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Seit Oktober ging Annedore Kaschuba in die Danziger Mädchenschule. Tante Gine atmete auf. Den Vormittag über hatte sie nun doch wenigstens ihre behagliche Ruhe von früher wieder. Den andern im Hause aber fehlte der übermütige Wildfang. Minna, die alte Köchin, vergötterte das »Annedorchen«. Ob dieses ihr auch das unterste zu oberst kehrte, ob sie noch soviel Arbeit machte, Minna schaffte immer wieder Ordnung, zwar oft brummend und schimpfend, aber das war nur äußerlich. Die Kleine hatte es ihr mit ihrem Liebreiz und ihrem steten Frohsinn nun mal angetan wie allen im Hause. Denn selbst Fräulein Georgine konnte sich dem Sonnenschein, der von den braunen Kinderaugen ausging, nicht verschließen. Warm strahlte er ihr in das alte Herz und brachte sie immer wieder dazu, den Wildfang doch noch, entgegen aller Vernunft, im Hause zu behalten.
Dem Professor fehlte seine kleine Schülerin, seitdem sie die Schule besuchte, so sehr, wie er es sich gar nicht eingestehen mochte. Er hatte sich doch früher den ganzen Vormittag zu beschäftigen gewußt. Und jetzt wurden ihm die Stunden so lang – trotzdem Annedore doch manchesmal seine Geduld hart auf die Probe gestellt hatte.
Am meisten entbehrte Hektor natürlich seine kleine Freundin. Der war ihr die ersten Tage als gute Kinderfrau getreulich zur Schule gefolgt. Dort hatte er vor dem Eingangstor gelegen und so jämmerlich nach ihr gewinselt und geheult, daß er den Unterricht störte. Dem Schuldiener, der ihn fortjagen wollte, fuhr er, ganz entgegen seiner sonstigen Gutmütigkeit, knurrend gegen die Beine. Der Herr Direktor selber ließ das kleine Mädchen zu sich rufen und ordnete an, daß der Hund künftig daheim bleiben müsse. Annedore wußte nun Bescheid, nicht aber Hektor. Der wollte absolut kein Einsehen haben. Trotzdem seine kleine Herrin ihm streng des Morgens befahl: »Du bleibst zu Hause, Hektor!« Sobald sie um die Ecke verschwunden war, setzte die getreue Hundetöle sich in Trab. Schlau lief Hektor eine andere Straße entlang, und wenn Annedore an der Schule angelangt war, dann stand er bereits, freudig mit dem Zottelschwanz wedelnd, auf sie wartend vor dem Eingangstor. Nicht mit guten Worten und nicht mit bösen war der Hund dazu zu bewegen, seinen Aufpasserposten zu verlassen. Minna mußte ihn in die Besenkammer sperren. Dort heulte und blaffte er den ganzen Vormittag, nicht gerade zur Freude von Tante Georgine. Ließ man ihn dann, kurz bevor die Kleine aus der Schule zu kommen pflegte, frei, dann fegte er wie der Wind die Frauengasse entlang, ihr entgegen. Und vor Freude, sie wieder zu haben, riß das große schwarze Tier das kleine Schulmädel beinahe um.
Denn Hektor war mißtrauisch, ob man seinem Schützling in dem großen Schulgebäude auch nicht etwas Böses antat. Gleich am ersten Tag war es gewesen, da hatte eine Träne an Annedores langen Wimpern gezittert, als sie aus der Klasse trat. Hektor wußte, daß die Kleine so leicht nicht weinte. Unbedingt mußte man ihr etwas zugefügt haben.
Nein, kein Mensch hatte Annedore in der Schule etwas Böses getan. Die Lehrer sowohl wie die Schülerinnen waren dem verlassenen Flüchtlingskinde mit innigem Mitleid entgegengetreten. Wie kam es dann aber bloß, daß der übermütige Wildfang eine Träne im Auge hatte?
Das Schülerinnenregister war, wie stets in einer neuen Klasse, aufgenommen worden. Jedes Kind mußte seinen Namen, Geburtsdatum, Religion, Beruf des Vaters usw. angeben. Da kam die Reihe auch an Annedore.
Die Kleine hatte soviel Neues in der Klasse und soviel an den vielen fremden Kindern anzustaunen, daß sie auf die Frage der Lehrerin, wie sie heiße, gar nicht mehr daran dachte, daß sie jetzt in Danzig Annedore genannt wurde.
»Peter«, sagte sie laut und deutlich.
»Peter?« fragte Fräulein Miehe ganz erstaunt. Und – »Peter – hahaha Peter!« wiederholte die Klasse lachend.
Auslachen ließ sich das kleine Mädel nicht. Wozu hatte sie denn ihre kräftigen Ärmchen, die sich an die größten Dorfbuben daheim gewagt hatten?
