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Über fünf Jahre lang (1906-1911) war Stolypin Herr und Meister des Landes. Er erschöpfte alle Mittel und Möglichkeiten der Reaktion. Das »Regime des Dritten Juni« brachte es fertig, auf allen Gebieten Bankrott zu machen, besonders auf dem der Landwirtschaft. Stolypin war genötigt, von den politischen Kombinationen zum Polizeiknüttel herabzusteigen. Und wie um den Zusammenbruch des Systems noch deutlicher zu machen, kam der Mörder Stolypins aus den Reihen seiner eigenen Geheimpolizei.
Im Jahre 1910 wurde der industrielle Aufschwung zur unbezweifelbaren Tatsache. Die revolutionären Parteien standen vor der Frage: welche Auswirkungen würde die veränderte Lage auf die politische Situation des Landes haben? Die Mehrheit unter den Sozialdemokraten hielt an einer schematischen Stellungnahme fest: die Krise revolutioniert die Massen, der industrielle Aufstieg stellt sie zufrieden. Beide Fraktionen, Bolschewiki und Menschewiki, hatten die Tendenz, den neuen Aufschwung, der schon begonnen hatte, in seiner Bedeutung zu mindern oder ihn überhaupt zu leugnen. Eine Ausnahme machte die Wiener Zeitung »Prawda«, die ungeachtet ihrer versöhnlerischen Illusionen den völlig richtigen Standpunkt vertrat, daß die politischen Konsequenzen sowohl eines Aufstiegs als auch einer Krise keineswegs automatisch sind, sondern jedesmal von neuem in Abhängigkeit von den voraufgegangenen Kämpfen und der ganzen Lage des Landes bestimmt werden. So kann sich in der Folge eines industriellen Aufschwungs, in dessen Verlauf ausgedehnte Streikkämpfe stattgefunden haben, bei einem plötzlichen Konjunkturrückschlag eine direkte revolutionäre Bewegung entwickeln, wenn die sonstigen dazu notwendigen Vorbedingungen erfüllt sind. Andererseits kann eine industrielle Krise nach einer langen Periode revolutionärer Kämpfe, die mit einer Niederlage geendet haben, das Proletariat schwächen und uneinig machen und seinen Kampfgeist endgültig brechen. Oder aber, tritt ein industrieller Aufschwung nach einer langen Periode der Reaktion ein, so ist er imstande, die Arbeiterbewegung von neuem zu beleben, vor allem in Form von wirtschaftlichen Kämpfen, wonach eine neue Krise die Energie der Massen wieder in politische Bahnen lenken kann.
Der Russisch-Japanische Krieg und die revolutionären Erschütterungen hatten Rußland gehindert, an dem industriellen Aufschwung in der Welt von 1903 bis 1907 teilzunehmen. In der Zwischenzeit hatten die unaufhörlichen revolutionären Kämpfe, die Niederlagen und die Repression die Kraft der Massen aufgebraucht. Die industrielle Weltkrise, die im Jahre 1907 ausbrach, verlängerte die Depression in Rußland um drei weitere Jahre und, weit entfernt davon, die Arbeiterschaft zu neuen Kämpfen zu ermuntern, zermürbte und schwächte sie diese mehr denn je. Unter den Schlägen der Aussperrungen, der Arbeitslosigkeit und des Elends verloren die erschöpften Massen jeden Mut. Solcherart war die materielle Basis der »Erfolge« der Stolypinschen Reaktion. Das Proletariat brauchte den Jungbrunnen eines neuen industriellen Aufschwungs, um wieder Kräfte zu sammeln, seine Reihen wieder aufzufüllen, sich wieder als unentbehrlicher Produktionsfaktor zu fühlen und neue Kämpfe zu wagen.
Ende 1910 fanden wieder Straßendemonstrationen statt die man seit langem nicht mehr gesehen hatte –, und zwar im Zusammenhang mit dem Tode von Muromtsew, dem liberalen ehemaligen Vorsitzenden der Ersten Duma, und von Leo Tolstoi. Die Studentenbewegung trat in eine neue Phase ein. Oberflächlich betrachtet – wie es der historische Idealismus gewöhnlich tut – konnte es scheinen, als läge die Brutstätte der politischen Neubelebung innerhalb einer dünnen Schicht von Intellektuellen, die durch die Kraft ihres Beispiels die oberen Schichten der Arbeiterklasse nach sich zu ziehen begännen. In Wirklichkeit aber ging der Anstoß zu der neuen Welle nicht von oben aus, sondern von unten. Dank der wirtschaftlichen Wiederbelebung erwachte die Arbeiterschaft nach und nach aus der Betäubung. Bevor jedoch der chemische Wandlungsprozeß in den Massen offen zum Ausdruck kam, übertrug er sich durch die sozialen Zwischenschichten auf die Studenten. Die akademische Jugend setzt sich leichter in Bewegung – deshalb äußerte sich die Wiederbelebung zuerst in Form studentischer Kundgebungen. Doch für den geübten Beobachter war es von vornherein klar, daß die Intellektuellenkundgebungen nur Symptome eines viel tiefer liegenden und bedeutenderen Prozesses im Proletariat waren.
So begann denn auch die Kurve der Streikbewegungen bald anzusteigen. Allerdings erreichte die Zahl der Streikenden im Jahre 1911 höchstens 100 000 (im Vorjahre hatte sie nicht die Hälfte davon betragen), jedoch zeigt die Langsamkeit des Wiedererwachens nur, wie tief die zu überwindende Betäubung war. Auf alle Fälle boten die Arbeiterbezirke am Ende des Jahres einen ganz anderen Anblick als am Anfang. Auf die guten Ernten der Jahre 1909 und 1910, die den Aufschwung der Industrie beschleunigten, folgte die katastrophale Mißernte von 1911, die, ohne die industrielle Wiederbelebung aufzuhalten, zwanzig Millionen Bauern in eine Hungersnot stürzte. Die von den Dörfern ausgehende Unruhe setzte von neuem die Agrarfrage auf die Tagesordnung. Die bolschewistische Konferenz vom Januar 1912 stellte mit vollem Recht den »Anfang einer politischen Wiederbelebung« fest. Ein plötzlicher Umschwung fand jedoch erst im Frühjahr 1912 statt, nach der bekannten Niedermetzelung der Arbeiter an der Lena. In der tiefsten »Taiga«, über 7000 Werst von Petersburg und 2000 Werst von der nächsten Bahnlinie entfernt, forderten die Parias der Goldminen, die jedes Jahr Millionen von Profit für die englischen und russischen Aktionäre abwarfen, den Achtstundentag, Lohnerhöhungen und die Abschaffung der Geldbußen. Die von Irkutsk herbeigeholten Soldaten schössen auf die unbewaffnete Menge. 150 Tote, 250 Verwundete; ohne ärztliche Hilfe gelassen, starben die Verwundeten zu Dutzenden.
Im Verlauf der Dumadebatten über die Ereignisse an der Lena erklärte der Innenminister Makarow, ein sturer Verwaltungsbeamter, weder besser noch schlechter als seine Amtskollegen, unter dem Beifall der rechten Abgeordneten: »So war es und so wird es wieder sein!« Diese erstaunlich unverschämten Worte wirkten wie ein elektrischer Schock. Zuerst von den Petersburger Fabriken, dann aus dem ganzen Lande liefen telephonisch und telegraphisch Nachrichten über Protestentschließungen und -demonstrationen ein. Die Antwort auf die Ereignisse an der Lena konnte nur mit der Welle von Empörung verglichen werden, die sieben Jahre zuvor der Blutige Sonntag hervorgerufen hatte. »Niemals vielleicht seit den Tagen von 1905«, schrieb eine liberale Zeitung, »sind die Straßen der Hauptstadt so angefüllt gewesen.«
Stalin befand sich in diesen Tagen in Petersburg, zwischen zwei Deportationen. »Die Schüsse an der Lena haben das Eis des Schweigens gebrochen«, schrieb er in der Zeitung »Swjesda« (»Der Stern«), von der zu sprechen wir noch Gelegenheit haben werden, »und der Fluß des Volkszorns hat sich in Bewegung gesetzt. Es hat begonnen! ... All das, was an dem gegenwärtigen Regime schlecht und verderblich ist, alles, was das leidende Rußland martert, alles das ist in der einen Tatsache der Lena-Ereignisse vereinigt. Deshalb waren die Schüsse von der Lena das Signal für Streiks und Demonstrationen.«
An den Streiks nahmen über 300 000 Arbeiter teil. Am ersten Mai streikten 400 000 Arbeiter. Offiziellen Angaben nach betrug die Gesamtzahl der Streikenden im Jahre 1912 725 000. Die Anzahl der Arbeiter war in den Jahren des industriellen Aufschwungs um nicht weniger als 20 % gewachsen; ihre wirtschaftliche Bedeutung war infolge der fieberhaften Konzentration der Produktion noch um viel mehr angestiegen. Das Wiedererwachen der Arbeiterklasse griff auf alle anderen Schichten der Bevölkerung über. Das hungrige Dorf rumorte gewitterschwanger. In Armee und Flotte flackerten Ausbrüche der Unzufriedenheit auf. »Das revolutionäre Erwachen in Rußland«, schrieb Lenin an Gorki im August 1912, »ist entschieden revolutionär.«
Die neue Bewegung war nicht die Wiederholung der alten, sondern ihre Fortsetzung. Der mächtige Januarstreik des Jahres 1905 war von einer naiven Bittschrift an den Zaren begleitet gewesen. Im Jahre 1912 stellen die Arbeiter unmittelbar die Losung der demokratischen Republik auf. Die Ideen, Traditionen und organisatorischen Erfahrungen von 1905, bereichert durch die harte Lehre der Jahre der Reaktion, befruchteten die neue revolutionäre Periode. Von Anbeginn an fiel die führende Rolle den Arbeitern zu. Innerhalb der proletarischen Vorhut führten die Bolschewiki. Das kündete im Grunde schon den Charakter der kommenden Revolution an, obwohl sich die Bolschewiki selbst darüber noch nicht klar Rechenschaft ablegten. Der wirtschaftliche Aufschwung, indem er das Proletariat stärkte und ihm eine gewaltige Rolle im wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes sicherte, gab der Perspektive der permanenten Revolution eine stärkere Unterlage. Die Reinigung der Ställe des alten Regimes konnte mit nichts anderem durchgeführt werden, als mit dem Besen der proletarischen Diktatur. Die demokratische Revolution konnte nur siegen, indem sie sich in die sozialistische Revolution verwandelte, indem sie also über sich selbst hinausging.
Das war weiterhin die Stellungnahme des »Trotzkismus«. Er hatte aber seine Achillesferse: sein Versöhnlertum, verbunden mit der Hoffnung auf eine revolutionäre Erneuerung des Menschewismus. Das Wiedererwachen – »entschieden revolutionär« – versetzte dem Versöhnlertum einen Schlag, von dem es sich nicht mehr erholen konnte. Der Bolschewismus stützte sich auf die revolutionäre Vorhut des Proletariats und lehrte es, die armen Bauern mit sich zu reißen. Der Menschewismus stützte sich auf die dünne Schicht der Arbeiteraristokratie und war der liberalen Bourgeoisie zugewandt. In dem Augenblick, wo die Massen von neuem in offenem Kampf auf die Arena traten, konnte von einer »Versöhnung« dieser beiden Fraktionen keine Rede sein. Die Versöhnler waren gezwungen, neue Stellungen zu beziehen: die Revolutionäre mit den Bolschewiki, die Opportunisten mit den Menschewiki.
Koba blieb diesmal über acht Monate in der Verbannung. Von seinem Leben in Solwytschegodsk, von den Deportierten, mit denen er zusammenkam, von den Büchern, die er las, von den Problemen, mit denen er sich auseinandersetzte – von all dem ist so gut wie nichts bekannt. Aus zweien seiner Briefe aus dieser Periode geht hervor, daß er im Ausland erscheinende Druckschriften erhielt und die Möglichkeit hatte, das Leben der Partei zu verfolgen, genauer das der Emigration, in der der Kampf der Fraktionen in eine entscheidende Phase eingetreten war. Plechanow und mit ihm eine geringe Gruppe seiner Anhänger hatte von neuem mit seinen nächsten Freunden gebrochen und verteidigte die illegale Partei gegen die Liquidatoren – ein letztes Aufflammen des Radikalismus im Leben dieses bedeutenden Mannes, der dem baldigen Verfall entgegenging. So bildete sich der überraschende, paradoxe und kurzlebige Block Lenin-Plechanow. Auf der anderen Seite hatte sich eine Annäherung zwischen den Liquidatoren (Martow und seine Freunde), den »Wperjodisten« (»Vorwärts«, Bogdanow, Lunatscharsky) und den »Versöhnlern« (Trotzky) ergeben. Dieser zweite Block, völlig ohne prinzipielle Basis, wurde bis zu einem gewissen Grade zur Überraschung der Teilnehmer selbst gebildet. Die Versöhnler versuchten immer noch, die Bolschewiki mit den Menschewiki zu »versöhnen«; da nun aber der Bolschewismus in der Person Lenins unerbittlich die bloße Idee irgendeines Übereinkommens mit den Liquidatoren zurückwies, gerieten die Versöhnler ganz natürlicherweise in die Position, ein Bündnis oder ein halbes Bündnis mit den Menschewiki und den »Wperjodisten« abzuschließen. Der Zement, der diesen episodischen Block zusammenhielt, war, wie Lenin an Gorki schrieb, der »Haß gegen die bolschewistische Zentrale wegen ihres unerbittlichen Kampfes für ihre Ideen«. Die Frage der zwei Blocks war Gegenstand lebhafter Diskussionen in den dünngesäten Reihen der Partei jener Tage.
Am 31. Dezember 1910 schrieb Stalin ins Ausland, nach Paris: »Genosse Simon! Gestern habe ich von den Genossen Ihren Brief erhalten. Zuerst, heiße Grüße an Lenin, Kamenew und die anderen.« Dieser Gruß wird wegen des Namens Kamenew nicht mehr abgedruckt. Folgt eine Einschätzung der Situation in der Partei. »Nach meiner Meinung ist die Linie des Blocks (Lenin-Plechanow) die einzig normale... Lenins Hand ist in dem Plan des Blocks sichtbar – er ist ein schlauer Muschik und weiß, auf welcher Seite das Brot gebuttert ist. Das heißt aber nicht, daß einfach jeder Block gut ist. Der trotzkistische Block (er würde ›Synthese‹ sagen) ist verfaulte Prinzipienlosigkeit... Der Block Lenin-Plechanow ist lebensfähig, weil er auf soliden Grundsätzen errichtet ist und auf einheitlichen Anschauungen in der Frage der Mittel für die Regeneration der Partei basiert. Aber gerade weil es ein Block ist und nicht eine Vereinigung, brauchen die Bolschewiki ihre eigene Fraktion.« All das stimmte mit Lenins Ansichten überein und war im Grunde nicht mehr als eine Wiederholung seiner Artikel, die Stalin dazu diente, als prinzipientreu zu erscheinen. Nachdem er dann so ganz nebenbei erklärt, daß die »Hauptsache« schließlich nicht die Emigration sei, sondern die praktische Arbeit in Rußland, beeilt sich Stalin zu erklären, daß praktische Arbeit »Anwendung der Prinzipien« bedeutet. Und nachdem er seine Stellung durch Wiederholung des magischen Wortes »Prinzipien« verstärkt hat, nähert sich Koba dem entscheidenden Punkte. »...Nach meiner Meinung«, schreibt er, »ist unsere erste Aufgabe, die keine Verzögerung duldet, die Organisierung einer zentralen (russischen) Gruppe, die die illegale, halblegale und legale Arbeit koordiniert ... Solch eine Gruppe ist so notwendig wie die Luft, wie das Brot.« Dieser Plan enthielt an sich nichts Neues. Lenin hatte seit dem Londoner Parteitag mehr als einmal den Versuch gemacht, wieder eine russische Abteilung des Zentralkomitees zu errichten, aber der Verfall der Partei hatte diese Versuche zum Scheitern verurteilt. Koba schlug die Einberufung einer Parteiarbeiterkonferenz vor. »Es ist sehr gut möglich, daß sich auf dieser Konferenz die Leute für die oben erwähnte Zentralgruppe finden.« Und nachdem er seinen Wunsch geäußert hat, das Schwergewicht der Parteiarbeit vom Ausland nach Rußland verlegt zu sehen, beeilt sich Koba abermals, allen möglichen Befürchtungen Lenins zuvorzukommen: »Es ist notwendig, entschlossen und unerbittlich zu handeln, ohne die Vorwürfe der Liquidatoren, Trotzkisten und Wperjodisten zu scheuen ...« Mit gespielter Bescheidenheit schreibt er über die beabsichtigte Zentralgruppe: »Nennen Sie es wie Sie wollen, ›russische Abteilung des Zentralkomitees‹ oder ›Assistenzgruppe des Zentralkomitees‹, das ist gleichgültig.« Die geheuchelte Gleichgültigkeit war dazu bestimmt, Kobas persönliche Ambitionen zu verdecken. »Nun zu mir selbst. Mir bleiben noch sechs Monate abzusitzen. Dann kann ich den Dienst wieder aufnehmen. Wenn der Bedarf an Parteiarbeitern sehr dringend ist, kann ich hier auch sofort verschwinden.« Das Ziel des Briefes ist klar: Koba stellt seine Kandidatur auf. Er will endlich auch Mitglied des Zentralkomitees werden.
