesellschaft von Vertretern der zurückgebliebenen Orientvölker unvergleichlich mehr Selbstvertrauen und befand sich auf einem viel solideren Terrain; er war der Kommissar, von dem weitgehend ihr Schicksal abhing. Bei Lenin aber waren die den Orient und den Okzident betreffenden Perspektiven eng miteinander verknüpft. 1918 standen die Westprobleme im Vordergrund, der Krieg ging zu Ende, Aufstände brachen in allen Ländern, Revolutionen in Deutschland, Österreich und anderswo aus. Stalins »Vergeßt den Osten nicht!« betitelter Artikel erschien in der Nummer vom 24. November 1918, eben zum Zeitpunkt der Revolutionen in Österreich-Ungarn und Deutschland. Wir alle hielten diese Revolutionen für die Vorboten der sozialistischen Revolution in Europa. Und eben da schrieb Stalin, daß »ohne revolutionäre Bewegung im Osten an einen Sieg des Sozialismus unmöglich zu denken« sei – mit anderen Worten, Stalin hielt den Endsieg des Sozialismus für unmöglich, nicht nur in Rußland, sondern auch in Europa, ohne das revolutionäre Erwachen des Ostens. Das war eine Wiederholung der Leitidee Lenins. Diese Wiedergabe von Ideen rührte aber nicht nur von der Arbeitsteilung, sondern auch von geteilten Interessen her. Stalin hatte zu den westlichen Revolutionen absolut nichts zu sagen. Er kannte weder Deutschland noch dessen Leben und Sprache; er konzentrierte sich auf den Osten.

Am 1. Dezember 1918 schrieb Stalin im »Leben der Nationalitäten« einen Artikel, betitelt »Die Ukraine ist befreit«. Immer in derselben Rhetorik des alten Seminaristen, mit immer denselben Wiederholungen: »Wir zweifeln nicht daran, daß die neue ukrainische Sowjetregierung imstande sein wird, den neuen ungebetenen Gästen, den Sklavenhaltern aus England und Frankreich, siegreich zu widerstehen. Wir zweifeln nicht daran, daß die ukrainische Sowjetregierung deren reaktionäre Rolle entlarven wird ...« usw. ad nauseam. In einem Artikel vom 22. Dezember 1918 in derselben Zeitschrift schrieb Stalin: »Mit Hilfe der besten kommunistischen Kräfte ist der sowjetische Staatsapparat (in der Ukraine) wiederhergestellt worden. Die Mitglieder des Zentralkomitees der Sowjets der Ukraine haben den Genossen Pjatakow an ihrer Spitze ... Die besten kommunistischen Kräfte, die die Regierung der Ukraine bildeten, waren: Pjatakow, Woroschilow, Sergujew (Artem), Kwiring, Satonsky, Kotsubinsky.« Von all diesen ist allein noch Woroschilow, der Marschall geworden ist, am Leben. Sergujew (Artem) kam durch einen Unfall um, alle anderen sind hingerichtet worden oder spurlos verschwunden. Das war das Schicksal der »besten kommunistischen Kräfte«.

Am 23. Februar veröffentlichte Stalin einen Leitartikel »Zwei Lager«, in dem er sagte: »Die Welt ist entschieden und endgültig in zwei Lager aufgeteilt – das Lager des Imperialismus und das Lager des Sozialismus ... Die Welle der sozialistischen Revolution schwillt unaufhörlich an und bestürmt die Festungen des Imperialismus ...« Der Wellen ungeachtet sind diese Bilder nur Klischees, die miteinander nicht übereinstimmen; in dieser Prosa spürt man hinter dem bürokratischen Pathos einen unleugbaren Akzent von Unaufrichtigkeit. Am 9. März 1919 schlußfolgert ein anderer Artikel »Zwei Jahre danach«: »Die Erfahrung hat in diesen zwei Jahren des Kampfes des Proletariats vollständig bestätigt, was der Bolschewismus vorhergesehen hatte ... die Unvermeidlichkeit der proletarischen Weltrevolution ...« In jenen Tagen reduzierten sich die Perspektiven des Bolschewismus nicht auf den Sozialismus in einem Lande ... Alle anderen Artikel waren von demselben Schlage, völlig ohne Originalität im Denken und ohne Anziehungskraft in der Form.