Ein unerwartetes Licht wirft ein anderer, an die Moskauer Bolschewiki gerichteter Brief auf seine ansonst durchaus nicht tadelnswerten persönlichen Ambitionen. »Der Kaukasier Sosso schreibt Euch«, so beginnt der Brief; »erinnert Euch an 04 in Tiflis und Baku. Zuerst heiße Grüße für Olga, für Sie und Germanow. I. M. Golubew, mit dem ich meine Verbannungstage verbringe, hat mir von Euch allen erzählt. Germanow kennt mich als K-b-a (er wird schon verstehen).« Es ist erstaunlich, daß Koba noch im Jahre 1911 gezwungen ist, sich alten Parteimitgliedern mit Hilfe indirekter und rein zufälliger Hinweise in Erinnerung zu rufen: er war noch unbekannt oder lief Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. »Im Juli dieses Jahres bin ich fertig (mit der Verbannung),« fährt er fort. »Iljitsch und Co. berufen mich in eine der beiden Zentralen, ohne auf das Ende meiner Zeit zu warten. Ich möchte lieber bis zu Ende bleiben (ein legaler Mensch hat mehr Möglichkeiten) ... Doch wenn der Bedarf groß ist (ich warte auf ihre Antwort), dann werde ich natürlich sofort verschwinden ... Hier kommt man um vor Nichtstun, ich ersticke förmlich.«
Vom Gesichtspunkt der elementarsten Vorsicht aus macht dieser Briefteil erstaunen. Ein Verbannter, dessen Briefe jederzeit der Polizei in die Hände fallen können, schreibt, ohne offensichtliche praktische Notwendigkeit, ihm fast unbekannten Parteimitgliedern von seinem konspirativen Briefwechsel mit Lenin, davon, daß man ihn veranlassen will, zu fliehen und daß er, wenn nötig, »natürlich sofort verschwinden« wolle. Wie wir sehen werden, geriet der Brief tatsächlich in die Hände der Gendarmen, die mühelos die Identität des Absenders und aller von ihm erwähnten Personen feststellten. Für diese Unvorsichtigkeit gibt es nur eine Erklärung: ungeduldige Eitelkeit! »Der Kaukasier Sosso«, den man 1904 vielleicht nicht genügend beachtet hatte, kann der Versuchung nicht widerstehen, die Moskauer Bolschewiki davon zu unterrichten, daß ihn Lenin selbst unter die zentralen Parteiarbeiter einreiht. Immerhin spielt die Eitelkeit nur eine Nebenrolle. Der Schlüssel zu diesem rätselhaften Briefe findet sich in seinem letzten Abschnitt.
»Von dem ›Sturm im Wasserglas‹ im Ausland haben wir natürlich gehört: die Blocks von Lenin-Plechanow einerseits und von Trotzky-Martow-Bogdanow andererseits. Die Haltung der Arbeiter dem ersten Block gegenüber ist günstig, soviel ich weiß. Aber im allgemeinen fangen die Arbeiter an, mit Geringschätzung auf die Emigration herabzusehen: ›sollen die doch nach den Sternen greifen, sooft ihnen der Kopf danach steht; uns aber gehen die Interessen der Bewegung über alles andere – wir arbeiten, der Rest wird schon von selber kommen.‹ Ich denke, daß es so am besten ist.«
Überraschende Zeilen! Lenins Kampf gegen die Liquidatoren und Versöhnler wird von Stalin als ein »Sturm im Wasserglas« angesehen! »Die Arbeiter«, und mit ihnen Stalin, »fangen an, mit Geringschätzung auf die Emigration«, also auch auf den bolschewistischen Generalstab, »herabzusehen«! »Uns aber gehen die Interessen der Bewegung über alles«, – »wir arbeiten, der Rest wird schon von selber kommen.« Die Interessen der Bewegung scheinen in keinerlei Zusammenhang zu stehen mit dem theoretischen Kampf, durch den das Programm für die Bewegung herausgearbeitet wird.
So unglaublich es auch scheinen mag: die beiden Dokumente wurden in einem Abstand von höchstens 24 Tagen abgefaßt. In dem Brief an Lenin scheinen die Abgrenzungen und Umgruppierungen, die sich im Auslande ergeben, eine entscheidende Bedeutung für die Arbeit in Rußland zu haben. Diese Arbeit selbst ist bescheiden als eine »Anwendung« der von der Emigration aufgestellten »Prinzipien« definiert. In dem Brief an die russischen »Praktiker« sind die Emigrationskämpfe in ihrer Gesamtheit nur noch ein Objekt des Spottes. Wenn im ersten Brief von Lenin als einem »schlauen Muschik« gesprochen wird, der schon wisse, »auf welcher Seite das Brot gebuttert ist« – dieses russische Sprichwort drückt nebenbei bemerkt gar nicht das aus, was Stalin sagen will –, so erscheint er im zweiten Brief einfach als ein verstiegener Emigrant, der nach den Sternen greifen will. »Die Logik der Dinge führt auf den Weg strikter Prinzipien.« Doch der Kampf für diese Logik stellt sich als ein »Sturm im Wasserglas« heraus. Wenn die Arbeiter Rußlands beginnen, mit Mißachtung auf die »Emigration« und auf Lenins Kampf für die »Prinzipien« herabzusehen, so »denke ich, daß es so am besten ist«. Stalin schmeichelt ganz offensichtlich der Gleichgültigkeit gegenüber der Theorie und dem falschen Überlegenheitsgefühl der kurzsichtigen »Praktiker«.
Als anderthalb Jahre später unter dem Einfluß des beginnenden Wiederaufstiegs der Kampf innerhalb der Emigration heftiger denn je entbrannt war, beklagte sich der sentimentale Halbbolschewik Gorki bei Lenin über die »Zwistigkeiten« im Ausland – über den Sturm im Wasserglas. »Was die ›Zwistigkeiten‹ unter den Sozialdemokraten betrifft«, antwortete Lenin mit Nachdruck, »so beschweren sich darüber mit Vorliebe die Bourgeois, die Liberalen, die Sozialrevolutionäre, die, die eine wenig ernsthafte Haltung den entscheidenden Fragen gegenüber einnehmen, die nur anderen nachfolgen, sich als Diplomaten aufspielen, sich mit Eklektizismus begnügen...« »Die Aufgabe derjenigen, die verstanden haben, daß die Wurzeln der ›Zwistigkeiten‹ in den Ideen stecken«, unterstreicht er in einem späteren Briefe, »ist, den Massen zu helfen, diese Wurzeln zu entdecken, und nicht, den Massen beizupflichten, wenn sie diese Debatten für persönliche Affären der Generäle« halten.« Gorki seinerseits beharrte darauf, daß es »jetzt in Rußland eine Menge guter Jugend« gäbe, »die aber furchtbar gegen die Emigration ist...« »Das ist wahr«, antwortete Lenin, »aber das ist nicht die Schuld der ›Führer‹ ... Was entzweit worden ist, muß wieder verbunden werden; auf die Führer zu schimpfen ist zwar bequem und populär, aber von wenig Nutzen...« Es ist, als wären die Vorwürfe, die Lenin hier mit Zurückhaltung gegen Gorki erhebt, eine empörte Zurechtweisung Stalins.
Ein aufmerksamer Vergleich beider Briefe, von denen ihr Verfasser niemals annahm, daß sie je verglichen werden würden, ist äußerst wertvoll für das Verständnis des Charakters und der Methoden Stalins. Seine tatsächliche Haltung den »Prinzipien« gegenüber ist weitaus richtiger im zweiten Brief ausgedrückt: »arbeiten wir, der Rest wird schon von selber kommen«. Solcherart war im Grunde die Konzeption so manchen nicht übermäßig weitblickenden Versöhnlers. Stalin bedenkt die »Emigration« mit den grob verächtlichsten Ausdrücken nicht nur, weil ihm Grobheit überhaupt eigen ist, sondern vor allem, weil er die Sympathie der »Praktiker«, besonders Germanows, gewinnen will. Er kannte ihren Geisteszustand durch den kürzlich aus Moskau in der Verbannung eingetroffenen Golubew. Um die Arbeit in Rußland stand es schlecht, die Untergrundorganisationen hatten den tiefsten Punkt ihres Niedergangs erreicht, und die Praktiker waren immer bereit, alle Schuld auf die Emigranten abzuwälzen, die viel Lärm um nichts machten.
Um das praktische Ziel zu erkennen, das Stalin mit seiner Duplizität verfolgte, erinnern wir uns daran, daß Germanow, der einige Monate zuvor Kobas Kandidatur für das Zentralkomitee vorgeschlagen hatte, eng mit einflußreichen Versöhnlern in den Spitzen der Partei verbunden war. Koba hielt es für angebracht, dieser Gruppe seine Solidarität mit ihr zu zeigen. Doch war er sich klar über die Stärke des Einflusses von Lenin und begann deshalb mit einer Loyalitätserklärung gegenüber den »Prinzipien«. In dem Brief nach Paris wird Lenins Unversöhnlichkeit beigestimmt, denn Stalin fürchtet Lenin; in dem zweiten Brief hetzt er die Moskauer Bolschewiki gegen den wunderlichen Lenin auf, der »nach den Sternen greift«. Der erste Brief ist aus Lenins Artikeln gegen die Versöhnler zusammengestoppelt; der zweite wiederholt die Argumente der Versöhnler gegen Lenin. All das innerhalb von vierundzwanzig Tagen.
Gewiß, der Brief an den »Genossen Simon« enthält einen vorsichtigen Satz: das ausländische Zentrum »ist nicht alles und nicht einmal die Hauptsache. Die Hauptsache ist die Organisierung der praktischen Arbeit in Rußland«. Auf der anderen Seite enthält der Brief an die Moskauer eine scheinbar zufällig hingeworfene Bemerkung: die Haltung der Arbeiter gegenüber dem Block Lenin-Plechanow ist, »soviel ich weiß, günstig«. Was aber in dem einen Brief zweitrangige Korrektur, wird in dem andern zum Ausgangspunkt für eine sich in ganz entgegengesetzter Richtung bewegende Gedankenreihe. Die vagen Andeutungen, die eigentlich Hintergedanken sind, haben zum Zweck, die Widersprüche zwischen beiden Briefen zu verdecken. Sie decken jedoch nur das schlechte Gewissen des Briefschreibers auf.
So primitiv sie zu sein scheint, genügt diese Technik der Intrige für das gesteckte Ziel. Koba schreibt absichtlich nicht direkt an Lenin, sondern wendet sich an »Simon«. Das erlaubt ihm, von Lenin im Ton intimer Bewunderung zu sprechen, ohne den Schreiber zu zwingen, der Frage auf den Grund zu gehen. Kobas wirkliche Beweggründe bildeten sicherlich für Lenin kein Geheimnis. Aber er sieht die Angelegenheit als Politiker: ein Berufsrevolutionär, der in der Vergangenheit Willenskraft und Entschlußfähigkeit gezeigt hat, will jetzt im Parteiapparat höher hinaufsteigen. Lenin nahm das zur Kenntnis. Germanow seinerseits nahm zur Kenntnis, daß die Versöhnler in der Person Kobas einen Verbündeten haben würden. Damit war das Ziel, für den Augenblick wenigstens, erreicht. Koba besaß die Fähigkeiten, ein ausgezeichnetes Mitglied der Zentralkomitees zu werden. Sein Anspruch war begründet. Erstaunlich sind nur die Wege, die der junge Revolutionär einschlägt, um sein Ziel zu erreichen: Duplizität, Lüge und unverhohlener Zynismus.
Kompromittierende Briefe wurden von den Illegalen üblicherweise vernichtet, persönliche Verbindung mit der Emigration war selten: Koba brauchte nicht zu fürchten, daß seine beiden Briefe gegeneinander gehalten würden. Wenn diese beiden unschätzbaren menschlichen Dokumente der Nachwelt erhalten geblieben sind, so kommt das auf die Habenseite der zaristischen Briefzensur. Am 23. Dezember 1925, als das totalitäre Regime noch weit von dem Automatismus entfernt war, den es heute erreicht hat, war die Tifliser Zeitung »Sarja Wostoka« (»Morgenröte des Ostens«) unvorsichtig genug, den in den zaristischen Archiven aufgefundenen Brief Kobas an die Moskauer Bolschewiki zu veröffentlichen. Man kann sich unschwer das Donnerwetter vorstellen, das auf die Redaktion herniederfuhr. Der Brief wurde nie wieder gedruckt, und nicht ein einziger der offiziellen Biographen hat ihn jemals erwähnt.
Trotz des dringenden Bedarfs an Parteiarbeitern »verschwand« Koba nicht sogleich; er floh diesmal nicht, sondern wartete das Ende seiner Verbannungszeit ab. Die Zeitungen brachten Nachrichten über Studentenversammlungen und Straßenkundgebungen. Nicht weniger als zehntausend Menschen hatten auf dem Newski-Prospekt demonstriert. Die Arbeiter begannen, sich den Studenten anzuschließen. »Ist das nicht der Anfang einer Veränderung?« fragte Lenin in einem Artikel einige Wochen bevor er Kobas Brief aus der Verbannung erhielt. In den ersten Monaten des Jahres 1911 wurde der Umschwung unbestreitbar. Doch wartete Koba, der schon dreimal aus der Verbannung geflüchtet war, diesmal auf das Ende seiner Strafzeit. Der Anbruch des neuen Frühlings ließ ihn kalt. Erinnerte er sich seiner Erfahrungen des Jahres 1905, fürchtete er das Wiedererwachen?
Ausnahmslos alle seine Biographen sprechen von einer neuen Flucht. In Wirklichkeit war gar keine Flucht nötig, seine Verbannungszeit endete im Juli 1911. Die Moskauer »Ochrana«, die Josef Dschugaschwili ganz nebenbei erwähnt, spricht von ihm diesmal als jemandem, der »seine administrative Verbannungszeit in der Stadt Solwitschegodsk beendet hat«. Die Konferenz der bolschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees, die inzwischen im Ausland stattgefunden hatte, bestimmte eine besondere Kommission zur Vorbereitung einer Parteikonferenz, und es scheint, daß sich diese Kommission aus Koba und vier anderen zusammensetzte. Nach Beendigung seiner Verbannung ging Koba nach Baku und Tiflis, um die dortigen Bolschewiki zur Arbeit anzuregen und sie zur Teilnahme an der Konferenz zu veranlassen. Eigentliche Organisationen gab es im Kaukasus nicht, es mußte gänzlich von vorn angefangen werden. Die Tifliser Bolschewiki erklärten sich mit einem von Koba verfaßten Aufruf über die Notwendigkeit einer revolutionären Partei einverstanden:
»Unglücklicherweise müssen sich die fortschrittlichen Arbeiter in unserer eigenen Sache, nämlich bei der Stärkung unserer Sozialdemokratischen Partei, außer mit politischen Abenteurern, Provokateuren und anderen Kanaillen, mit einem neuen Hindernis in unseren eigenen Reihen herumschlagen, und zwar mit Leuten von bürgerlicher Mentalität.«
Das ging gegen die »Liquidatoren«. Der Aufruf schloß mit einer der für unseren Verfasser charakteristischen Metaphern:
»Die blutig dunklen Wolken der schwarzen Reaktion, die über unserem Lande hängen, beginnen, sich zu zerstreuen und fangen an, den Sturmwolken der Empörung und der Wut des Volkes Platz zu machen. Der schwarze Grund unseres Lebens wird von Blitzen durchzuckt, während sich in der Ferne ein Licht erhebt. Der Sturm bricht los ...«
Gegenstand des Aufrufs war, die Dringlichkeit der Bildung einer Tifliser Gruppe zu betonen, um den einigen wenigen Tifliser Bolschewiki die Teilnahme an der bevorstehenden Konferenz zu ermöglichen.
Koba verließ die Provinz Wologda auf legale Weise; ob er aber auf legale Weise vom Kaukasus nach Petersburg ging, ist zweifelhaft; ehemaligen Verbannten war es im allgemeinen für eine gewisse Zeit verboten, sich in bedeutenderen Städten aufzuhalten. Wie dem auch sei, mit oder ohne polizeiliche Erlaubnis betritt der Provinzler schließlich den Boden der Hauptstadt. Die Partei erwachte gerade aus ihrem Schlummer. Die besten Kräfte waren im Gefängnis, in der Verbannung oder in der Emigration. Eben gerade aus diesem Grunde war Kobas Anwesenheit in Petersburg notwendig. Doch war sein erstes Auftreten in der Hauptstadt nur von kurzer Dauer. Zwischen dem Ende seiner Verbannungszeit und seiner neuerlichen Verhaftung liegen nur zwei Monate, und von diesen gehen drei oder vier Wochen für seine Reise in den Kaukasus ab. Darüber, wie sich Koba in die neue Umgebung einfügte und in welcher Weise er unter den neuen Bedingungen zu arbeiten begann, ist nichts bekannt.
Die einzige Unterlage für diese Periode ist ein kurzer Briefwechsel, den Koba mit dem Ausland führte, und in dem er über eine Geheimsitzung der sechsundvierzig Sozialdemokraten des Wyborger Bezirks berichtete. Der Leitgedanke des bei dieser Gelegenheit gehaltenen Vortrages eines bekannten Liquidators war, daß »eine Organisation als Partei überflüssig ist«, denn für die öffentliche Tätigkeit würden »Initiativgruppen« genügen, die sich mit der Veranstaltung genehmigter Versammlungen und öffentlicher Vorträge über Probleme der Sozialversicherung, gemeindepolitische und ähnliche Fragen befassen sollten. Kobas Briefen nach stieß dieser Plan des Liquidators, sich der pseudokonstitutionellen Monarchie anzupassen, auf den einmütigen Widerstand der Arbeiter, mit Einschluß der Menschewiki. Am Schluß der Versammlung stimmten mit Ausnahme des Hauptredners alle für eine illegale revolutionäre Partei.
Lenin – oder Sinowjew – versah den Petersburger Brief mit folgender redaktionellen Bemerkung: »Genosse K.'s Brief verdient die größte Aufmerksamkeit all derer, denen die Partei teuer ist. ... Eine bessere Zurückweisung der Auffassungen und Hoffnungen unserer Versöhnler und Friedensmacher ist schwer vorstellbar. Ist der vom Genossen K. beschriebene Vorfall eine Ausnahme? Nein, er ist typisch ...« Es ist indessen recht selten, daß »die Partei solch ausführliche Informationen erhält, wofür wir dem Genossen K. dankbar sind«. Die »Sowjet- Enzyklopädie« schreibt über diese journalistische Episode: »Stalins Briefe und Artikel bezeugen die unerschütterliche Einheit im Kampf und in der politischen Linie zwischen Lenin und seinem genialen Kampfgefährten.« Um zu einer solchen Einschätzung zu gelangen, war es notwendig, eine Neuauflage der Enzyklopädie nach der anderen herauszugeben und gleichzeitig eine ganze Reihe ihrer Mitarbeiter zu liquidieren.
Allilujew erzählt, wie er, in den ersten Tagen des Monats September, beim Nachhausekommen vor seiner Haustür Polizeispitzel bemerkte und in seiner Wohnung Stalin und einen anderen georgischen Bolschewiken antraf. Als er ihnen sagte, daß Spitzel auf der Straße stünden, entgegnete ihm Stalin nicht gerade allzu freundlich: »Was zum Teufel ist los mit euch? ... Manche Genossen werden furchtsame Kleinbürger und Philister!« Es waren aber wirklich Spitzel: am 9. September wurde Koba verhaftet, und schon am 22. Dezember traf er in seinem neuen Verbannungsort ein, diesmal der Provinzhauptstadt von Wologda. Die Bedingungen waren besser als das vorige Mal. Möglicherweise war diese Verbannung eine einfache Bestrafung für den illegalen Aufenthalt in Petersburg.
Die bolschewistische Auslandszentrale fuhr fort, Emissäre nach Rußland zu senden, um die Konferenz vorzubereiten. Die Verbindung zwischen den sozialdemokratischen Ortsgruppen konnte nur langsam hergestellt werden und wurde oft wieder unterbrochen. Die Bespitzelung florierte, die Verhaftungen wirkten verheerend. Die Sympathie, die die Idee einer Konferenz unter den fortschrittlichen Arbeitern fand, zeigte immerhin, nach Olminski, daß »die Arbeiter die Liquidatoren nur tolerieren, ihnen im Grunde aber sehr fernstehen«. Es gelang den Emissären trotz der äußerst schwierigen Umstände, zwischen vielen illegalen Ortsgruppen eine Verbindung herzustellen. »Das war wie ein frischer Luftzug«, schreibt derselbe Olminski.
An der Konferenz, die am 5. Januar 1912 in Prag eröffnet wurde, nahmen fünfzehn Delegierte teil, die von rund zwei Dutzend illegalen und zum größten Teil sehr schwachen Gruppen kamen. Die Berichte der Delegierten ergaben ein ziemlich klares Bild von dem Zustand der Partei: die wenigen Ortsgruppen setzten sich fast ausschließlich aus Bolschewiki zusammen und enthielten einen hohen Prozentsatz von Spitzeln, die die Organisation verrieten, sobald sie einigermaßen auf festen Füßen stand. Besonders schlecht war die Lage im Kaukasus. »In Zithory gibt es überhaupt keine Organisation«, erklärte Ordschonikidse von dem einzigen Industriezentrum in Georgien. »In Batum ebenfalls keine Organisation.« In Tiflis »dasselbe Bild. Nicht ein einziges Flugblatt in den vergangenen Jahren. Keinerlei illegale Tätigkeit«. Trotz der offensichtlichen Schwäche der Ortsgruppen spiegelte die Konferenz den neuen optimistischen Geist wider. Die Massen setzten sich in Bewegung, die Partei spürte günstigen Wind in ihren Segeln.
Die in Prag getroffenen Entscheidungen legten die Marschroute der Partei auf lange Zeit hinaus fest. In erster Linie hielt es die Konferenz für notwendig, »illegale sozialdemokratische Kerngruppen zu schaffen, die von einem so weit wie möglich gespannten Netz legaler Arbeitervereine aller Art umgeben« sein sollten. Die schlechte Ernte, die zwanzig Millionen Bauern zum Hungern verurteilte, bestätigte wieder einmal, so stellte die Konferenz fest, »die Unmöglichkeit einer auch nur einigermaßen normalen bürgerlichen Entwicklung in Rußland, solange ... seine Politik von einer an der Leibeigenschaft festhaltenden Klasse von Landjunkern geleitet wird«. »Die Machtergreifung durch das Proletariat, das die Bauernschaft führt, bleibt nach wie vor die Aufgabe der demokratischen Revolution in Rußland.« Die Konferenz erklärte die Fraktion der Liquidatoren als außerhalb der Partei stehend und rief alle Sozialdemokraten auf, »ohne Unterschied der Tendenzen und Schattierungen« gegen das Liquidatorentum und für die Wiederherstellung der illegalen Partei zu kämpfen. So den Bruch mit den Menschewiki vollständig machend, eröffnete die Prager Konferenz die Ära der unabhängigen Existenz der Bolschewistischen Partei, die nunmehr ihr eigenes Zentralkomitee besaß.
»Mitglieder des Zentralkomitees waren Lenin, Stalin, Ordschonikidse, Swerdlow, Goloschtschekin und andere. Stalin und Swerdlow wurden in Abwesenheit ins Zentralkomitee gewählt, sie befanden sich zu jener Zeit in Verbannung«, so heißt es in der neuesten »Geschichte« der Partei, veröffentlicht 1938 unter Stalins Leitung. In der offiziellen Sammlung von Parteidokumenten (von 1926) lesen wir dagegen: »Die Konferenz wählte ein neues Zentralkomitee, das sich aus Lenin, Sinowjew, Ordschonikidse, Spandarian, Viktor (Ordinsky), Malinowsky und Goloschtschekin zusammensetzte.« Die »Geschichte« nimmt weder Sinowjew noch den Polizeispitzel Malinowsky ins Zentralkomitee auf, dafür aber Stalin, der auf der alten Liste nicht figuriert. Die Erklärung dieses Rätsels wirft einiges Licht sowohl auf die Stellung Stalins in der Partei zu jener Zeit als auch auf die heutigen Methoden der Moskauer Geschichtsschreibung. Tatsache ist, daß Stalin nicht auf der Konferenz gewählt wurde, sondern kurz nach der Konferenz auf Grund einer sogenannten »Kooptation« ins Zentralkomitee eintrat. Die oben erwähnte parteioffizielle Urkunde legt das ganz einwandfrei fest: »In der Folge wurden in das Zentralkomitee kooptiert die Genossen Koba (Dschugaschwili-Stalin) und Wladimir (Bjelostotzky, ehemaliger Arbeiter der Putilow-Werke).« Ebenso verzeichnen die Dokumente der Moskauer »Ochrana«, daß Dschugaschwili nach der Konferenz ins Zentralkomitee eintrat, »auf Grund des Rechtes auf Zuwahl, das den Mitgliedern des Zentralkomitees vorbehalten war«. Dieselbe Angabe enthalten alle sowjetischen Nachschlagewerke ohne Ausnahme bis zum Jahre 1929, als Stalins Anweisungen veröffentlicht wurden, die die Geschichtswissenschaft umwälzten. In einer dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Konferenz gewidmeten Veröffentlichung von 1937 heißt es: »Stalin konnte an den Arbeiten der Prager Konferenz nicht teilnehmen, weil er sich in der Verbannung in Solwytschegodsk befand. Stalin war Lenin und der Partei zu dieser Zeit schon als ein bedeutender Führer bekannt. ... Deshalb wählten die Delegierten auf Vorschlag Lenins Stalin in Abwesenheit ins Zentralkomitee.«
Die Frage, ob Stalin auf der Konferenz gewählt oder später durch Kooptation ins Zentralkomitee aufgenommen wurde, mag von untergeordneter Bedeutung erscheinen. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Stalin wollte Mitglied des Zentralkomitees werden. Lenin hielt es für notwendig, ihn aufzunehmen. Die Auswahl unter den möglichen Kandidaten war so beschränkt, daß einige zweitrangige Figuren in das Zentralkomitee eintreten mußten. Koba war jedoch nicht gewählt worden. Warum? Lenin war durchaus nicht der Diktator über seine Partei. Übrigens hätte eine revolutionäre Partei auch keine Diktatur über sich geduldet. Nach voraufgegangener Fühlungnahme mit den Delegierten hielt es Lenin anscheinend für vernünftiger, Kobas Kandidatur nicht aufzustellen. »Als Lenin 1912 Stalin ins Zentralkomitee hineinbrachte«, schreibt Dimitrijewsky, »rief das Empörung hervor. Öffentlich widersetzte sich niemand. Aber in privaten Unterhaltungen machte sich die Empörung Luft.« Dieser Bericht des ehemaligen Diplomaten, der im allgemeinen kein Vertrauen verdient, ist immerhin insofern von Interesse, als er ein Echo von bürokratischen Erinnerungen und Klatschgeschichten ist. Lenin begegnete zweifellos einer ernsthaften Opposition. Ihm blieb nur ein Weg offen: warten, bis die Konferenz zu Ende war und dann an den engen leitenden Zirkel zu appellieren, der sich entweder auf Lenins Empfehlung verließ oder seine Einschätzung des Kandidaten teilte. So trat Stalin zum erstenmal durch ein Hintertürchen ins Zentralkomitee ein.
Die Geschichte der internen Organisation des Zentralkomitees ist gleichen Veränderungen unterworfen worden. »Das Zentralkomitee ... bildete auf Vorschlag Lenins ein Büro des Zentralkomitees mit dem Genossen Stalin an der Spitze, um die Parteitätigkeit in Rußland zu leiten. Diesem russischen Büro des Zentralkomitees gehörten außer Stalin noch Swerdlow, Spandarian, Ordschonikidse und Kalinin an.« So Beria, der in der Zeit, in der ich an diesem Kapitel arbeitete, zum Chef der Geheimpolizei Stalins ernannt wurde: seine »wissenschaftlichen« Verdienste blieben nicht unbelohnt. Man sucht aber vergeblich nach irgendeiner dokumentarischen Unterlage für diese in der jüngsten »Geschichte« wiederholte Version. Zu allererst einmal wurde nie jemand »an die Spitze« von Parteiorganisationen gestellt: solch eine Wahlmethode gab es nicht. Einem alten offiziellen Nachschlagebuch zufolge wählte das Zentralkomitee »ein Büro, das sich zusammensetzte aus: Ordschonikidse, Spandarian, Stalin und Goloschtschekin«. Dieselbe Liste wird auch in den erläuternden Notizen zu Lenins Werken aufgeführt. In den Papieren der Moskauer Ochrana sind die ersten Drei, »Timofei, Sergo und Koba«, unter ihrem Decknamen als Mitglieder des russischen Büros des Zentralkomitees aufgeführt. Nicht unwichtig ist, daß sich Stalin auf allen alten Listen immer auf dem letzten oder vorletzten Platz befindet, was natürlich nicht der Fall sein konnte, wenn er »an die Spitze« gestellt worden wäre. Goloschtschekin, während einer der kürzlichen Säuberungen aus dem Parteiapparat ausgeschlossen, verschwand auch gleich aus dem Büro von 1912; seinen Platz nahm der glücklichere Kalinin ein. So wird Geschichte zum Ton in des Töpfers Hand.
Am 24. Februar teilte Ordschonikidse Lenin mit, daß er Iwanowitsch (Stalin) in Wologda besucht habe: »Bin mit ihm zu einer endgültigen Verständigung gekommen. Er ist mit dem Ausgang der Dinge zufrieden.« Es handelte sich um die Beschlüsse der Prager Konferenz. Koba erfuhr, daß ihn die kürzlich geschaffene »Zentrale« endlich kooptiert hatte. Am 22. Februar flüchtete er aus seinem Verbannungsort, in seiner neuen Eigenschaft als Mitglied des Zentralkomitees. Nach einem kurzen Aufenthalt in Baku begab er sich nach Petersburg. Zwei Monate zuvor war er zweiunddreißig Jahre alt geworden.
Kobas Übergang von der provinziellen zur nationalen Arena fällt mit dem neuen Aufschwung der Arbeiterbewegung und der verhältnismäßig weiten Ausbreitung der Arbeiterpresse zusammen. Unter dem Druck der Untergrundbewegung hatten die zaristischen Behörden ihre Selbstsicherheit verloren. Die Hand des Zensors wurde schwächer. Die legalen Möglichkeiten wurden größer. Der Bolschewismus trat zuerst mit einem Wochenblatt, dann mit einer Tageszeitung an die Öffentlichkeit. Mit einem Male wuchsen die Möglichkeiten, die Arbeiter zu beeinflussen. Die Partei blieb weiterhin in der Illegalität, aber die Redaktionen ihrer Zeitungen wurden zugleich die legalen Generalstäbe der Revolution. Der Name der Petersburger »Prawda« gab einer ganzen Periode der Arbeiterbewegung ihre Färbung, indem die Bolschewiki die »Prawdisten« genannt zu werden begannen. Während der zweieinhalb Jahre ihres Bestehens wurde die Zeitung achtmal von der Regierung verboten, aber sie erschien jedes Mal von neuem unter einem ähnlichen Titel. Bei Behandlung der dornigsten Fragen war die »Prawda« oft gezwungen, sich mit Andeutungen und halben Worten verständlich zu machen. Aber ihre illegalen Agitatoren und Druckschriften sagten das, was sie nicht offen aussprechen konnte. Auch hatten die fortgeschrittenen Arbeiter gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Eine Auflage von vierzigtausend mag recht bescheiden aussehen, an westeuropäischen oder amerikanischen Maßstäben gemessen. Doch bei der höchst feinfühligen politischen Akustik des zaristischen Rußland fand die bolschewistische Tageszeitung über ihre Abonnenten und unmittelbaren Leser hinaus ein Echo unter Hunderttausenden. So gruppierte sich um die »Prawda« herum eine Generation junger Revolutionäre unter der Leitung von Veteranen, die während der Jahre der Reaktion durchgehalten hatten. »Die Prawda von 1912 hat den Grundstein für den bolschewistischen Sieg von 1917 gelegt«, schrieb Stalin später, mit einem Seitenblick auf seine eigene Teilnahme an dieser Tätigkeit.
Lenin, den die Nachricht von Stalins Flucht noch nicht erreicht hatte, beschwerte sich am 15. März: »Nichts von Iwanowitsch – was ist los mit ihm? Wo ist er? Wie geht es ihm?« Es mangelte an Männern; nicht einmal in der Hauptstadt gab es genügend Leute. Im selben Brief schrieb Lenin, daß die Anwesenheit einer legalen Person in Petersburg »verflucht« notwendig sei, »denn die Dinge stehen dort schlecht. Es ist ein harter und wütender Krieg. Wir haben weder Informationen noch lenken oder kontrollieren wir die Zeitung«. Den »harten und wütenden Krieg« führte Lenin mit der Redaktion der »Swjesda«, die den Krieg gegen die Liquidatoren nicht wollte. »Auf, und schlagt euch kräftiger mit der ›Schiwoje Djelo‹ (›Die lebendige Sache‹, Organ der Liquidatoren), dann ist der Sieg sicher. Sonst wird es uns schlecht ergehen. Fürchtet euch nicht vor Polemiken.« Das unterstrich Lenin noch im März 1912, und das ist das Leitmotiv aller seiner Briefe in dieser Zeit.
»Was ist los mit ihm? Wo ist er? Wie geht es ihm?«, so könnten wir mit Lenin fragen. Die Rolle, die Stalin – wie immer hinter den Kulissen – wirklich spielte, ist nicht leicht zu bestimmen. Eine sorgfältige Analyse von Tatsachen und Dokumenten ist dazu notwendig. Seine Vollmachten als Mitglied des Petersburger Zentralkomitees, also als eines der offiziellen Parteileiter, betrafen natürlich auch die legale Presse. Doch war dieser Umstand völlig vergessen worden, bis die Anweisungen der »Historiker« erschienen. Das Kollektivgedächtnis hat seine eigenen Gesetze, die nicht immer mit den früheren Schriften der Partei übereinstimmen. Die »Swjesda« war im Dezember 1910 gegründet worden, als sich die ersten Anzeichen einer Neubelebung bemerkbar machten. »Lenin, Sinowjew und Kamenew«, heißt es in einer offiziellen Veröffentlichung, »waren vom Ausland aus aufs engste an den Vorbereitungs- und redaktionellen Arbeiten beteiligt«. Unter den hauptsächlichen Mitarbeitern in Rußland nennen die Herausgeber der »Sämtlichen Werke« Lenins elf Namen, vergessen aber, den Stalins zu erwähnen. Indes war er zweifellos Mitglied, und, infolge seiner Stellung, einflußreiches Mitglied der Zeitungsredaktion. Derselben Gedächtnisschwäche – »Gedächtnissabotage« müßte es heute heißen – begegnen wir in allen alten Nachschlagewerken und Erinnerungsbüchern. Sogar eine Sondernummer der »Prawda« zu ihrem fünfzehnjährigen Bestehen im Jahre 1927 erwähnt in keinem ihrer Artikel, nicht einmal im Leitartikel, den Namen Stalins. Man traut manchmal seinen Augen nicht, wenn man die alten Publikationen durchblättert!