 

Der erste Kongreß der tschuwaschischen Kommunisten fand im April 1920 statt, also zwei Jahre nach der Errichtung der Sowjetregierung. Ehrenvorsitzende waren wiederum Lenin, Trotzky, Sinowjew und Stalin. Bei der Beschreibung der Eröffnung des Kongresses gibt die Zeitung des Nationalitäten-Kommissariats an, daß die Wände mit den Bildern der Führer der Weltrevolution geschmückt waren, denen von Karl Marx, Lenin, Trotzky und Sinowjew. In jener Epoche gab es noch keine Stalin-Porträts; der Kongreß lag indes völlig innerhalb seines Betätigungsfeldes.

Am 7. November, das heißt also am dritten Jahrestag der Oktoberrevolution, finden wir Stalin in Baku, wo er auf einer feierlichen Sitzung des Sowjets das Wort ergreift, um einen Bericht über »Drei Jahre proletarische Diktatur« zu geben. Auf dem Kongreß der daghestanischen Völker vom 13. November proklamierte Stalin die Autonomie Daghestans. »Die Rede des Genossen Stalin«, schreibt die Zeitschrift des Nationalitäten-Kommissariats, »wurde mehrmals vom Beifallsdonner und von der ›Internationale‹ unterbrochen und endete in einer stürmischen Ovation.« Am 17. November, auf dem Kongreß der Völker des Terek-Gebietes in Wladikawkas proklamierte Stalin »die sowjetische Autonomie des guwerianischen Volkes«. Vom 18. bis zum 21. Dezember 1918 fand die erste allrussische Konferenz der Vertreter der autonomen Republiken, Territorien und Regionen statt. Sie wurde von Kaminsky im Namen Stalins, der durch Krankheit am Erscheinen verhindert war, begrüßt. Eine Glückwunschadresse an Stalin wurde einstimmig angenommen. Über den Kongreß der Orientvölker aber sagt der Bericht: »Zu Ehrenvorsitzenden des Kongresses wurden gewählt die Genossen Lenin, Sinowjew und Trotzky (Beifallssturm). Zu Mitgliedern des Ehrenbüros wurden gewählt ... und als letzter Dschugaschwili-Stalin.«

In Wien hatte Stalin unter Lenins Anleitung ein brauchbares Werk über das nationale Problem geschrieben, aber sein Versuch, diese Arbeit in Sibirien selbständig fortzusetzen, hatte zum Ergebnis gehabt, daß Lenin schon allein die Veröffentlichung des Artikels für unmöglich hielt. Auf der Märzkonferenz von 1917 hatte Stalin die Meinung geäußert, daß die nationale Unterdrückung ein Produkt des Feudalismus sei, und hatte den Imperialismus als Hauptfaktor der nationalen Unterdrückung in unserer Epoche ganz aus den Augen verloren. 1923 stellte er den großrussischen Nationalismus – der eine lange Tradition in der Unterdrückung kleiner Völker hinter sich hatte – auf die gleiche Linie mit dem defensiven Nationalismus der kleinen Nationen. Diese grobschlächtigen Irrtümer – stalinistische Irrtümer, in ihrer Gesamtheit genommen – erklären sich, wie wir schon gezeigt haben, aus der Tatsache, daß ihr Urheber sich niemals zu einer systematischen Konzeption aufgeschwungen hat. Er benützt einzelne Lehrsätze des Marxismus, wie er sie im Augenblick braucht, wählt sie aus, wie man Schuhe ihrer Nummer nach beim Schuster aussucht. Deshalb widerspricht er sich mit solcher Leichtigkeit, wenn sich die Situation plötzlich verändert. Selbst auf seinem ureigensten Gebiete, dem Nationalitätenproblem, konnte Stalin nie zu einer korrekten Gesamtauffassung kommen.

»Die Anerkennung des Lostrennungsrechts heißt nicht, daß wir die Lostrennung empfehlen«, schrieb er in der »Prawda« vom 10. Oktober 1920. »Die Lostrennung der Grenzgebiete würde die revolutionäre Macht Zentralrußlands untergraben haben, das die Befreiungsbewegung im Westen und im Osten förderte. Die durch die Lostrennung isolierten Gebiete wären selbstverständlich unter die Fuchtel des Weltimperialismus geraten. Es genügt sich anzusehen, was in Georgien, Armenien, Polen, Finnland usw. vor sich gegangen ist, die sich von Rußland nur um des Scheins der Unabhängigkeit willen losgetrennt haben, während sie in Wirklichkeit einfach Vasallen der Entente geworden sind. Es genügt, sich die jüngste Geschichte der Ukraine und Aserbeidschans in Erinnerung zu rufen, wovon die erstere dem deutschen Imperialismus und das zweite der Entente unterworfen ist, um vollständig den konterrevolutionären Charakter der Forderung nach Lostrennung eines Grenzlandes unter den gegenwärtigen internationalen Bedingungen zu begreifen.«

»Die von Norden kommende revolutionäre Welle«, schrieb Stalin am ersten Jahrestag der Oktoberrevolution, »hat sich über ganz Rußland ausgebreitet und eine Grenze nach der anderen erreicht. Aber sie hat sich an einem Wall von ›Nationalräten‹ und territorialen ›Regierungen‹ gebrochen (Don, Kuban, Sibirien), die sich sogar schon vor dem Oktober gebildet haben. Bürgerlich von Natur aus, wünschen sie überhaupt nicht die Zerstörung der alten bürgerlichen Welt. Im Gegenteil, sie betrachten es als ihre Pflicht, sie mit allen ihren Kräften zu verteidigen. Sie werden natürlich Herde der Reaktion und sammeln um sich alles, was in Rußland konterrevolutionär war. Aber der Kampf der ›Nationalregierungen‹ (gegen das sowjetische Zentrum) war ein ungleicher Kampf. Von zwei Seiten zugleich angegriffen, von außen her durch die Sowjetregierung und im Innern von ihren eigenen Arbeitern und Bauern, waren die ›Nationalregierungen‹ gezwungen, nach der ersten Schlacht den Rückzug anzutreten. Im völligen Niedergang begriffen, wandten sich die ›Nationalregierungen‹ an die Imperialisten des Westens, um Hilfe gegen ihre eigenen Arbeiter und Bauern zu erbitten.«

So begannen die ausländischen Interventionen und die Besetzung der vorwiegend von nichtrussischen Völkern besiedelten Randgebiete, die die Koltschak, Denikin, Wrangel und ihre imperialistische Russifizierungspolitik nur hassen konnten.

Nach der Ausrufung der autonomen Baschkiren-Republik im November 1917 gewann die Sympathie für das Sowjetregime die Massen. Die Regierung dieses Volkes lag in den Händen nationalistischer Elemente, geführt von Sak-Walidow, der die Interessen des bürgerlich-kulakischen Bevölkerungsteils vertrat. Gradweise degenerierte diese Gruppe zur Vorhut der antisowjetischen Aktivität und stellte mit Dutow und Koltschak Kontakt her. Unter dem Druck der Massen und nach der Aufhebung der Autonomie durch Koltschak wurde Sak-Walidow jedoch gezwungen, mit der Sowjetregierung Verhandlungen aufzunehmen. Im Februar 1919, nach der Vertreibung Koltschaks, ging die baschkirische Regierung auf die Seite der Sowjetregierung über, und am Ende desselben Monats unterzeichneten ihre Delegierten in Simbirsk, im Hauptquartier der Ostfront, ein vorläufiges Abkommen, das die Selbständigkeit des baschkirischen Volkes unter der Bedingung garantierte, daß es eine Regierung auf der Basis der Sowjetverfassung gründe, eine gemeinsame Aktion baschkirischer Kampfabteilungen und der Roten Armee gegen die Weißen vorbereite usw.