Die einzige Ausnahme machen die wertvollen Erinnerungen Olminskis, eines der engsten ehemaligen Mitarbeiter der »Swjesda« und der »Prawda«, der Stalins Rolle folgendermaßen beschreibt: »Stalin und Swerdlow tauchten nach ihrer Flucht aus der Deportation in Petersburg zu verschiedenen Zeitpunkten auf ... Ihre Anwesenheit in Petersburg (bis zu ihrer neuen Verhaftung) war kurz, hatte aber jedesmal eine beträchtliche Wirkung auf die Arbeit der Zeitung, der Fraktion, usw.« Diese einfache Angabe, die übrigens nicht im Haupttext, sondern in einer Fußnote gemacht wird, stellt die Situation wahrscheinlich am richtigsten dar. Stalin erschien in Petersburg für kurze Zeit, übte einen Druck aus auf die Organisation, auf die Dumafraktion, auf die Zeitung, und verschwand dann wieder. Sein Auftreten war allzu vorübergehend, sein Einfluß allzu »apparatmäßig«, seine Ideen und Artikel allzusehr dem üblichen Schema entsprechend, als daß sie einen dauernden Eindruck in irgendwessen Gedächtnis hinterlassen hätten. Leute, die ihre Memoiren nicht unter Zwang niederschreiben, erinnern sich nicht der offiziellen Funktion von Bürokraten, sondern der lebendigen Tätigkeit lebendiger Persönlichkeiten, klarer Tatsachen, präziser Formulierungen, origineller Vorschläge. Stalin hat sich niemals durch irgend etwas Ähnliches hervorgetan. Kein Wunder, daß sich neben dem brillanten Original niemand an die eintönige Kopie erinnert. Sicherlich hat Stalin nicht nur Lenin nachgeplappert. An seiner Unterstützung der Versöhnler festhaltend, verfolgte er zu gleicher Zeit zwei Linien, die uns schon von den Briefen aus Solwytschegodsk her bekannt sind: mit Lenin gegen die Versöhnler – mit den Versöhnlern gegen Lenin. Der ersten Linie folgte er offen, der zweiten in maskierter Form. Stalins Kampf gegen die Emigration hat aber die Memoirenverfasser nicht inspiriert, wenn auch aus einem anderen Grunde: sie waren alle, in aktiver oder passiver Weise, an dem »Komplott« der Versöhnler gegen Lenin beteiligt und zogen es später vor, über diese Seite der Partei Vergangenheit rasch hinwegzublättern. Erst nach 1929 wurde Stalins offizielle Stellung von 1912 als Vertreter des Zentralkomitees zur Unterlage für eine neue Interpretation der Vorkriegsperiode.
Stalin konnte der Zeitung den Stempel seiner Persönlichkeit aus dem einfachen Grunde nicht aufdrücken, weil er von Natur aus kein Zeitungsmann war. Vom April 1912 bis zum Februar 1913 veröffentlichte er in der bolschewistischen Presse, den Berechnungen eines seiner engen Mitarbeiter nach, »nicht weniger als zwei Dutzend Artikel«, was einen Durchschnitt von etwa zwei Artikeln pro Monat ergibt. Und das in einer Zeit, als die Ereignisse jeden Tag neue brennende Fragen aufwarfen! Zwar hat Stalin in diesem Jahr ungefähr sechs Monate in der Verbannung zugebracht. Aber es war viel leichter, von Solwytschegodsk oder von Wologda aus an der »Prawda« mitzuarbeiten, als von Krakau aus, von woher Lenin und Sinowjew jeden Tag ihre Artikel und Briefe schickten! Langsamkeit und äußerste Vorsicht, Nichtvorhandensein literarischer Substanz, schließlich erhebliche orientalische Faulheit, all das machte, daß Stalins Feder wenig produktiv war. Seine Artikel, etwas sicherer im Ton als in den Jahren der ersten Revolution, trugen weiterhin das unauslöschliche Merkmal der Mittelmäßigkeit.
»Nach den Kundgebungen für wirtschaftliche Forderungen der Arbeiter«, schrieb er am 15. April in der »Swjesda«, »kamen die politischen Kundgebungen. Nach den Streiks für Lohnerhöhungen kamen die Proteste, Versammlungen, politischen Streiks anläßlich der Erschießungen an der Lena ... Kein Zweifel, die unterirdischen Kräfte der Befreiungsbewegung haben zu arbeiten begonnen. Seid gegrüßt, erste Schwalben!« Das Bild von den »Schwalben« als Symbol der »unterirdischen Kräfte« ist typisch für den Stil unseres Autors. Schließlich und endlich ist es aber klar, was er zu sagen versucht. Indem er »Schlußfolgerungen« aus den sogenannten »Lena-Ereignissen« zieht, analysiert Stalin – wie immer in schematischer Form, ohne Sinn für die lebendige Wirklichkeit – das Verhalten der Regierung und der politischen Parteien, denunziert die »Krokodilstränen«, die die Bourgeoisie über die Arbeitererschießungen vergießt, und schließt mit dieser Warnung: »Jetzt, wo die erste Welle der aufsteigenden Flut ankommt, werden die dunklen Kräfte, die sich bisher hinter einer Schutzwand aus Krokodilstränen versteckt hatten, wieder erscheinen.« Trotz des überraschenden Effektes, den das Bild von der »Schutzwand aus Krokodilstränen« auslöst, das auf dem Hintergrund des eintönigen Textes besonders bizarr wirkt, sagt der Artikel ungefähr das, was gesagt werden mußte und was Dutzende anderer hätten sagen können. Es ist aber eben gerade das »Ungefähr«, das das Lesen der Stalinschen Ausführungen ebenso unerträglich macht, wie das Anhören mißtönender Musik sensible Ohren beleidigt. In einem illegalen Aufruf schreibt er:
»Gerade heute, am Tage des 1. Mai, wo die Natur aus ihrem Winterschlaf erwacht, wo sich Wälder und Berge mit Grün bedecken, wo sich Felder und Wiesen mit Blumen schmücken, wo die Sonne wärmer zu scheinen beginnt, wo die Freude über die Erneuerung in der Luft zu spüren ist, während sich die Natur dem Tanz und der Fröhlichkeit hingibt, gerade am heutigen Tage haben sich die Arbeiter entschieden, der Welt zu erklären, daß sie der Menschheit den Frühling und die Befreiung von den Ketten des Kapitalismus bringen ... Der Ozean der Arbeiterbewegung dehnt sich immer weiter aus ... Das Meer des proletarischen Zorns schlägt hohe Wellen ... Siegessicher, ruhig und stark, ziehen sie stolz voran auf dem Wege zum Gelobten Land, auf dem Wege des strahlenden Sozialismus.« Hier spricht die Petersburger Revolution die Sprache der Tifliser Popen.
Die Streikwelle schwoll an, die Verbindungen zu den Arbeitern wurden zahlreicher. Das Wochenblatt entsprach nicht mehr den Erfordernissen der Bewegung. Die »Swjesda« eröffnete eine Geldsammlung für eine Tageszeitung. »Gegen Ende des Winters 1912«, schreibt der ehemalige Abgeordnete Poletajew, »kam Stalin, der aus der Verbannung entflohen war, nach Petersburg. Die Arbeit für die Schaffung einer Arbeiterzeitung ging schneller voran.« In einem Artikel aus dem Jahre 1922 schreibt Stalin selbst anläßlich des zehnjährigen Bestehens der »Prawda«: »Eines Abends, es war Mitte April 1912, kamen in der Wohnung von Poletajew zwei Dumaabgeordnete (Pokrowski und Poletajew), zwei Journalisten (Olminski und Baturin) und ich als Mitglied des Zentralkomitees ... zu einer Abmachung über die Plattform der ›Prawda‹ und stellten die erste Nummer der Zeitung her.« Die Urheberschaft Stalins an der Plattform der »Prawda« wird hier von Stalin selbst festgestellt. Das Wesentliche dieser Plattform kann in folgende Worte zusammengefaßt werden: »Arbeiten wir, der Rest wird schon von selber kommen.« Wohl wurde Stalin am 22. April verhaftet, am Erscheinungstage der ersten Nummer der »Prawda«; aber drei Monate lang hielt sich die »Prawda« an die mit seiner Beteiligung ausgearbeitete Plattform. Das Wort »Versöhnler« war aus dem Wortschatz der Zeitung verbannt.
»Ein unversöhnlicher Kampf gegen das Liquidatorentum war notwendig«, schreibt die Krupskaja. »Deshalb war Wladimir Iljitsch so darüber beunruhigt, daß die ›Prawda‹ anfangs aus allen seinen Artikeln die polemischen Stellen gegen die Liquidatoren wegließ. Er schrieb an die ›Prawda‹ zornige Briefe.« Ein Teil dieser Briefe – natürlich nur ein kleiner Teil – erblickte das Licht der Öffentlichkeit. »Manchmal, allerdings selten«, fährt sie in ihrer Beschwerde fort, »verschwanden Iljitschs Artikel, ohne Spuren zu hinterlassen. Manchmal wurden seine Artikel auch beiseite gelegt und nicht gleich veröffentlicht. Dann wurde Iljitsch wütend und schrieb erregte Briefe an die ›Prawda‹, aber das änderte nicht viel.«
Der Kampf mit der Redaktion der »Prawda« war die direkte Fortsetzung des Kampfes mit der Redaktion der »Swjesda«. »Es ist unmöglich, gefährlich, verheerend, lächerlich, unsere Gegensätze vor den Arbeitern zu verbergen«, schrieb Lenin am 11. Juli 1912. Einige Tage später verlangte er vom Redaktionssekretär Molotow, dem jetzigen Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare und Volkskommissar für Auswärtiges, Aufklärung darüber, warum die Zeitung »hartnäckig und systematisch aus meinen und den Artikeln anderer Mitarbeiter jede Erwähnung der Liquidatoren streicht«. Inzwischen nahten die Wahlen zur vierten Duma heran. Lenin warnte: »Die Wahlen zur Petersburger Arbeiter-Standes Vertretung werden sicherlich von einem Kampf auf der ganzen Linie gegen die Liquidatoren begleitet sein. Das wird die brennendste Frage für die fortgeschrittenen Arbeiter sein. Aber ihre Zeitung wird schweigen, wird das Wort ›Liquidator‹ vermeiden! ... Diesen Fragen auszuweichen, heißt Selbstmord begehen.«
Von Krakau aus gewahrte Lenin recht gut die schweigsame, aber hartnäckige Verschwörung der versöhnlerischen Spitzen der Partei. Er war jedoch nur allzusehr überzeugt davon, im Recht zu sein. Die rasche Wiederbelebung der Arbeiterbewegung mußte unvermeidlicherweise die Grundprobleme der Revolution scharf stellen und nicht nur den Liquidatoren, sondern auch den Versöhnlern den Boden unter den Füßen wegziehen. Lenins Stärke lag nicht so sehr in der Schaffung eines »Apparats« – auch das wußte er zu tun –, sondern in seiner Fähigkeit, in allen kritischen Augenblicken die lebendige Energie der Massen zu benutzen, um die Beschränktheit und den Konservatismus, die jedem politischen Apparat eigen sind, zu überwinden. Auch in diesem Augenblick war es so. Unter dem wachsenden Druck der Arbeiter und unter den Peitschenhieben von Krakau begann die »Prawda«, nach und nach und unter dauerndem Sträuben, ihre Stellung der bremsenden Neutralität aufzugeben.
Stalin blieb etwas über zwei Monate im Petersburger Gefängnis. Am 2. Juli fuhr er von neuem in die Verbannung ab, diesmal für vier Jahre, und zwar hinter den Ural, in das Gebiet von Narym in der Provinz Tomsk, berühmt für seine Wälder, Seen und Sümpfe. Wereschtschak, den wir schon kennen, begegnete Koba von neuem im Dorfe Kolpaschewo, in dem sich Koba auf der Reise nach seinem Bestimmungsort einige Tage aufhielt. Dort traf er Swerdlow, I. Smirnow, Laschewitsch, lauter alte Bolschewiki. Es wäre damals nicht leicht gewesen vorauszusagen, daß Laschewitsch als von Stalin Verbannter sterben, daß Smirnow von ihm erschossen werden und daß nur ein vorzeitiger Tod Swerdlow vor einem ähnlichen Schicksal bewahren würde. »Die Anwesenheit Stalins im Narymer Gebiet«, schreibt Wereschtschak, »belebte die Tätigkeit der Bolschewiki und war durch mehrere Fluchtversuche gekennzeichnet.« Nach einigen anderen flüchtete Stalin selbst. »Er fuhr fast offen mit dem ersten Frühjahrsdampfer ab ...« In Wirklichkeit ist Stalin erst gegen Ende des Sommers gefahren. Es war seine vierte Flucht.
Bei seiner Wiederankunft in Petersburg am 12. September fand er dort eine gänzlich veränderte Situation vor. Stürmische Streiks waren im Gange. Die Arbeiter gingen von neuem unter revolutionären Losungen auf die Straße. Die Politik der Menschewiki war offensichtlich diskreditiert. Der Einfluß der »Prawda« war mächtig gestiegen. Die Dumawahlen standen vor der Tür. Den Ton für die Wahlkampagne hatte Krakau schon angegeben. Die Stellungen waren bezogen. Die Bolschewiki nahmen an den Wahlen unabhängig von den Liquidatoren und gegen diese teil. Die Arbeiter wurden unter dem Banner der drei Hauptlosungen der demokratischen Revolution zusammengerufen: Republik, Achtstundentag, Beschlagnahme des Großgrundbesitzes. Das demokratische Kleinbürgertum vom Einfluß der Liberalen freizumachen, die Bauern auf die Seite der Arbeiterschaft herüberzuziehen – das waren die Leitideen der Leninschen Wahlplattform. Kühnsten Gedankenflug mit peinlich genauer Aufmerksamkeit für kleinste Einzelheiten verbindend, war Lenin vielleicht der einzige Marxist, der alle Möglichkeiten und alle Fallen des Stolypinschen Wahlgesetzes gründlich studiert hatte. Nachdem er die Wahlkampagne politisch inspiriert hatte, leitete er Tag für Tag die praktische Arbeit, die sie mit sich brachte. Um Petersburg zu helfen, sandte er vom Ausland Artikel, Anweisungen, und gründlich vorbereitete Botschafter.
Safarow, der jetzt zu den Verschollenen gehört, machte auf seinem Wege aus der Schweiz nach Petersburg im Frühjahr 1912 in Krakau halt, wo er erfuhr, daß Inessa, eine führende Parteiarbeiterin, die Lenin politisch sehr nahe stand, ebenfalls abfuhr, um bei der Wahlkampagne zu helfen. »Mindestens zwei Tage lang stopfte uns Iljitsch den Kopf voll mit Instruktionen.« Die Wahlen für die Arbeiter-Standesvertretung in Petersburg waren auf den 16. September angesetzt. Inessa und Safarow wurden am 14. September verhaftet. »Die Polizei wußte aber noch nicht,« schreibt die Krupskaja, »daß Stalin, aus der Verbannung geflüchtet, am Zwölften angekommen war. Die Wahlen zur Arbeiter-Standesvertretung wurden ein großer Erfolg.« Die Krupskaja sagt nicht: »Dank Stalin.« Sie stellt einfach nur zwei Sätze nebeneinander. Eine Maßnahme der passiven Selbstverteidigung. »Stalin, der kurz vorher von Narym geflüchtet war,« heißt es in einer Neuausgabe der Lebenserinnerungen des ehemaligen Duma-Abgeordneten Badajew (in der ersten Ausgabe stand nichts davon), »sprach auf einer Reihe von Versammlungen, die in Fabriken improvisiert worden waren«. »Stalin leitete direkt die ganze gewaltige Wahlkampagne für die Vierte Duma«, meint Allilujew, der seine Erinnerungen erst 1937 schrieb; »... er lebte illegal in Petersburg, hatte keine eigentliche ständige Wohnung und, da er seine nächsten Kameraden nicht spät in der Nacht stören wollte und auch aus konspirativen Gründen, ging er, nach einer Arbeiterversammlung, die lange gedauert hatte, in eine Kneipe, wo er den Rest der Nacht bei einem Glas Tee verbrachte.« Manchmal gelang es ihm, »in der mit Machorkarauch gefüllten Kneipe ein kleines Schläfchen zu machen«.
Stalin kann unmöglich großen Einfluß auf den Ausgang der Wahlen in der ersten Wahlperiode genommen haben, nicht nur, weil er ein schwacher Redner war, sondern auch, weil ihm nur vier Tage zur Verfügung standen. Das konnte er aber wieder wettmachen, indem er in den späteren Perioden dieses gestaffelten Wahlsystems eine bedeutende Rolle spielte, als es notwendig war, die Abgeordneten zusammenzuhalten und sie, auf den illegalen Apparat gestützt, aus den Kulissen heraus zu lenken. Für diese Tätigkeit war Stalin zweifelsohne besser geeignet als irgend jemand sonst.
Ein wichtiges Dokument für die Wahlkampagne waren die »Instruktionen der Petersburger Arbeiter für ihre Deputierten«. In der ersten Ausgabe seiner Lebenserinnerungen sagt Badajew, daß die »Instruktionen« vom Zentralkomitee redigiert wurden, in der neuen Ausgabe wird die Autorschaft aber Stalin persönlich zugeschrieben. Das Wahrscheinlichste ist, daß sie das Ergebnis einer kollektiven Arbeit gewesen sind, bei der Stalin als Vertreter des Zentralkomitees möglicherweise das letzte Wort hatte.
»Wir denken«, wird in den »Instruktionen« gesagt, »daß sich Rußland am Vorabend von Massenbewegungen befindet, die vielleicht tiefergehend sein werden als die von 1905 ... Die Bewegung wird wie 1905 die fortschrittlichste Klasse der russischen Gesellschaft, das russische Proletariat, auf den Plan rufen. Ihr Verbündeter kann nur die gequälte Bauernschaft sein, die an der Befreiung Rußlands ein Lebensinteresse hat.« Lenin schrieb an die »Prawda«-Redaktion: »Veröffentlicht diese Instruktionen unter allen Umständen ... in großen Lettern und auf der ersten Seite.« Ein Kongreß der Delegierten verschiedener Provinzen nahm die bolschewistischen »Instruktionen« mit großer Mehrheit an. In diesen bewegten Tagen trat Stalin auch als Publizist mehr hervor: in der »Prawda« finden wir in einer Woche vier Artikel von ihm.