Anfang März 1919 nahm Stalin in Moskau Verhandlungen mit der baschkirischen Delegation zur Bildung der baschkirischen Sowjetregierung auf. Infolge der militärischen Rückschläge, die wir bei Ufa erlitten hatten, war ich gezwungen, Moskau in den ersten Tagen des März zu verlassen und konnte also am achten Parteitag nicht teilnehmen. Stalin blieb ruhig in Moskau auf dem Parteitag und führte die Verhandlungen mit den Delegierten bis zum 20. März weiter. Der Name Stalin wird jedoch im Zusammenhang damit von den zeitgenössischen Historikern Baschkiriens kaum erwähnt. (Die beiden folgenden Zitate, das erste von Antagulow, das zweite von Samoilow, sind in dieser Hinsicht typisch:)

(1.) Der Kampf zwischen Russen und Baschkiren verschärfte sich; das Chaos war auf dem Höhepunkt angelangt. In der einen Region wurden die Russen auf Befehl der baschkirischen Regierung verhaftet, in der anderen waren es die Baschkiren, die auf Befehl der örtlichen Regierung verhaftet wurden. Die Reise des Genossen Trotzky nach Ufa fiel mit dieser Bewegung (März 1920) zusammen. Zwischen den baschkirischen Vertretern und der Sowjetregierung in der Person des Genossen Trotzky fanden Besprechungen statt, die als Grundlage für eine Übereinkunft dienten.

(2.) Nach einer aus Baschkirien erhaltenen Information verfolgt die Zentrale aufmerksam die baschkirische Frage. Mitte März berief Genosse Trotzky, der mit Sondervollmachten in Ufa eingetroffen war, eine Konferenz ein. Die Baschkiren waren dort durch Walidow, Tukwatulin, Rakamatuwin und Kaspransky vertreten; Dudnik, Samoilow, Sergujew (Artem) und Preobraschensky vertraten das Gebietskomitee und die Zentrale; der Vorsitzende des Provisorischen Exekutivkomitees von Ufa, Elstin, nahm gleichfalls teil.

Während der ersten Jahre des Sowjetregimes war der Bolschewismus in der Ukraine nur schwach verwurzelt. Der Grund für diese Schwäche ist in der nationalen und sozialen Struktur dieses Landes zu suchen. Die Städte, deren Bevölkerung sich aus Großrussen, Juden, Polen und einem geringen Anteil von Ukrainern zusammensetzt, hatten in starkem Maße Kolonialcharakter. Unter den Industriearbeitern der Ukraine war ein hoher Prozentsatz Großrussen. Zwischen der Stadt und dem Dorf klaffte ein Spalt, ein fast unübersteigbarer Abgrund. Jene ukrainischen Intellektuellen, die sich vor allem für das Dorf, die ukrainische Kultur und Sprache interessierten, wurden von den Städtern mit einer gewissen Ironie angesehen, was dazu führte, daß sie dem Chauvinismus in die Arme getrieben wurden. Die nicht-ukrainischen sozialistischen Gruppierungen in den Städten hatten für die dörflichen Massen keine Sympathie. In den ukrainischen Städten vertraten sie die Kultur der Großrussen, mit der die meisten von ihnen, besonders die jüdischen Intellektuellen, allerdings nicht besonders vertraut waren; daher zum großen Teil der exotische Charakter des ukrainischen Bolschewismus, sein Nichtvorhandensein in dem Augenblick, wo er sich hätte fest in den ukrainischen Boden verwurzeln können, seine große Unabhängigkeit, schließlich die zahllosen Konflikte und Streitigkeiten und die permanenten fraktionellen Kämpfe.

Stalins Pflicht als Nationalitätenkommissar war es, sorgfältig die Entwicklung der nationalistischen Bewegung in der Ukraine zu verfolgen. Seinem Amte nach war er enger mit der ukrainischen bolschewistischen Partei verbunden als andere. Diese enge Verbindung ging auf 1917, die Zeit gleich nach der Oktoberrevolution, zurück, und erhielt sich während mehrerer Jahre. In der Ukraine vertrat Stalin das russische Zentralkomitee der Bolschewiki. Andererseits vertrat er auf gewissen Parteikongressen die ukrainischen Organisationen; das war damals die Regel. Er nahm an den Konferenzen der ukrainischen kommunistischen Partei als einer ihrer eigenen Führer teil, und da das Leben der ukrainischen Organisation vor allem aus Konflikten, unaufhörlichen Streitereien und fraktionellen Gruppierungen bestand, fühlte sich Stalin dort wie der Fisch im Wasser.