Die Wahlergebnisse waren in Petersburg, wie im allgemeinen auch in den anderen industriellen Bezirken, sehr günstig. Bolschewistische Kandidaten wurden in den sechs bedeutendsten Provinzen gewählt, in denen zusammen ungefähr vier Fünftel der Arbeiterklasse lebten. Sieben Liquidatoren wurden hauptsächlich mit den Stimmen des städtischen Kleinbürgertums gewählt. »Im Unterschied zu den Wahlen von 1907«, schreibt Stalin in einem vom ausländischen Zentralorgan veröffentlichten Brief, »fallen die Wahlen von 1912 mit dem revolutionären Erwachen der Arbeiter zusammen.« Gerade aus diesem Grunde kämpften die Arbeiter, denen Boykott-Tendenzen ganz fremd waren, aktiv für ihre Wahlrechte. Eine Regierungskommission versuchte, die Wahlen in den größten Petersburger Fabriken für ungültig zu erklären. Die Arbeiter antworteten darauf einmütig mit einem siegreichen Proteststreik. »Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen«, fährt der Briefschreiber fort, »daß die Initiative für den Streik von dem Vertreter des Zentralkomitees ausging.« Es handelt sich um Stalin selbst. Seine politischen Schlußfolgerungen aus der Wahlkampagne: »Die revolutionäre Sozialdemokratie ist lebenskräftig und mächtig – das ist die erste Schlußfolgerung. Die Liquidatoren sind politisch bankrott – das ist die zweite Schlußfolgerung.« Und das war richtig.
Die sieben Menschewiki, meist Intellektuelle, versuchten, die sechs Bolschewiki, politisch wenig erfahrene Arbeiter, ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Ende November schrieb Lenin persönlich an Wassiljew (Stalin): »Wenn alle unsere Sechs aus der Arbeitervertretung kommen, dann müssen sie sich nicht schweigend diesen ganzen Sibiriern unterwerfen. Anspielung auf die nach Sibirien verbannt gewesenen Politiker, die meistens Intellektuelle waren. (Anm. d. Übers.) Die Sechs müssen kräftig protestieren, wenn man sie bevormunden will.« Stalins Antwort auf diesen Brief, wie auch viele andere, wird im Panzerschrank aufbewahrt. Aber Lenins Appell stieß nicht auf Sympathie: die Sechs stellten selbst die Einheit mit den Liquidatoren, die als »außerhalb der Partei befindlich« erklärt worden waren, über ihre politische Unabhängigkeit. In einer besonderen Resolution, die in der »Prawda« veröffentlicht wurde, erklärte die Vereinigte Fraktion, daß die »Einheit der Sozialdemokratie ein dringendes Bedürfnis« sei, sprach sich für die Zusammenlegung der »Prawda« mit der Liquidatorenzeitung »Lutsch« (»Der Strahl«) aus und schlug als einen Schritt in dieser Richtung vor, daß alle Mitglieder an beiden Organen mitarbeiten sollten. Am 18. Dezember veröffentlichte der menschewistische »Lutsch« triumphierend die Namen von vier bolschewistischen Abgeordneten in der Liste seiner Mitarbeiter (zwei hatten sich geweigert); zu gleicher Zeit erschienen die Namen der Mitglieder der menschewistischen Fraktion am Kopf der »Prawda«. Das Versöhnlertum hatte einen neuen Sieg davongetragen, was im Grunde eine Niederlage, sowohl dem Geist wie dem Buchstaben nach, für die Prager Konferenz bedeutete.
Bald erschien noch ein anderer Name auf der Liste der Mitarbeiter des »Lutsch«: der Gorkis. Das sah nach einem Komplott aus. »Und wie fühlen Sie sich bei ›Lutsch‹???«, schrieb Lenin an Gorki mit drei Fragezeichen. »Ist es möglich, daß Sie den Spuren der Abgeordneten folgen? Die sind doch aber nur einfach in die Falle gegangen!« Stalin befand sich während des vorübergehenden Triumphs der Versöhnler in Petersburg, wo er für das Zentralkomitee die Kontrolle über die Fraktion und die »Prawda« ausübte. Niemand hat je von einem Protest Stalins gegen die Beschlüsse gesprochen, die der Politik Lenins einen harten Schlag versetzten – ein sicheres Zeichen dafür, daß hinter den Kulissen, wo sich die versöhnlerischen Manöver abspielten, Stalin selbst stand. Der Abgeordnete Badajew schrieb später, seine Sünde bekennend: »Wie in allen anderen Fällen entsprach unser Beschluß ... dem Geisteszustand, der in den leitenden Kreisen der Partei herrschte, mit denen wir damals Gelegenheit hatten, über unsere Tätigkeit zu diskutieren ...« Diese Umschreibung zielt auf das Petersburger Büro des Zentralkomitees und in erster Linie auf Stalin hin. Badajew plädiert vorsichtig dafür, daß die Verantwortung für die von den Führern begangenen Fehler nicht auf die Geführten abgewälzt werde.
Vor einigen Jahren ist in der sowjetischen Presse die Bemerkung laut geworden, daß die Geschichte des internen Kampfes zwischen Lenin auf der einen, der Dumafraktion und der »Prawda«-Redaktion auf der anderen Seite noch nicht genügend aufgeklärt sei. In den letzten Jahren ist alles getan worden, um eine solche Aufklärung schwieriger denn je zu gestalten. Die Korrespondenz Lenins aus jener kritischen Periode ist bis heute noch nicht vollständig veröffentlicht worden. Dem Historiker stehen nur solche Dokumente zur Verfügung, die aus dem einen oder anderen Grunde den Archiven vor der Einrichtung der totalitären Kontrolle entnommen worden sind. Immerhin ergeben selbst diese vereinzelten Fragmente ein klares Bild. Lenins Unversöhnlichkeit war nur die Kehrseite seines realistischen Weitblicks. Er bestand auf einer Scheidung in Richtung der Linie, die schließlich die Schlachtlinie des Bürgerkriegs werden sollte. Der Empiriker Stalin war organisch unfähig, sich zu einer so weiten Sicht aufzuschwingen. Er bekämpfte während der Wahlkampagne energisch die Liquidatoren, um seine eigenen Abgeordneten zu haben: ihm ging es darum, sich einen wichtigen Stützpunkt zu schaffen. Doch als diese organisatorische Aufgabe einmal gelöst war, hielt er es nicht für angebracht, einen neuen »Sturm im Wasserglas« zu entfesseln, um so mehr als die Menschewiki, unter dem Einfluß der revolutionären Welle, bereit schienen, eine neue Sprache zu sprechen. Wahrhaftig, es war kein Grund vorhanden, »nach den Sternen zu greifen«. Lenins ganze Politik war auf die revolutionäre Erziehung der Massen abgestimmt. Der Kampf während der Wahlkampagne war für ihn sinnlos, wenn sich die sozialdemokratischen Abgeordneten nach der Wahl vereinten! Ihm erschien es notwendig, den Arbeitern bei jeder Gelegenheit – bei jedem Schritt, bei jedem Ereignis – die Möglichkeit zu geben, sich selbst davon zu überzeugen, daß sich die Bolschewiki in allen Grundfragen klar von allen anderen politischen Gruppierungen unterschieden. Dies war der wichtigste Konfliktstoff zwischen Krakau und Petersburg.
Die Schwankungen der Dumafraktion waren eng mit der Politik der »Prawda« verbunden. »In dieser Periode«, schreibt Badajew 1930, »leitete Stalin, der illegal lebte, die Prawda.« Ebenso schreibt der gut unterrichtete Saweljew: »Der illegal lebende Stalin leitete praktisch die Zeitung im Herbst 1912 und im Winter 1912/13. Er war nur einmal während der kurzen Zeit abwesend, wo er ins Ausland und nach Moskau und anderen Orten gegangen war.« Diese Bekundungen von Augenzeugen, die mit allen bekannten Tatsachen übereinstimmen, können nicht in Zweifel gestellt werden. Trotzdem ist es nicht richtig, daß Stalin im eigentlichen Sinne des Wortes der Leiter der Zeitung war. Der Mann, der tatsächlich die Zeitung leitete, war Lenin. Jeden Tag schickte er Artikel, Kritiken der Artikel anderer, Vorschläge, Anweisungen, Korrekturen. Der langsam denkende Stalin konnte wahrscheinlich diesem reißenden Strom von Ideen und Suggestionen gar nicht folgen, der ihm sicherlich zu neun Zehnteln als übertrieben und überflüssig erschien. Die Redaktion hielt sich im wesentlichen in der Defensive. Sie hatte keine eigenen politischen Ideen und bemühte sich lediglich, die scharfen Ecken der Krakauer Politik abzurunden. Lenin verstand es aber, diese Ecken nicht nur zu erhalten, sondern sie noch schärfer zuzuspitzen. Unter diesen Umständen wurde Stalin natürlich der heimliche Einflüsterer der versöhnlerischen Opposition gegen Lenins offensive Haltung.
»Neue Konflikte«, sagen die Herausgeber der sämtlichen Werke Lenins (Bucharin, Molotow, Saweljew), »tauchten auf infolge der schwächlichen Polemik gegen die Liquidatoren nach der Beendigung der Wahlkampagne und auch gelegentlich der Einladung an die ›Vorwärtsler‹ zur Mitarbeit an der ›Prawda‹. Die Beziehungen verschlechterten sich noch mehr nach der Abreise von J. Stalin aus Petersburg im Januar 1913.« Die sorgfältig abgewogene Formel »verschlechterten sich noch mehr«, zeigt, daß sich die Beziehungen zwischen Lenin und der Redaktion schon vor der Abfahrt Stalins nicht durch Freundschaftlichkeit auszeichneten. Aber Stalin hat es stets und auf jede Weise vermieden, sich zur »Zielscheibe« zu machen.
Die Mitglieder der Redaktion hatten wenig Einfluß innerhalb der Partei, und einige unter ihnen waren Zufallsfiguren. Es wäre für Lenin nicht schwierig gewesen, sie durch andere zu ersetzen. Aber sie fanden eine Stütze in der Haltung der höheren Parteiregion und in der Person des Vertreters des Zentralkomitees. Ein heftiger Konflikt mit Stalin, der mit der Redaktion und der Fraktion eng verbunden war, hätte den Generalstab der Partei erschüttert. Deswegen war Lenins Politik bei aller Entschiedenheit doch vorsichtig. Am 13. November warf er der Redaktion »tief bekümmert« vor, der Eröffnung des Internationalen Sozialistenkongresses in Basel keinen Artikel gewidmet zu haben: »Es wäre nicht schwer gewesen, einen solchen Artikel zu schreiben, und die Redaktion der ›Prawda‹ wußte, daß der Kongreß am Sonntag eröffnet wurde.« Stalin war wahrscheinlich ehrlich überrascht. Ein internationaler Kongreß? In Basel? Das lag nicht in seinem Gesichtskreis. Die Hauptquelle der Konflikte waren aber nicht vereinzelte, wenn auch fortlaufend vorkommende Dummheiten, sondern die grundlegenden Unterschiede in der Art, wie die Entwicklung der Partei zu beurteilen war. Lenins Politik hatte nur von einer kühnen revolutionären Perspektive aus einen Sinn, vom Gesichtspunkt der Auflagenhöhe der Zeitung aus oder der Errichtung eines Apparats konnte sie nur höchst extravagant erscheinen. Im Grunde seines Herzens hielt Stalin den »Emigranten« Lenin immer noch für einen Sektierer.
Hier muß ein bezeichnender Zwischenfall aus jener Zeit vermerkt werden. In jenen Jahren befand sich Lenin in großer Notlage. Als die »Prawda« auf den Beinen stand, legte die Redaktion für ihren Inspirator und Hauptmitarbeiter ein Honorar fest, das, obwohl äußerst bescheiden, seine wichtigste Einkommensquelle war. Genau in dem Augenblick, als der Konflikt seinen Höhepunkt erreichte, kam kein Geld mehr. Trotz seiner ungewöhnlichen Zurückhaltung in Dingen dieser Art, war Lenin gezwungen, sich in Erinnerung zu bringen. »Warum sendet ihr das geschuldete Geld nicht? Die Verzögerung verursacht uns beträchtliche Schwierigkeiten. Bitte beeilt euch.« Die Verzögerung in der Absendung des Geldes kann schwerlich als eine Art von finanzieller Bestrafung angesehen werden (obwohl Stalin später, als er an der Macht war, nicht zögerte, fortwährend zu solchen Methoden zu greifen). Aber selbst wenn es sich nur um eine einfache Unaufmerksamkeit gehandelt hat, so wirft sie ein bezeichnendes Licht auf die Beziehungen zwischen Petersburg und Krakau. Sie waren in der Tat alles andere als freundschaftlich.
Die Empörung über die »Prawda« machte sich in einem Briefe Luft, der unmittelbar nach der Abreise Stalins nach Krakau geschrieben wurde. Stalin fuhr dorthin, um einer Konferenz des Generalstabs der Partei beizuwohnen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Lenin nur auf diese Abreise gewartet hatte, um in das Petersburger Versöhnlernest zu stechen und gleichzeitig die Möglichkeit einer friedlichen Verständigung mit Stalin zu wahren. Im selben Augenblick, in dem der einflußreichste Feind neutralisiert ist, unternimmt Lenin einen mörderischen Angriff auf die Petersburger Redaktion. In seinem an eine Vertrauensperson in Petersburg adressierten Brief spricht Lenin von der »unverzeihlichen Stupidität«, die die »Prawda« in ihrem Verhalten gegenüber einer Zeitung der Textilarbeiter an den Tag gelegt habe, besteht darauf, daß »diese Stupidität« wiedergutgemacht werde und so weiter. Der Brief ist gänzlich von der Hand der Krupskaja geschrieben. Folgendes aber ist in Lenins Handschrift hinzugefügt: »Wir haben einen stupiden und unverschämten Brief von der Redaktion bekommen. Wir werden nicht antworten. Man muß sie loswerden ... Wir sind sehr beunruhigt darüber, daß wir keine Nachrichten über den Plan für die Umorganisierung der Redaktion haben ... Eine Umorganisierung oder noch besser der vollständige Ausschluß aller an der Angelegenheit Beteiligten ist unbedingt notwendig. Es ist ganz absurd. Sie loben den ›Bund‹ und die ›Zeit‹ (eine opportunistische jüdische Zeitschrift), das ist einfach verächtlich. Sie wissen nicht, wie sie gegen ›Lutsch‹ kämpfen sollen, und ihre Haltung gegenüber den Artikeln (Lenins Artikeln) ist monströs. Ich habe einfach die Geduld verloren ...« Der Ton dieses Briefes zeigt, daß Lenins Empörung – und er wußte sich zurückzuhalten, wenn es notwendig war – ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die vernichtende Kritik an der Zeitung bezieht sich auf die ganze Periode, während der Stalin für die Zeitung verantwortlich war und sie direkt überwachte. Von wem eigentlich der »stupide und unverschämte Brief der Redaktion« geschrieben worden ist, das ist noch nicht enthüllt worden, und sicherlich nicht durch Zufall. Stalin hat ihn kaum geschrieben, dazu war er zu vorsichtig, übrigens befand er sich um jene Zeit wohl schon nicht mehr in Petersburg. Am wahrscheinlichsten ist, daß der Brief von Molotow stammt, dem offiziellen Redaktionssekretär, der ebenso zur Grobheit neigt wie Stalin, aber nicht des Letzteren Wendigkeit besitzt. Es ist nicht schwer zu erraten, welchen Charakter der »stupide und unverschämte« Brief trug: »wir« sind die Redaktion, »wir« entscheiden, Ihre Emigranten-Vorstellungen sind für uns ein »Sturm im Wasserglas«, Sie können, wenn Sie wollen, »nach den Sternen greifen«, wir, »wir arbeiten« !
Mit welcher Entschiedenheit Lenin diesmal an den chronischen Konflikt heranging, zeigen folgende Zeilen: »Was ist in bezug auf die Kontrolle des Geldes getan worden? Wer hat die Subskriptionsgelder bekommen? In wessen Händen befinden sie sich? Wieviel ist es?« Lenin schloß offenbar nicht die Möglichkeit eines Bruchs aus und war bemüht, die Gelder in eigene Hände zu bekommen. Doch kam es nicht zum Bruch, die aufgescheuchten Versöhnler wagten nicht einmal, daran zu denken. Passiver Widerstand war ihre einzige Waffe. Auch diese sollte ihnen nunmehr aus der Hand geschlagen werden.
Die Krupskaja beginnt ein Schreiben an Schklowsky in Bern, in dem sie diesem auf einen pessimistischen Brief antwortet und sagt, daß die Sache der Bolschewiki nicht so schlecht stünde wie es scheine, mit dem Eingeständnis, daß »natürlich die ›Prawda‹ schlecht geleitet ist«. Der Satz nimmt sich wie ein Gemeinplatz aus, wie etwas, das keiner Diskussion bedarf. »Jeder x-beliebige kann Redakteur werden, die wenigsten wissen eine Feder zu führen ... Die Proteste der Arbeiter gegen ›Lutsch‹ werden nicht veröffentlicht, um Polemiken aus dem Wege zu gehen.« Doch kündigt die Krupskaja für die nahe Zukunft »gründliche Reformen« an. Dieser Brief ist am 19. Januar geschrieben worden. Am nächsten Tage sandte Lenin einen Brief nach Petersburg, den er der Krupskaja diktiert hatte und wo es heißt: »... wir müssen unsere eigene ›Prawda‹-Redaktion aufstellen und die jetzige verjagen. Die Dinge stehen jetzt sehr schlecht. Daß keine Kampagne für die Einheit von unten durchgeführt wird, ist stupide und verächtlich ... Kann man so etwas Redakteure nennen? Das sind keine Männer, sondern erbärmliche Waschlappen, die die Sache zugrunde richten.« Das war der Stil, den Lenin anwandte, wenn er zeigen wollte, daß er bereit war, den Kampf bis zum bitteren Ende durchzufechten.
Von sorgfältig plazierten Batterien aus eröffnete er ein paralleles Feuer gegen das Versöhnlertum in der Dumafraktion. Schon am 3. Januar hatte er nach Petersburg geschrieben: »Sorgt dafür, daß der Brief der Bakuer Arbeiter, den wir Euch zusenden, unbedingt veröffentlicht wird ...« In dem Brief wird der Bruch der bolschewistischen Abgeordneten mit »Lutsch« verlangt. Nachdem sie die Tatsache hervorgehoben hatten, daß die Liquidatoren im Verlaufe der letzten fünf Jahre »in allen Tonarten wiederholt haben, daß die Partei tot ist«, fragten die Bakuer Arbeiter: »Wie kommt es, daß sie sich jetzt mit einem Kadaver vereinigen wollen?« Die Frage traf den Nagel auf den Kopf. »Wann werden die Vier (Deputierten) ›Lutsch‹ verlassen?«, fragte Lenin seinerseits unablässig. »Kann man noch länger warten? ... Selbst aus dem fernen Baku protestieren zwanzig Arbeiter.« Man kann die Vermutung wagen, daß Lenin, nachdem er den Bruch der Deputierten mit »Lutsch« mittels des Briefwechsels nicht erreicht hatte, nun behutsam dazu überging, die untere Mitgliedschaft zu mobilisieren. Zweifellos hatten die Bakuer Arbeiter auf seine Initiative hin protestiert – nicht zufällig hatte Lenin Baku gewählt! – und ihr Protest wurde nicht an die Redaktion der »Prawda« gesandt, die der Bakuer Führer Koba leitete, sondern an Lenin in Krakau. Hier werden die verwirrten Fäden des Konfliktes klar übersichtlich. Lenin greift an. Stalin manövriert. Trotz des Widerstandes der Versöhnler, aber mit der unfreiwilligen Hilfe der Liquidatoren, deren Opportunismus immer offensichtlicher wurde, gelingt es Lenin bald, die bolschewistischen Abgeordneten zu veranlassen, sich unter Protest von der Mitarbeit an »Lutsch« zurückzuziehen. Doch waren sie weiterhin an die Disziplin der Liquidatorenmehrheit in der Dumafraktion gebunden.
Zum Schlimmsten bereit, selbst zum Bruch, ergreift Lenin wie immer alle Maßnahmen, um sein politisches Ziel mit den mindesten Erschütterungen und so wenig Opfern wie möglich zu erreichen. Eben deshalb berief er zuerst einmal Stalin ins Ausland und gab ihm zu verstehen, daß er besser daran täte, sich von der »Prawda« während der bevorstehenden »Reformen« fernzuhalten. Gleichzeitig wurde ein anderes Mitglied des Zentralkomitees nach Petersburg geschickt – Swerdlow, der zukünftige erste Präsident der Sowjetrepublik. Diese bezeichnende Tatsache ist offiziell bestätigt: »Um die Redaktion umzuorganisieren«, heißt es in einer Fußnote im XVI. Band der Sämtlichen Werke Lenins, »hat das Zentralkomitee Swerdlow nach Petersburg geschickt.« »Heute haben wir von dem Anfang der Reform in der ›Prawda‹ erfahren«, schrieb Lenin an ihn. »Tausend Grüße, wir wünschen Glück und Erfolg ... Sie können sich nicht vorstellen, bis zu welchem Grade wir es satt haben, mit einem versteckt feindlichen Redaktionsstab zu arbeiten.« Mit diesen Worten, in denen sich die angesammelte Bitterkeit mit einem Seufzer der Erleichterung mengt, zieht Lenin den Schlußstrich unter jene ganze Periode schwieriger Beziehungen mit der Redaktion, während welcher, wie wir gesehen haben, »Stalin der eigentliche Leiter der Zeitung war«.
»Der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich deutlich«, schrieb Sinowjew im Jahre 1934, als das Damoklesschwert schon über seinem Haupte hing, »was für ein Ereignis Stalins Ankunft in Krakau war.« Lenin war doppelt erfreut, einmal, weil er jetzt, wo Stalin nicht in Petersburg war, dort eine heikle Operation vornehmen konnte und weiter, weil sich im Innern des Zentralkomitees die Angelegenheit wahrscheinlich ohne Zwischenfälle beilegen ließ. In ihrem kurzen und vorsichtigen Bericht über Stalins Aufenthalt in Krakau bemerkt die Krupskaja wie nebenbei: »Iljitsch war wegen der ›Prawda‹ sehr nervös. Stalin wurde ebenfalls nervös. Sie verständigten sich über die Regelung der Angelegenheit.« Diese bei all ihrer absichtlichen Verschwommenheit sehr aufschlußreichen Zeilen sind alles, was von einem auf Verlangen des Zensors korrigierten viel offeneren Text übriggeblieben ist. Nach allem, was wir schon über die ganzen Umstände wissen, ist kein Zweifel daran möglich, daß Lenin und Stalin aus verschiedenen Gründen »nervös« waren; jeder von ihnen wollte seine eigene Politik verteidigen. Indes, der Kampf war allzu ungleich: Stalin mußte nachgeben.
Die Konferenz, zu der er berufen worden war, tagte vom 28. Dezember 1912 bis zum 1. Januar 1913. Elf Personen nahmen daran teil – Mitglieder des Zentralkomitees, der Dumafraktion und bekannte örtliche Leiter. Außer den allgemeinen politischen Aufgaben, die der neue revolutionäre Aufschwung stellte, beschäftigte sich die Konferenz mit den brennenden Fragen des internen Parteilebens – der Dumafraktion, der Parteipresse, den Beziehungen mit den Liquidatoren und dem Losungswort »Einheit«. Die Hauptreferate wurden von Lenin gehalten. Man kann annehmen, daß die Duma-Abgeordneten und ihr Führer Stalin viele bittere Wahrheiten zu hören bekamen, wenn diese auch in freundlichem Tone gesagt wurden. Stalin scheint sich auf der Konferenz ausgeschwiegen zu haben. Nur so ist es zu erklären, daß der ergebene Badajew in der ersten Auflage seiner Erinnerungen (1929) Stalin unter den Teilnehmern nicht einmal erwähnt. In kritischen Augenblicken zu schweigen, ist eine Methode, die Stalin anzuwenden liebt. Die Protokolle und andere Dokumente über die Konferenz »sind noch nicht gefunden worden«. Höchstwahrscheinlich wurden besondere Maßnahmen getroffen, um dafür zu sorgen, daß sie nicht gefunden wurden. In einem der Briefe, die die Krupskaja in dieser Zeit nach Rußland sandte, wird gesagt: »Die Berichte, die auf der Konferenz von den verschiedenen Ortsgruppen abgegeben wurden, waren sehr interessant. Jeder sagt, daß die Massen reifer geworden sind. Während der Wahlen ist es offenbar geworden, daß es überall spontan entstandene Arbeiterorganisationen gibt. In den meisten Fällen sind sie nicht an die Partei gebunden, aber ihrem Geiste nach sind es Gruppen der Partei.« Was Lenin betrifft, so schrieb er an Gorki, daß die Konferenz »sehr erfolgreich« gewesen sei und »ihre Bedeutung haben« würde. Ihm lag vor allem an einer Neuausrichtung der Parteipolitik.
Nicht ohne eine gewisse Ironie teilte die Geheimpolizei dem Leiter ihrer Auslandsagentur mit, daß, im Gegensatz zu seinem letzten Bericht, der Abgeordnete Poletajew nicht an der Konferenz teilgenommen habe, sondern daß folgende Personen anwesend waren: Lenin, Sinowjew, Krupskaja, die Deputierten Malinowsky, Petrowsky, Badajew; Lobow, der Arbeiter Medwedjew, der Artillerieleutnant Trojanowsky (später Botschafter in den Vereinigten Staaten), dessen Frau und Koba. Die Reihenfolge der Namen ist nicht uninteressant. Auf der Liste der Polizei figuriert Stalins Name als letzter. In den Bemerkungen zu Lenins Sämtlichen Werken (1929) wird er an fünfter Stelle genannt, nach Lenin, Sinowjew, Kamenew und Krupskaja, obwohl Sinowjew, Kamenew und Krupskaja damals schon längst in Ungnade gefallen waren. Auf den der neuesten Ära entstammenden Listen besetzt Stalin unweigerlich den zweiten Platz, direkt nach Lenin. Diese Verschiebungen markieren ausgezeichnet die Art seiner geschichtlichen Karriere.
Das Amt der Geheimpolizei wollte mit seinem Briefe beweisen, daß Petersburg besser über das informiert war, was sich in Krakau zugetragen hatte, als die Auslandsagentur. Kein Wunder, spielte doch Malinowsky, dessen wirkliche Rolle als Spitzel nur auf den höchsten Gipfeln des Polizeiolymps bekannt war, eine bedeutende Rolle auf der Konferenz. Daß manche Sozialdemokraten, die mit ihm in den Jahren der Reaktion zusammengekommen waren, ihn schon damals verdächtigten, ist richtig. Sie hatten aber keine Beweise, und der Verdacht verflüchtigte sich. Im Januar 1912 wurde Malinowsky von den Moskauer Bolschewiki zur Prager Konferenz delegiert. Lenin nahm sich des fähigen und energischen Arbeiters an und sorgte dafür, daß er als Kandidat für die Dumawahlen aufgestellt wurde. Die Polizei ihrerseits half ihrem Agenten, indem sie alle seine etwaigen Konkurrenten verhaften ließ. Innerhalb der Dumafraktion erwarb der Vertreter der Moskauer Arbeiter sofort große Autorität. Malinowsky erhielt die Texte für seine Parlamentsreden fix und fertig von Lenin; er übermittelte die Manuskripte dem Polizeichef zur Durchsicht. Dieser versuchte zwar zuerst, die Texte abzuschwächen, aber das Regime in der bolschewistischen Dumafraktion zog der Autonomie des einzelnen Abgeordneten enge Grenzen. Das Resultat war, daß, wenn der sozialdemokratische Abgeordnete der beste Ochrana-Spitzel war, der Ochrana-Spitzel der kämpferischste Redner der sozialdemokratischen Fraktion wurde.
Ein neuer Verdacht gegen Malinowsky tauchte im Sommer 1913 bei verschiedenen bekannten Bolschewiki auf, doch blieb das mangels an Beweisen abermals ohne Folgen. Nun bekam es aber die Regierung selbst mit der Angst zu tun, daß die Sache ruchbar werden und einen politischen Skandal hervorrufen könnte. Auf Befehl seines Vorgesetzten übergab Malinowsky dem Präsidenten der Duma im Mai 1914 eine Erklärung, wonach er auf sein Abgeordnetenmandat verzichtete. Von neuem tauchten Gerüchte über seine Rolle auf, diesmal mit verstärkter Kraft, und gelangten sogar in die Presse. Malinowsky ging ins Ausland und verlangte von Lenin eine Untersuchung. Offenbar hatte er zusammen mit seinen Vorgesetzten die Linie seines Verhaltens sorgfältig ausgearbeitet. Zwei Wochen später veröffentlichte das Petersburger Parteiorgan ein Telegramm, aus dem indirekt hervorging, daß das Zentralkomitee, nachdem es die Angelegenheit Malinowsky untersucht habe, von dessen persönlicher Ehrenhaftigkeit überzeugt sei. Wieder einige Tage später wurde eine Entschließung veröffentlicht, die besagte, daß sich Malinowsky mit dem freiwilligen Verzicht auf sein Abgeordnetenmandat »außerhalb der Reihen der organisierten Marxisten« gestellt habe. In der Sprache der legalen Zeitung bedeutete das den Ausschluß aus der Partei.
Lenin war von seinen Gegnern lange Zeit hindurch scharf angegriffen worden, weil er Malinowsky »gedeckt« habe. Die Mitwirkung eines Polizeiagenten in der Dumafraktion und besonders im Zentralkomitee war natürlich eine große Kalamität für die Partei. So wurde Stalin zu seiner letzten Verbannung auf eine Denunziation Malinowskys hin verurteilt. Doch vergifteten in jenen Tagen überhaupt Verdächtigungen, die häufig mit fraktionellen Feindseligkeiten zusammenhingen, die ganze Atmosphäre der Untergrundbewegung. Niemand lieferte direkte Beweise gegen Malinowsky. Und da Malinowsky einen verantwortlichen Posten innehatte und der Ruf der Partei bis zu einem gewissen Grade von seinem persönlichen Ruf abhing, hielt es Lenin für seine Pflicht, ihn mit der Energie zu verteidigen, die Lenin stets auszeichnete. Nach dem Sturz der Monarchie kam ans Tageslicht, daß Malinowsky für die Polizei tätig gewesen war. In der Oktoberrevolution wurde der Spitzel Malinowsky, der aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager nach Moskau zurückgekehrt war, von einem Gericht zum Tode verurteilt und erschossen.
Trotz des Leutemangels beeilte sich Lenin nicht, Stalin nach Rußland zurückzuschicken. Vor seiner Rückkehr mußten die »gründlichen Reformen« beendet sein. Andererseits brannte auch Stalin nicht darauf, an den Platz seines früheren Wirkens zurückzukehren, nachdem die Krakauer Konferenz seine Politik in indirekter, aber unzweideutiger Weise verurteilt hatte. Wie immer ließ Lenin dem Besiegten einen ehrenvollen Rückzug offen. Rachegedanken waren ihm vollständig fremd. Um Stalin in dieser kritischen Periode im Ausland zurückzuhalten, lenkte er sein Interesse auf eine Arbeit über das Problem der nationalen Minderheiten – ein Verfahren, das ganz im Geiste Lenins lag!
Jemandem, der aus dem Kaukasus mit seinen Dutzenden von halbzivilisierten und primitiven, jedoch rapide erwachenden Völkerschaften gebürtig war, brauchte man nicht die Bedeutung der nationalen Frage klar zu machen. Die Tradition der nationalen Unabhängigkeit lebte in Georgien weiter. Eben von dieser Seite her hatte Koba seine ersten revolutionären Impulse empfangen. Selbst sein Deckname ging auf den Kampf für die nationale Unabhängigkeit zurück. Gewiß stand er, nach Iremaschwili, seit den Jahren der ersten Revolution dem georgischen Problem kühl gegenüber. »Die nationale Freiheit ... bedeutete ihm nichts mehr. Er wollte seinem Willen zur Macht keine Grenzen setzen. Rußland und die ganze Welt waren von nun an sein Begehr.« Iremaschwili nimmt offensichtlich Tatsachen und Einstellungen voraus, die erst einer späteren Zeit angehören. Eins ist über jeden Zweifel erhaben: nachdem Koba Bolschewik geworden war, ließ er die nationalistische Romantik fallen, die weiterhin mit dem kraftlosen Sozialismus der georgischen Menschewiki in friedlicher Harmonie lebte. Doch konnte Koba nicht, nachdem er die Idee der georgischen Unabhängigkeit fallen lassen hatte, wie so viele Großrussen der nationalen Frage im allgemeinen gegenüber indifferent bleiben, weil die Beziehungen zwischen Georgiern, Armeniern, Tataren, Russen und anderen, ständig die revolutionäre Arbeit im Kaukasus komplizierten.
Seiner Einstellung nach war Koba Internationalist geworden. Aber ist er es auch seinem Fühlen nach jemals geworden ? Der Großrusse Lenin wollte keine Witze und Anekdoten anhören, die irgendwie die Gefühle einer unterdrückten Nation hätten verletzen können. Stalin hatte zu viel von einem Bauern aus dem Dorf Didi-Lilo. In den vorrevolutionären Jahren wagte er natürlich nicht, die nationalen Vorurteile auszuspielen, wie er es später tat, als er an der Macht war. Doch die Disposition dafür zeigte sich in Kleinigkeiten schon in jener Zeit. Von dem Übergewicht der Juden in der menschewistischen Fraktion auf dem Londoner Parteitag von 1907 sprechend, schrieb Koba: »Hierzu bemerkte einer der Bolschewiki (ich glaube, es war der Genosse Alexinsky) im Scherz, daß die Menschewiki eine jüdische Fraktion seien, während die Bolschewiki echte Russen sind, und daß es nicht ausgeschlossen wäre, daß wir Bolschewiki einmal ein Pogrom in der Partei veranstalten würden.« Selbst heute muß man sich wundern, daß Stalin es für tragbar hielt, in einem Brief an die Arbeiter des Kaukasus, wo die Atmosphäre von nationalen Gegensätzen vergiftet war, einen Scherz von so zweifelhaftem Geschmack wiederzugeben. Das ist übrigens nicht zufälliger Taktlosigkeit zuzuschreiben, sondern bewußter Berechnung. Wir erinnern uns, daß der Autor in demselben Artikel leichthin über die Resolution des Parteitags bezüglich der Expropriationen »scherzte«, um so die Zweifel zu zerstreuen, die die kaukasischen »Bojewiki« haben konnten. Man kann sicher sein, daß die menschewistische Fraktion in Baku damals von Juden geleitet wurde und daß der Autor mit seinem »Scherz« über einen Pogrom seine Fraktionsgegner in den Augen der rückständigen Arbeiter diskreditieren wollte. Das war einfacher, als sie zu überzeugen und sie zu erziehen, und Stalin hat immer und in jeder Angelegenheit die Linie des geringsten Widerstands gesucht. Hinzugefügt werden mag, daß auch Alexinskys »Scherz« nicht zufällig entstanden ist: dieser ultralinke Bolschewik ist später ein ausgesprochener Reaktionär und Antisemit geworden.
Natürlich hielt Koba in seiner politischen Tätigkeit an der offiziellen Parteieinstellung fest. Doch hatten seine Artikel zu dieser Frage vor seiner Auslandsreise nie über dem Niveau der Tagespropaganda gestanden. Erst jetzt, auf Lenins Initiative hin, behandelte er das Nationalitätenproblem von einem weiteren theoretischen und politischen Gesichtspunkt aus. Seine direkte Kenntnis der verwickelten nationalen Verhältnisse im Kaukasus erlaubte ihm zweifellos, sich leichter auf diesem komplizierten Gebiete zurechtzufinden, wo abstrakte Theorien besonders gefährlich sind.