Seine ukrainische Periode war voller Fehlschläge, doch wurde über sie nichts veröffentlicht. (Die offiziellen stalinistischen Historiker, gezwungen, diese Fehlschläge einen nach dem anderen aufzuzählen, hüten sich sorgsam, seinen Namen zu erwähnen. Sie sagen nicht, daß bei der endgültigen Regelung »die in der Ukraine im Jahre 1919 begangenen Irrtümer in der Bauern- und der nationalen Frage, die zum Sturz der Sowjetregierung beitrugen«, der völligen Unfähigkeit Stalins, die vom Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei ausgearbeitete Politik zu verteidigen, zu verdanken waren. Diese Unfähigkeit hervorhebend, sagte Lenin: »Ein sehr kleiner Teil gut organisierter Güter hätte in Sowjetgüter umgewandelt werden müssen, anders war es nicht möglich, mit der Bauernschaft einen Block zu bilden ... Eine Politik ähnlich der von Ende 1917 und während eines großen Teils von 1918 war damals notwendig ... Wir sind also jetzt gezwungen, eine allgemeine Verteilung von Land vorzunehmen, das einer großen Zahl von Sowjetgütern gehört.«)

(Auf der vierten Konferenz der ukrainischen Partei vom 16. März 1920 stand Stalin als der mit der Verteidigung der Resolution des Komitees zur ukrainischen Frage beauftragte Vertreter des Zentralkomitees einer aus den verschiedensten Elementen Zusammengesetzen Opposition gegenüber, deren aggressivste Kräfte die Angehörigen der Tendenz »Demokratischer Zentralismus« von Sapronow waren, die auf der allrussischen Parteikonferenz im Dezember geschlagen worden war. Die Argumente dieser Opposition waren also alle im voraus bekannt, und das Nationalitäten-Kommissariat veröffentlichte eine schriftliche Widerlegung dieser Argumente durch Trotzky, dem diese Aufgabe vom Politbüro übertragen worden war. Stalin erlitt nichtsdestoweniger auf der ukrainischen Konferenz eine Niederlage. Das Zentralkomitee mußte eingreifen, indem es die Auflösung des ukrainischen Komitees verfügte und eine große Zahl vom großrussischen Chauvinismus angesteckter Beamten zurückberief. Der wesentliche Teil der vom Zentralkomitee im Dezember 1919 angenommenen Resolution lautete folgendermaßen:)

In Anbetracht der Tatsache, daß die ukrainische Kultur... jahrhundertelang vom Zarismus und den russischen Ausbeuterklassen niedergehalten worden ist, macht das Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei allen seinen Mitgliedern zur Pflicht, mit allen Mitteln die Hindernisse niederringen zu helfen, die sich einer freien Entwicklung der ukrainischen Kultur und Sprache entgegenstellen. Als Folge einer jahrhundertelangen Unterdrückung existieren unter den zurückgebliebenen Teilen der ukrainischen Massen nationalistische Tendenzen, und es ist deshalb die Pflicht der Parteimitglieder, sich diesen gegenüber tolerant und geduldig zu zeigen und in freundschaftlicher Auseinandersetzung die Einheit der Interessen der werktätigen Massen der Ukraine und Rußlands zu unterstreichen. Die Parteimitglieder müssen das Recht der werktätigen Massen, in der ukrainischen Sprache zu studieren und sie in allen sowjetischen Institutionen zu gebrauchen, sichern.

Das war eine äußerst leicht zu verteidigende These. Obschon bekannt war, daß Stalin kein brillanter »Debattierer« war, erklärte sich seine Niederlage angesichts des Kräfteverhältnisses auf der Konferenz doch nur schwer. Es ist durchaus möglich, daß sich Stalin, nachdem er gesehen hatte, daß die Atmosphäre auf der Konferenz seiner These nicht günstig war, dafür entschied, alles auf eine Karte zu setzen, und daß er durch Mittelsmänner verlauten ließ, daß er seine These nur aus Disziplin, nicht aber aus persönlicher Überzeugung vertrete. So konnte er hoffen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: die Sympathie der ukrainischen Delegierten zu gewinnen und die Verantwortung für die Niederlage auf mich als den Verfasser der These abzuschieben. Eine solche Intrige lag durchaus in seinem Charakter.

Die georgische Sozialdemokratie beschränkte ihre Ambitionen nicht auf die verarmte Bauernschaft Kleingeorgiens. Sie strebte auch, und nicht ohne einen gewissen Erfolg, nach der Führung der Bewegung »der revolutionären Demokratie ganz Rußlands«. Während der ersten Revolutionsmonate betrachteten die führenden Kreise der georgischen Intelligenz Georgien nicht als ein nationales Vaterland, sondern als eine Gironde, eine südliche Provinz, dazu ausersehen, dem Lande die Führer zu geben. Aber dieser Geisteszustand konnte nur so lange währen, wie die Hoffnung anhielt, daß die Revolution im Rahmen einer bürgerlichen Demokratie bleiben würde. Als sich die Gefahr eines Sieges des Bolschewismus klar abzeichnete, brach die georgische Sozialdemokratie unmittelbar alle Bande, die sie mit den russischen Versöhnlern verknüpften, und vereinigte sich mit den reaktionären Elementen Georgiens selbst. Als die Sowjets gewannen, wurden die Champions des einen und unteilbaren Rußlands zu feurigen Champions des Separatismus ...

(Folgende Dokumente werfen ein neues Licht auf die Sowjetisierung Georgiens:)

 

(1.) An das revolutionäre Kriegskomitee der Kaukasusfront. Für Ordschonikidse.

Ihren Brief mit den Beanstandungen erhalten. Sie haben unrecht, meine Untersuchung, die meine Pflicht ist, für einen Mangel an Vertrauen zu halten. Ich hoffe, daß Sie vor unserer Begegnung diesen unangebrachten, beleidigenden Ton wegfallen lassen.

3. April 1920.

Lenin.

 

(2.) An Baku über Rostow.

An das Mitglied des Revolutionären Kriegsrates für die Kaukasusfront, Ordschonikidse.

Das Zentralkomitee erteilt Ihnen den Befehl, alle Einheiten aus dem Territorium von Georgien zurückzuziehen, sie bis an die Grenze zu führen und jeden Einfall nach Georgien zu verhindern. Nach den Verhandlungen mit Tiflis ist es klar, daß ein Frieden mit Georgien nicht ausgeschlossen ist.

Senden Sie sofort genaueste Information bezüglich der Rebellen.

5. Mai 1920. Auf Anordnung des Politischen Büros,

Lenin, Stalin.

 

(3.) (Maschinegeschriebener Brief der Dienststelle des Oberbefehlshabers an alle bewaffneten Streitkräfte der Republik; datiert Moskau, den 17. Februar 1921, der den Vermerk trägt: »Geheim, Persönlich, An den Vizepräsidenten des Revolutionären Kriegskomitees der Republik.« Hier folgt der Hauptteil des Textes:)

Auf die Initiative des Kommandanten der Zweiten Armee hin sehen wir uns der vollendeten Tatsache eines Einfalls in Georgien gegenüber; die Grenzen Georgiens sind überschritten worden, und die Rote Armee hat den Kontakt mit der Armee von Georgien schon aufgenommen.

Der Oberbefehlshaber: S. Kamenew.
Der Militärkommissar: S. Danilow.
Der Chef des Generalstabs: P. Lebedew.

   

(4.) Jekaterinenburg.
Geheim.
An Moskau. An Skljansky.

Wollen Sie mir ein kurzes Memorandum über die Frage der militärischen Operationen gegen Georgien einsenden: wann diese Operationen begonnen haben, auf wessen Befehl und das übrige. Ich brauche dieses Memorandum für die Vollsitzung.