In zwei Ländern des Vorkriegseuropa hatte die nationale Frage außerordentliche Bedeutung: im zaristischen Rußland und im Österreich-Ungarn der Habsburger. In jedem dieser Länder schuf die Arbeiterpartei ihre eigene Schule. Auf dem Gebiet der Theorie betrachtete die österreichische Sozialdemokratie in den Personen Otto Bauers und Karl Renners die Nationalität unabhängig von Territorium, Wirtschaft und Klasse und machte daraus eine mit dem sogenannten »Nationalcharakter« in Verbindung stehende Art von Abstraktion. Auf dem Gebiet der Nationalitätenpolitik, wie übrigens auf allen anderen Gebieten, wagte sie sich nicht über einige Korrekturen am Status quo hinaus. Aus Furcht vor dem bloßen Gedanken an eine Aufteilung der Monarchie, strebte die österreichische Sozialdemokratie danach, ihr Nationalitätenprogramm den Grenzen eines aus lauter Stückchen zusammengesetzten Staates anzupassen. Ihr Programm der sogenannten »nationalen Kulturautonomie« forderte, daß die Staatsbürger gleicher Nationalität unabhängig von ihrer Verstreuung über das österreichisch-ungarische Territorium und unabhängig von der administrativen Einteilung des Staates auf der Basis rein persönlicher Attribute in eine Gemeinschaft für die Lösung ihrer »kulturellen« Aufgaben vereinigt würden (Theater, Kirche, Schule usw.). Das war ein künstliches und utopisches Programm, insofern es versuchte, in einer von sozialen Gegensätzen zerrissenen Gesellschaft die Kultur vom Territorium und von der Wirtschaft zu trennen. Es war zugleich ein reaktionäres Programm, insoweit es zwangsläufig zu einer Teilung der Arbeiter eines und desselben Staates in verschiedene Nationalitäten führte und so ihre Klassenkraft unterminierte.
Lenins Einstellung war dieser direkt entgegengesetzt. Er betrachtete die Nationalität als unauflöslich mit dem Boden, der Wirtschaft und der Klassenstruktur verbunden, weigerte sich aber gleichzeitig, in dem geschichtlich entstandenen Staat, dessen Grenzen durch die lebendigen Körper der Nationen hindurchgingen, eine heilige und unantastbare Einrichtung zu sehen. Er trat für das Recht auf Lostrennung und unabhängige Existenz für jede Nationalität im Staate ein. In dem Maße wie verschiedene Nationalitäten, freiwillig oder zwangsweise, innerhalb der Grenzen eines Staates zusammenleben, müssen ihre kulturellen Bedürfnisse im Rahmen weitestgehender regionaler (also territorialer) Autonomie ihre größtmögliche Befriedigung finden, und zwar unter genau festgelegten Garantien der Rechte jeder Minderheit. Zugleich hielt es Lenin für eine absolute Pflicht aller Arbeiter eines gegebenen Staates, sich ungeachtet ihrer Nationalität in ein und derselben Klassenorganisation zu vereinigen.
In Polen war die nationale Frage infolge des historischen Schicksals des Landes besonders vordringlich. Die von Josef Pilsudski geführte sogenannte Polnische Sozialistische Partei (»P. P. S.«) kämpfte leidenschaftlich für die Unabhängigkeit Polens; ihr »Sozialismus« war nur ein bedeutungsloses Anhängsel ihres streitbaren Nationalismus. Eine gegensätzliche Stellung dazu nahm die Polnische Sozialdemokratie unter der Leitung von Rosa Luxemburg ein, die die Losung eines unabhängigen Polens im Namen der Autonomie des polnischen Gebietes als konstituierenden Teils eines demokratischen Rußlands bekämpfte. Rosa Luxemburg ging davon aus, daß in der Epoche des Imperialismus die Trennung Polens von Rußland ökonomisch undurchführbar sei und daß sie in der Epoche des Sozialismus überflüssig werden würde. Das »Recht auf Selbstbestimmung« hielt sie für eine leere Abstraktion. Der Streit um diese Frage dauerte Jahre. Lenin bestand darauf, daß der Imperialismus nicht in allen Ländern, Gebieten und Lebenssphären in der gleichen Weise herrsche; daß die Erbschaft aus der Vergangenheit eine Anhäufung und ein Verwickeltsein der verschiedensten historischen Epochen darstelle; daß das Monopolkapital, obschon es sich über alles andere erhebe, doch nicht alles andere beiseiteschieben könne; daß trotz der Herrschaft des Imperialismus die zahlreichen nationalen Probleme ihre ganze Kraft behielten und daß Polen infolge innerer und weltpolitischer Umstände auch in der Epoche des Imperialismus seine Unabhängigkeit erlangen könne.
In Lenins Augen war das Recht auf Selbstbestimmung lediglich eine Anwendung der Prinzipien der bürgerlichen Demokratie auf dem Gebiete der nationalen Beziehungen. Eine echte, vollständige, allseitige Demokratie ist unter dem Kapitalismus nicht zu verwirklichen; in diesem Sinne ist die nationale Unabhängigkeit kleiner und schwacher Völker ebenfalls »unrealisierbar«. Doch hört die Arbeiterklasse selbst unter dem Imperialismus nicht auf, für die demokratischen Rechte zu kämpfen, mit Einschluß des Rechtes jeder Nation auf eine unabhängige Existenz. Mehr noch, in manchen Gebieten unseres Planeten ist es gerade der Imperialismus, der der Losung von der nationalen Unabhängigkeit eine außerordentliche Bedeutung verleiht. Wenn es in West- und Mitteleuropa im Laufe des 19. Jahrhunderts gelungen ist, die nationalen Probleme auf die eine oder andere Weise zu lösen, so hat die Epoche der demokratischen nationalen Bewegungen in Osteuropa, Asien, Afrika und Südamerika erst im 20. Jahrhundert wirklich begonnen. Das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung zu leugnen, läuft faktisch darauf hinaus, den Imperialisten gegen ihre Kolonien und ganz allgemein gegen alle unterdrückten Völkerschaften zu helfen.
In Rußland hatte sich die nationale Frage während der Periode der Reaktion beträchtlich zugespitzt. »Die Welle streitbaren Nationalismus«, schrieb Stalin, »die von oben kommt und die mit einer ganzen Reihe von Repressionsakten seitens derjenigen verbunden ist, die die Macht besitzen und die sich an den Grenzbevölkerungen rächen wollen, weil diese die Freiheit lieben, hat als Antwort eine nationalistische Welle von unten hervorgerufen, die manchmal in primitiven Chauvinismus übergeht.« Damals spielte sich gerade der Ritualmordprozeß gegen den Kiewer Juden Bayliss ab. Rückschauend, im Lichte der letzten Errungenschaften der Zivilisation besonders in Deutschland und in der UdSSR, sieht dieser Prozeß wie ein humanitäres Experiment aus. Im Jahre 1913 aber empörte er die ganze Welt. Das Gift des Nationalismus drohte auch in manche Schichten der Arbeiterklasse einzudringen. Das alarmierte Gorki, der an Lenin schrieb, daß es notwendig sei, sich der chauvinistischen Barbarei entgegenzustellen. »Was den Nationalismus betrifft, bin ich vollständig mit Ihnen einverstanden«, antwortete Lenin, »wir müssen uns ernstlicher denn je damit beschäftigen. Wir haben hier bei uns einen prächtigen Georgier, der jetzt einen langen Artikel für ›Prosweschtschenje‹ (»Aufklärung«) schreibt, nachdem er alles Material, österreichisches und anderes, gesammelt hat. Wir werden ein Auge darauf haben.« Es handelte sich um Stalin. Gorki, der seit langer Zeit mit der Partei verbunden war, kannte alle führenden Leute sehr gut. Stalin aber war ihm natürlich völlig unbekannt geblieben, und Lenin mußte zu der wenn auch schmeichelhaften, so doch unpersönlichen Formulierung »ein prächtiger Georgier« seine Zuflucht nehmen. Das ist nebenbei bemerkt das einzige Mal, daß Lenin einen bekannten russischen Revolutionär im Hinblick auf seine Nationalität charakterisiert. Natürlich hatte er nicht den Georgier, sondern den Kaukasier im Sinne: das Element der Primitivität zog Lenin zweifellos an; seine Neigung für Kamo stammte nicht von ungefähr.
Während seines zweimonatigen Aufenthalts im Ausland schrieb Stalin eine kurze, aber sehr scharfe Studie unter dem Titel »Der Marxismus und die nationale Frage«. Für eine legale Zeitschrift bestimmt, hielt sich der Artikel an ein vorsichtiges Vokabular. Seine revolutionären Tendenzen schienen nichtsdestoweniger durch. Der Verfasser beginnt, indem er die historisch-materialistische Definition der Nation der abstrakt-psychologischen Definition im Geiste der österreichischen Schule gegenüberstellt. »Die Nation«, schreibt er, »ist eine geschichtlich gebildete dauernde Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des ökonomischen Lebens und der psychologischen Beschaffenheit, die sich in einer gemeinsamen Kultur äußert.« Diese umfassende Definition, die die psychologischen Züge der Nation mit den geographischen und ökonomischen Bedingungen ihrer Entwicklung verbindet, ist nicht nur theoretisch korrekt, sondern auch praktisch fruchtbar, zwingt sie doch dazu, die Lösung des Problems jeder Nation in einer Änderung ihrer materiellen Existenzbedingungen zu suchen, vor allem in bezug auf ihr Territorium. Der Bolschewismus hat niemals fetischistische Ehrfurcht vor Staatsgrenzen gekannt. Das politische Problem bestand darin, das Zarenreich, dieses Völkergefängnis, territorial, politisch und administrativ nach den Wünschen und Bedürfnissen der einzelnen Nationen selbst umzubilden.
Die Partei des Proletariats schreibt den verschiedenen Nationalitäten nicht vor, innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates zu bleiben oder sich von ihm zu trennen: das ist ihre eigene Angelegenheit. Aber sie verpflichtet sich, jeder von ihnen zu helfen, ihren wirklichen nationalen Willen durchzusetzen. Ob die Möglichkeit der Lostrennung von einem Staate besteht, das ist eine Frage der konkreten historischen Umstände und des Kräfteverhältnisses. »Niemand kann sagen«, schrieb Stalin, »daß der Balkankrieg das Ende und nicht der Anfang von Verwicklungen ist. Es ist durchaus möglich, daß eine solche Veränderung der inneren und äußeren Bedingungen eintritt, daß diese oder jene Nationalität in Rußland es für notwendig befindet, die Frage ihrer Unabhängigkeit zu stellen und zu lösen. Und es ist natürlich nicht Aufgabe der Marxisten, in einem solchen Falle Hindernisse zu schaffen. Daraus folgt aber, daß die russischen Marxisten nicht das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung vergessen dürfen.«
Die Interessen der Nationen, die freiwillig innerhalb des demokratischen Rußland verbleiben, werden geschützt mittels der »Autonomie solcher sich selbst bestimmender Einheiten wie Polen, Litauen, Ukraine, Kaukasus usw. Die territoriale Autonomie erlaubt, die Naturreichtümer eines Gebietes besser auszunützen; sie scheidet die Staatsbürger nicht nach nationalen Grenzen und macht es ihnen möglich, sich in Klassenparteien zu organisieren«. Die territoriale Selbstverwaltung der einzelnen Gebiete in allen Sphären des sozialen Lebens steht im Gegensatz zur extraterritorialen – also platonischen – Selbstverwaltung der Nationalitäten lediglich in »Kulturfragen«.
Nun hat aber die Frage der Beziehungen zwischen den Arbeitern verschiedener Nationalität innerhalb eines Staates vom Standpunkt des proletarischen Befreiungskampfes aus unmittelbare äußerste Wichtigkeit. Der Bolschewismus ist für die engste und unauflösliche Vereinigung der Arbeiter aller Nationalitäten in der Partei und in den Gewerkschaften auf der Basis des demokratischen Zentralismus. »Der Typus der Organisation beeinflußt nicht nur die praktische Tätigkeit. Er drückt dem ganzen geistigen Leben des Arbeiters seinen unauslöschlichen Stempel auf. Der Arbeiter lebt das Leben seiner Organisation, in der er sich geistig entwickelt und in der er erzogen wird ... Der internationalistische Organisationstypus ist eine Schule der kameradschaftlichen Gefühle und die beste Agitation für den Internationalismus.«
Eins der Ziele des österreichischen Programms für »kulturelle Autonomie« war die »Bewahrung und Entwicklung der nationalen Eigenheiten der Völker«. Warum und zu welchem Zweck? fragte der Bolschewismus erstaunt. Die verschiedenen nationalen Bruchstücke von der Menschheit loszulösen, das ist nicht unsere Sorge. Sicherlich fordert der Bolschewismus das Recht auf Lostrennung für jede Nation – das Recht, keineswegs die Pflicht als letzte und zuverlässigste Garantie gegen die Unterdrückung. Doch ist ihm die Idee der künstlichen Bewahrung nationaler Besonderheiten gänzlich fremd. Die Beseitigung jeder, auch einer maskierten, auch der raffiniertesten und »nicht spürbaren« nationalen Unterdrückung oder Demütigung muß nicht für eine Trennung, sondern für die revolutionäre Vereinigung der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten ausgenützt werden. Wo immer es nationale Bevorrechtung und Beeinträchtigung gibt, müssen die Nationen die Möglichkeit haben, sich voneinander zu trennen, um die freie Vereinigung der Arbeiter zu fördern, im Namen einer engen Annäherung der Völker und mit, auf weite Sicht, der Perspektive einer eventuellen vollständigen Verschmelzung. Das war die Grundtendenz des Bolschewismus, deren Kraft sich in vollem Maße in der Oktoberrevolution offenbarte.
Das österreichische Programm zeigte nichts als seine eigene Schwäche: es rettete weder das Reich der Habsburger noch selbst die österreichische Sozialdemokratie. Indem es die Besonderheiten der nationalen Gruppen des Proletariats ausbildete und zugleich den unterdrückten Nationalitäten jede wirkliche Befriedigung versagte, diente es als Feigenblatt für die Vorherrschaft der Deutschen und Ungarn und war, wie Stalin richtig sagte, »nur eine verfeinerte Form des Nationalismus«. Es muß allerdings bemerkt werden, daß der Verfasser, wenn er die Sorge um die Bewahrung der »nationalen Besonderheiten« kritisiert, den Gedanken des Gegners in allzu vereinfachter Form wiedergibt. »Man bedenke«, ruft er aus, »Bewahrung solcher nationalen Eigentümlichkeiten wie die Geißelung der transkaukasischen Tataren während des Schaksy-Vaksy-Festes! Entwicklung solcher georgischen nationalen Eigentümlichkeiten wie der Blutrache!« In Wirklichkeit wollten die Austromarxisten natürlich nicht solche völlig reaktionären Überlieferungen erhalten wissen. Was »solche georgischen nationalen Eigentümlichkeiten wie die Blutrache« betrifft, so hat sie Stalin später in einem Ausmaße »entwickelt« wie dieses nie zuvor in der menschlichen Geschichte geschehen ist. Aber das gehört schon auf ein anderes Blatt.
Einen hervorragenden Platz in dieser Schrift nimmt die Polemik gegen seinen alten Gegner Noah Jordania ein, der während der Jahre der Reaktion begonnen hatte, zum österreichischen Programm hinzuneigen. An zahlreichen Beispielen zeigt Stalin, daß die nationale Kulturautonomie »im allgemeinen unnütz ... und von den kaukasischen Bedingungen aus gesehen noch sinnloser und lächerlicher ist«. Nicht weniger entschieden war seine Kritik an der Politik des jüdischen »Bundes«, der nicht auf territorialer, sondern auf nationaler Grundlage organisiert war und sein System der ganzen Partei aufzwingen wollte. »Eins von beiden: entweder der Föderalismus des ›Bundes‹, und dann muß die russische Sozialdemokratie nach dem Prinzip der ›Scheidung‹ der Arbeiter nach Nationalitäten umgebildet werden, oder die internationalistische Organisationsform, und dann muß der ›Bund‹ nach den Prinzipien der territorialen Selbständigkeit umgebildet werden ... Es gibt keinen mittleren Weg: die Grundsätze setzen sich durch, versöhnen lassen sie sich nicht!«
»Der Marxismus und die nationale Frage« stellt zweifellos Stalins bedeutendste – genauer: seine einzige! – theoretische Arbeit dar. Betrachtet man diesen vierzig Druckseiten langen Artikel für sich, so kann man seinen Verfasser für einen hervorragenden Theoretiker halten. Es ist dann nur unverständlich, wieso er weder vor noch nach dieser Arbeit jemals wieder etwas schrieb, was auch nur annähernd dieses Niveau erreichte. Der Schlüssel zu diesem Geheimnis liegt darin, daß die ganze Arbeit von Lenin inspiriert, unter seiner unmittelbaren Anleitung geschrieben und von ihm Zeile für Zeile durchgesehen wurde.
Zweimal in seinem Leben hat Lenin mit engen Mitarbeitern gebrochen, die hochbedeutende Theoretiker waren. Das erste Mal 1903/04, als er sich von allen alten Autoritäten der russischen Sozialdemokratie trennte – Plechanow, Axelrod, der Sassulitsch – und von so hervorragenden jungen Marxisten wie Martow und Potressow. Das zweite Mal in den Jahren der Reaktion, als ihn Bogdanow, Lunatscharsky und Pokrowsky verließen, lauter hochbegabte Schriftsteller. Sinowjew und Kamenew, seine nächsten Mitarbeiter, waren keine Theoretiker. In dieser Hinsicht fand die neue revolutionäre Welle Lenin hilflos vor. Es ist nur natürlich, daß er sich begierig auf jeden jungen Genossen stürzte, der auf diesem oder jenem Gebiet bei der Ausarbeitung eines Problems des Parteiprogramms behilflich sein konnte.