21. Februar 1921.

Trotzky.

 

(5.) (Von Lenin geschrieben; Kopie eines Geheimdokumentes.)

Das Zentralkomitee war geneigt, der Zweiten Armee zu erlauben, die Erhebung in Georgien und die Besetzung von Tiflis aktiv zu unterstützen, unter Beobachtung der internationalen Bräuche und unter der Bedingung, daß alle Mitglieder des Kriegskomitees der Zweiten Armee nach einer genauen Untersuchung der Situation des Erfolges sicher seien. Wir weisen Sie darauf hin, daß wir hier ohne Brot sind, infolge Transportmangels, und daß wir Ihnen infolgedessen weder einen Zug noch einen einzigen Lastwagen geben können. Wir sind darauf angewiesen, vom Kaukasus sowohl Getreide als auch Petroleum zu erhalten. Wir verlangen eine unmittelbare, von allen Mitgliedern des Revolutionären Kriegskomitees und auch von Smilga, Sytin, Trifonow, Frumkin unterzeichnete Antwort. Unternehmen Sie nichts Entscheidendes bis zu unserer Antwort auf die Telegramme aller dieser Personen.

Auf Befehl des Zentralkomitees:

Krestinsky, Skljansky.

 

(6.) Der Genosse Skljansky hat in unserer Gegenwart diesen Text sofort in Kodeschrift übertragen, nachdem er das Original fotografiert hatte, und ihn an Smilga übersandt, der damit beauftragt ist, persönlich die Dechiffrierung vorzunehmen. Informieren Sie den Oberbefehlshaber, ohne ihm die Depesche zu zeigen. Stalin wird Ordschonikidse selbst in Kenntnis setzen. Unter Ihrer Verantwortung.

Lenin.

(Von der Hand des Genossen Lenin geschrieben.)

 

Das menschewistische Georgien konnte sich nicht halten. Das war jedem von uns klar. Jedoch waren wir nicht einer Meinung über den Zeitpunkt und die Methoden der Sowjetisierung. Ich meinerseits war Anhänger einer gewissen Periode der Vorbereitungsarbeit im Innern des Landes, um die Entwicklung der Erhebung verfolgen und ihr später zu Hilfe kommen zu können. Ich meinte, daß nach dem Friedensschluß mit Polen und der Niederschlagung Wrangels Georgien keine unmittelbare Gefahr darstellen und die Lösung aufgeschoben werden konnte. Ordschonikidse, von Stalin unterstützt, bestand darauf, daß die Rote Armee unmittelbar in Georgien einfalle, in der Annahme, daß die Erhebung gereift sei. Lenin neigte dazu, den Gesichtspunkt der beiden georgischen Mitglieder des Zentralkomitees zu teilen. Die Frage wurde vom Politischen Büro am 14. Februar 1921 entschieden, als ich im Ural war.

Die militärische Intervention entwickelte sich mit Erfolg und rief keinerlei internationale Verwicklungen hervor, wenn man von dem frenetischen Entrüstungssturm der Bourgeoisie und der Zweiten Internationale absieht. Jedoch war es äußerst wichtig, welche Methode der Sowjetisierung Georgiens während der unmittelbar folgenden Jahre angewandt wurde. In den Gebieten, in denen die arbeitenden Massen schon vor der Revolution zum Bolschewismus übergegangen waren, nahmen sie die daraus resultierenden Leiden und Schwierigkeiten, als mit ihrer eigenen Sache verbunden, auf sich. In den weniger fortgeschrittenen Gebieten, wo die Sowjetisierung von der Armee durchgeführt wurde, war dem nicht so. Dort hielten die arbeitenden Massen die Entbehrungen für das Ergebnis eines von außen aufgezwungenen Regimes. In Georgien stärkte die vorzeitige Sowjetisierung während einer gewissen Zeit die Menschewiki und führte zu dem bedeutenden Massenaufstand von 1924, nach dem, laut Stalins eigenem Eingeständnis, Georgien »neu umgepflügt« werden mußte.


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