»Diesmal«, erzählt die Krupskaja, »unterhielt sich Iljitsch lange mit Stalin über die nationale Frage und war erfreut, einen Mann zu finden, der sich ernsthaft für dieses Problem interessierte und sich darin zurechtfand. Stalin hatte vorher zwei Monate in Wien verbracht, wo er sich mit der nationalen Frage beschäftigt und sich mit unseren Wiener Bekannten, Bucharin und Trojanowsky, befreundet hatte.« Hier wird nicht alles gesagt. »Iljitsch unterhielt sich lange mit Stalin«, das soll heißen: er gab ihm die leitenden Ideen ein, beleuchtete ihre verschiedenen Aspekte, klärte Mißverständnisse auf, wies auf literarische Quellen hin, sah die ersten Aufzeichnungen durch und korrigierte sie ... »Ich entsinne mich«, sagt dieselbe Krupskaja, »der Haltung Iljitschs gegenüber einem wenig erfahrenen Autor. Er kümmerte sich um den Inhalt, um das Grundlegende, er half und verbesserte. Das alles aber mit größter Zurückhaltung, so daß der betreffende Autor nicht bemerkte, daß er korrigiert wurde. Und Iljitsch wußte wirklich einem Verfasser bei der Arbeit zu helfen. Wenn er zum Beispiel einen Genossen damit beauftragen wollte, einen Artikel zu schreiben, aber nicht wußte, wie dieser damit fertigwerden würde, so knüpfte er zuerst mit ihm eine ausführliche Unterhaltung über das Thema an, entwickelte seine eigenen Gedanken, erweckte das Interesse des Genossen, forschte ihn gründlich aus und schlug ihm dann vor: ›Wollen Sie nicht einen Artikel darüber schreiben?‹ Und der Autor bemerkte nicht einmal, wie sehr ihm das voraufgegangene Gespräch mit Iljitsch geholfen hatte, es fiel ihm gar nicht auf, daß er Iljitschs Lieblingswendungen und -ausdrücke in seinen Artikel übernahm.« Natürlich nennt die Krupskaja Stalin nicht. Doch ist ihre Charakterisierung Lenins als eines Einpaukers junger Autoren in dem Kapitel ihrer Memoiren enthalten, in dem sie von der Arbeit Stalins über die nationale Frage spricht: die Krupskaja war recht oft gezwungen, solche Umwege zu gehen, um Lenins intellektuelle Urheberschaft vor unrechtmäßiger Aneignung zu schützen.
Es ist ganz deutlich zu sehen, wie Stalins Arbeit an seinem Artikel vor sich ging. Zuerst zeigten ihm die Unterhaltungen mit Lenin in Krakau den Weg, die leitenden Ideen und die notwendigen Unterlagen. Dann: Reise Stalins nach Wien, dem Sitz der »Österreichischen Schule«. Da er nicht Deutsch sprach, konnte er mit dem Quellenmaterial nicht allein fertig werden. Aber da war Bucharin, der ganz fraglos ein theoretischer Kopf war, Sprachen und die zum Thema gehörende Literatur kannte und mit den entsprechenden Dokumenten umzugehen wußte. Bucharin ebenso wie Trojanowsky waren von Lenin beauftragt, dem »prächtigen«, aber ziemlich ungebildeten Georgier unter die Arme zu greifen. Die Auswahl der wichtigsten Zitate geht natürlich auf sie zurück. Der logische Aufbau des Artikels, dem es an Pedanterie nicht fehlt, deutet aller Wahrscheinlichkeit nach auf Bucharin hin, der zur professoralen Schreibweise neigte – zum Unterschiede von Lenin, für den das politische oder polemische Interesse die Konstruktion einer Arbeit bestimmte. Darüber ging Bucharins Einfluß nicht hinaus, in der nationalen Frage stand er Rosa Luxemburg näher als Lenin. Wie weit die Beteiligung Trojanowskys ging, wissen wir nicht. Aus jener Zeit aber datieren dessen Beziehungen zu Stalin, die, einige Jahre später und unter veränderten Umständen, dem unbedeutenden und schwankenden Trojanowsky einen der verantwortlichsten diplomatischen Posten sicherten.
Von Wien aus ging Stalin mit seinen Materialien nach Krakau zurück. Da war nun wieder die Reihe an Lenin, den aufmerksamen und unermüdlichen Ratgeber zu spielen. Das Mal seines Denkens und die Spuren seiner Feder sind mühelos auf jeder Seite zu entdecken. Mancher Satz, den der Verfasser ganz mechanisch eingefügt hat, manche Zeile, die der »Ratgeber« offensichtlich selbst geschrieben, scheinen unverständlich oder unerwartet ohne Bezugnahme auf die entsprechenden Werke Lenins. »Nicht die nationale, sondern die Agrarfrage wird das Schicksal des Fortschritts in Rußland entscheiden«, schreibt Stalin, ohne sich näher zu erklären, »die nationale Frage ist ihr untergeordnet.« Dieser richtige und tiefe Gedanke über das spezifische Gewicht der nationalen und der Agrarfrage im Fortgang der russischen Revolution gehörte ganz Lenin und war von ihm im Laufe der Jahre der Reaktion zahllose Male entwickelt worden. In Italien und in Deutschland war der Kampf für die nationale Befreiung und Einheit eine Zeitlang die Achse der bürgerlichen Revolution gewesen. In Rußland, wo die vorherrschende Nationalität, die Großrussen, nicht national unterdrückt war, sondern im Gegenteil andere Nationen unterdrückte, war das anders; doch die Mehrheit der Großrussen selbst, nämlich die Bauernmassen, lebte in der tiefsten Unterdrückung durch die Leibeigenschaft. So verwickelte und reiflichem Überlegen entsprungene Gedanken wären von ihrem tatsächlichen Urheber niemals wie ein Gemeinplatz, nebenbei und ohne Beweisführung und Kommentare, geäußert worden.
Sinowjew und Kamenew, die lange Zeit Seite an Seite mit Lenin gelebt hatten, eigneten sich nicht nur seine Ideen an, sondern auch seine Redewendungen und sogar seine Schreibweise. Von Stalin kann man nicht das gleiche sagen. Natürlich lebte auch er von Lenins Ideen, aber auf Distanz, entfernt, nur in dem Maße, wie er sie für seine eigenen Zwecke brauchte. Die literarische Prozedur seines Lehrmeisters zu übernehmen, dazu war er zu stur und zu plump, zu dumm und zu ungewandt. Deshalb wirkten die von Lenin an seinem Texte angebrachten Korrekturen wie, um mit dem Dichter zu reden, »bunte Flicken auf alten Lumpen«. Die Charakterisierung der österreichischen Schule als einer »verfeinerten Form des Nationalismus« stammt zweifellos von Lenin, wie eine ganze Anzahl anderer, einfacher aber treffender Formulierungen. So schrieb Stalin nicht. Mit Bezug auf Otto Bauers Definition der Nation als »relativer Gemeinsamkeit des Charakters« lesen wir in dem Artikel: »Worin unterscheidet sich denn Bauers Nation von dem mystischen und absoluten ›Nationalgeist‹ der Spiritualisten?« Dieser Satz ist von Lenin geschrieben worden. Weder vorher noch nachher hat sich Stalin jemals in dieser Weise ausgedrückt. Wenn der Artikel ferner bezüglich der eklektischen Berichtigungen, die Bauer an seiner Definition von der Nation angebracht hatte, feststellt: »So widerlegt sich die aus idealistischen Fäden gesponnene Theorie selbst«, so erkennt man sofort Lenins Feder. Dasselbe gilt für die Kennzeichnung der internationalistischen Form der Arbeiterorganisation als einer »Schule der kameradschaftlichen Gefühle«. So schrieb Stalin nicht. Andererseits findet man in der ganzen Arbeit trotz zahlreicher linkischer Stellen keine Chamäleons, die die Farbe von Löwen annehmen, noch unterirdische Schwalben, noch Schutzwände aus Tränen: all diese seminaristischen Verschönerungen hat Lenin ausgestrichen. Das Originalmanuskript mit seinen Korrekturen kann natürlich versteckt gehalten werden. Es ist aber völlig unmöglich, Lenins Hand zu verbergen, so wie unmöglich zu verbergen ist, daß Stalin während der ganzen Jahre seiner Haft und Verbannung nichts hervorbrachte, was auch nur entfernt der Arbeit ähnelt, die er im Laufe einiger Wochen in Wien und Krakau schrieb.
Am 8. Februar, als Stalin noch im Ausland war, beglückwünschte Lenin die Redaktion der »Prawda« »für die bedeutende Besserung in der ganzen Haltung der Zeitung, die sich in den letzten Tagen gezeigt hat«. Die Besserung bestand in der Einstellung gegenüber den Prinzipien und fand ihren Ausdruck vor allem im gesteigerten Kampf gegen die Liquidatoren. Den Berichten Samoilows nach war es Swerdlow, der damals als Chefredakteur wirkte; er lebte illegal, verließ die Wohnung eines »immunen« Abgeordneten nicht und arbeitete den ganzen Tag an den Manuskripten für die Zeitungsartikel. »Er war außerdem auch ein sehr guter Kamerad in allen persönlichen Fragen.« Das ist richtig. Samoilow sagt nichts dergleichen über Stalin, mit dem er in engem Kontakt stand und vor dem er großen Respekt hatte. Am 10. Februar drang die Polizei in die »immune« Wohnung ein, verhaftete Swerdlow und deportierte ihn bald darauf nach Sibirien, sicherlich auf eine Denunziation Malinowskys hin. Ende Februar installierte sich der aus dem Ausland zurückgekehrte Stalin in dieser Wohnung. »Er spielte eine führende Rolle in unserer (Duma-)Fraktion und in der ›Prawda‹«, fährt Samoilow fort, »er nahm nicht nur an allen unseren Besprechungen teil, die wir in der Wohnung abhielten, sondern besuchte auch oft, wobei er ein großes persönliches Risiko einging, die Sitzungen der sozialdemokratischen Fraktion, wo er unsere Stellungnahme in den Diskussionen mit den Menschewiki verteidigte und wo er uns auch in verschiedenen anderen Fragen große Dienste leistete.«
Stalin fand in Petersburg eine beträchtlich veränderte Situation vor. Die fortgeschrittenen Arbeiter unterstützten entschlossen die Swerdlowschen, von Lenin inspirierten Reformen. Die »Prawda« hatte einen neuen Stab von Redakteuren. Die Versöhnler waren ausgeschaltet worden. Stalin dachte nicht daran, seine Position von vor zwei Monaten zu verteidigen. Das war nicht seine Art. Seine einzige Sorge war nur noch, das Gesicht zu wahren. Am 26. Februar schrieb er in der »Prawda« einen Artikel, in dem er die Arbeiter aufforderte, »ihre Stimme gegen die Spaltungsversuche in der Partei zu erheben, von welcher Seite sie auch kämen«. Im Grunde war der Artikel ein Teil der Kampagne zur Vorbereitung der Spaltung in der Dumafraktion und gleichzeitig dazu bestimmt, die Verantwortung auf den Gegner abzuwälzen. Ohne sich noch länger an seine eigene Vergangenheit zu binden, versuchte Stalin jedoch, seine neuen Ziele in die alte Terminologie zu kleiden. Daher seine irreführende Ausdrucksweise über die Spaltungsversuche, »von welcher Seite sie auch kämen«. Auf alle Fälle geht aus dem Artikel klar hervor, daß sein Verfasser nach der Krakauer Schule versuchte, sein Hinüberwechseln auf die neue politische Linie möglichst unbemerkt vorzunehmen. Er hatte aber keine Gelegenheit mehr dazu, da er alsbald verhaftet wurde.
Der frühere georgische Oppositionelle Kawtaradse erzählt in seinen Lebenserinnerungen, wie er Stalin in einem Petersburger Restaurant unter den wachsamen Augen der Polizeispitzel begegnete. Als sie beide später auf der Straße glaubten, daß es ihnen gelungen wäre, die Verfolger abzuschütteln, nahm Stalin einen Wagen. Doch ein anderer Wagen, von Spitzeln besetzt, folgte ihm sogleich. Kawtaradse, der glaubte, daß sein Landsmann diesmal nicht der Verhaftung entgehen würde, vernahm später mit Erstaunen, daß er immer noch in Freiheit war. In einer schwach beleuchteten Straße krümmte sich Stalin zusammen, ließ sich aus dem Wagen gleiten und, ohne gesehen zu werden, auf einen Schneehaufen am Straßenrand fallen. Als der zweite Wagen außer Sicht war, erhob er sich, schüttelte den Schnee ab und ging zu einem Genossen, um sich dort zu verstecken. Drei Tage später verließ er, in der Uniform eines Studenten, sein Versteck und »setzte seine leitende Arbeit in der Petersburger Untergrundbewegung fort«. Kawtaradse versuchte mit seinen ganz offensichtlich zurechtgestutzten Lebenserinnerungen die Hand abzuwenden, die ihn damals schon bedrohte. Doch ist ihm, wie so vielen anderen, für seine Selbsterniedrigung kein Dank zuteil geworden. Die Redaktion der offiziellen Historischen Zeitschrift tat, als hätte sie nicht bemerkt, daß sich Stalin 1911, dem Jahr, in das Kawtaradse die von ihm erzählte Episode verlegt, nur während der Sommermonate in Petersburg aufgehalten hatte, wo es keinen Schnee in den Straßen gegeben haben kann. Nimmt man die Geschichte für bare Münze, dann hat sie sich Ende 1912 oder Anfang 1913 abspielen können, als Stalin nach seiner Rückkehr aus dem Ausland zwei oder drei Wochen in Freiheit blieb.
Im März organisierte die bolschewistische Gruppe, mit der »Prawda« als offiziellem Veranstalter, einen Konzert- und Unterhaltungsabend. Stalin, erzählt Samoilow, »wollte hingehen«, dort könne man mit vielen Genossen zusammentreffen. Er fragt Malinowsky um Rat: kann man gehen, ist es nicht zu gefährlich? Der perfide Ratgeber antwortet, daß es seiner Auffassung nach nicht gefährlich sei. Die Gefahr war Malinowsky selbst. Sofort nach Stalins Ankunft füllte sich der Saal mit Polizeispitzeln. Man versuchte, ihn durch den Bühnenausgang hinauszubringen und hängte ihm einen Frauenmantel über, er wurde aber dennoch verhaftet. Diesmal sollte er für genau vier Jahre von der Bildfläche verschwinden.
Zwei Monate nach dieser Verhaftung schrieb Lenin an die »Prawda«: »Ich beglückwünsche Euch herzlich zu Eurem Erfolg ... Die Besserung ist gewaltig und bedeutend, hoffen wir, daß sie dauernd und endgültig ist ... wenn nur kein Unglück passiert!« Der Vollständigkeit halber muß hier auch der Brief erwähnt werden, den Lenin im Oktober 1913 nach Petersburg sandte, als Stalin schon weit weg in der Verbannung und Kamenew Chefredakteur war: »Hier sind alle mit der Zeitung und ihrem Chefredakteur zufrieden. Die ganze Zeit hindurch habe ich kein kritisches Wort gehört ... jeder ist zufrieden, und ich ganz besonders, es hat sich nämlich herausgestellt, daß ich ein Prophet bin. Erinnern Sie sich?« Und am Ende des Briefes: »Lieber Freund! Alle Aufmerksamkeit richtet sich jetzt auf den Kampf der Sechs für ihre politischen Rechte. Ich bitte Sie, diesen Kampf mit allen Ihren Kräften zu unterstützen und dafür zu sorgen, daß die Zeitung und die marxistische öffentliche Meinung keinen Augenblick lang ins Schwanken geraten.«
All diese Zitate ergeben als unausweichliche Schlußfolgerung, daß nach Lenins Ansicht die Zeitung schlecht gemacht war, solange sie unter Stalins Leitung stand. Während derselben Periode neigte die Dumafraktion zum Versöhnlertum. Die Zeitung begann sich politisch erst richtig aufzurichten, nachdem Swerdlow in Abwesenheit Stalins »gründliche Reformen« vorgenommen hatte. Sie entwickelte sich in zufriedenstellender Weise, als Kamenew ihre Leitung übernahm. Ebenso errangen die Dumaabgeordneten unter seiner Leitung ihre politische Unabhängigkeit.
Malinowsky spielte bei der Spaltung der Fraktion eine aktive Rolle; er spielte sogar zwei Rollen zu gleicher Zeit. Der Polizeigeneral Spiridowitsch schreibt darüber: »Malinowsky, der den Instruktionen Lenins und denen der Geheimpolizei folgte, erreichte im Oktober 1913 ... daß sich die ›Sieben‹ und die ›Sechs‹ endgültig veruneinigten.« Die Menschewiki machten ihre Glossen über das »Zusammentreffen« der Politik Lenins mit der der Geheimpolizei. Jetzt, nachdem der Verlauf der Ereignisse sein Urteil gesprochen hat, hat diese vergangene Diskussion ihre Bedeutung verloren. Die Geheimpolizei erhoffte von der Spaltung innerhalb der Sozialdemokratie eine Schwächung der Arbeiterbewegung. Im Gegensatz dazu glaubte Lenin, daß nur die Spaltung den Arbeitern die notwendige revolutionäre Führung sichern würde. Es ist klar, daß sich die polizeilichen Machiavellis verrechnet haben. Die Menschewiki waren zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Der Bolschewismus siegte auf der ganzen Linie.
Stalin widmete vor seiner letzten Verhaftung mehr als sechs Monate einer intensiven Arbeit, sowohl in Petersburg als auch im Ausland. Er half, die Wahlkampagne für die Duma zu führen, leitete die »Prawda«, nahm an einer wichtigen Konferenz des Generalstabs der Partei im Ausland teil und schrieb seine Arbeit über die nationale Frage. Dieses halbe Jahr hat zweifellos für seine persönliche Entwicklung große Bedeutung gehabt. Zum erstenmal war er für die Arbeit in der Hauptstadt verantwortlich, zum erstenmal kam er in Fühlung mit der hohen Politik; zum erstenmal kam er in enge Berührung mit Lenin. Das falsche Überlegenheitsgefühl, das ihm als realistischem »Praktiker« eigen war, mußte beim persönlichen Kontakt mit dem großen Emigranten einen Stoß erleiden. Seine Selbsteinschätzung mußte kritischer und nüchterner werden, sein Ehrgeiz verhaltener und versteckter. Seine provinzielle Selbstgefälligkeit hatte einen Stoß erlitten und mußte sich nun mit Neid untermischen, den nur die Vorsicht dämpfte. Stalin ging mit zusammengebissenen Zähnen in die Verbannung.