»Jawohl, Peter heiße ich, wenn ihr auch so dammlich lacht. Und wenn man mich jetzt hier in Danzig auch zehnmal Annedore nennt! Vater und Mutter zu Hause haben immer Peter zu mir gesagt, und die müssen es besser wissen als ihr hier. Und wer mich auslacht, der kriegt Mutzköpf!« Puterrot im Gesicht, schien die erregte Kleine nicht übel Lust zu haben, ihre Worte sofort in die Tat umzusetzen.
Die Mitschülerinnen saßen starr vor Schreck und Staunen über das ungezogene, vorlaute Mädchen. Die Lehrerin aber trat auf das kriegerische Mädel zu, nahm die geballten Fäustchen sanft zwischen ihre Hände und sagte traurig: »Aber Kindchen, wie kann ein kleines Mädchen nur so rauflustig sein!« Da sah die neue Schülerin Fräulein Miehe an und – schämte sich. Von dem Augenblick an aber hatte sie die sanfte Lehrerin in ihr warmes kleines Herz geschlossen.
»Also Annedore Kaschuba heißt du,« das Namensregister wurde weiter aufgenommen. Die neue Schülerin teilte mit, wie alt sie sei, und wo sie geboren.
»Beruf des Vaters – ach so, die Eltern sind ja tot«, unterbrach sich die Lehrerin erschreckt.
»Aber wo!« schrie Annedore dazwischen und hätte beinahe laut losgelacht. »Vater und Mutter wohnen ja in unserem schönen weißen Häuschen bei Soldau.«
Die junge Lehrerin sah voll heißem Mitgefühl auf das nichtsahnende Kind, das nicht einmal wußte, daß der Krieg es der Eltern beraubt hatte. »Professor Kruse hat bei deiner Anmeldung angegeben, daß deine Eltern aller Wahrscheinlichkeit nach beim Einfall der Russen ums Leben gekommen sind«, sagte Fräulein Miehe so liebevoll wie möglich.
»Dann – dann weiß Onkel Adalbert das eben falsch, wenn er auch schon so alt ist«, rief Annedore eifrig. »Überhaupt, ich müßte ja überhaupt ein schwarzes Kleid anhaben, wenn es wahr wäre, und mein Kleid ist doch grünkariert.« Zur ungeheuren Erleichterung des kleinen Mädchens war ihm das noch eingefallen. Denn der traurige Ernst der Lehrerin machte es doch stutzig.
»Wir wählen unsere Kleidung nach den Ereignissen, aber diese richten sich nicht nach den Kleidern, Herzchen.« Noch einmal streichelte Fräulein Miehe mitleidig das dunkelblonde Köpfchen, dann mußte die nächste ihren Namen nennen.
Annedore hatte gar kein Interesse mehr dafür, wie die Kinder hießen. Wenn sich auch die Lehrerin und Onkel Adalbert bestimmt irrten, das sonst so lustige Kinderherz fühlte sich plötzlich arg bedrückt. Dem Vater konnten die bösen Russen ja gar nichts getan haben. Der war doch in Soldau gewesen. Aber ihrem Muttchen, die allein im Hause zurückgeblieben, wenn sie der nun ein Leids getan hätten! Wieder ballten sich die Kinderhände. Mit allen Russen hätte das kleine Mädchen es in diesem Augenblicke aufgenommen. Um ihren Frohsinn war's geschehen, und als sie zu dem wartenden Hektor hinaustrat, tropfte eine fürwitzige Träne aus den lustigen Braunaugen.
»Tante Gine – Tante Gine – kann jemand auch gestorben sein, wenn man kein schwarzes Kleid um ihn trägt?« so stürmte Annedore zur Tür in das gemütliche Stübchen hinein. Die Tante verstand nicht, worauf die Frage zielte, und was die Kleine so in Erregung gebracht hatte.
»Man wünscht vor allem höflich guten Tag, mein Kind, wenn man ins Zimmer tritt«, erinnerte sie statt einer Antwort.
»So antworte doch – sag' doch!« beharrte das kleine Mädchen.
»Die Füße hast du dir auch wieder nicht draußen auf der Strohmatte abgetreten, Annedorchen. Den ganzen Straßenschmutz schleppst du mir in mein sauberes Zimmer, sieh nur.« Anklagend wies Tante Gine auf den blankgebohnerten Fußboden, der schwärzliche Spuren von Kinderfüßen trug.
Annedore hörte nicht mehr zu, die war schon ein Zimmer weiter. Dort schreckte sie den Professor aus seinem Vormittagsschläfchen.
»Onkel Adalbert, du hast dich bestimmt geirrt – wenn jemand tot ist, muß man ein schwarzes Kleid tragen, und ich habe ein grünschottisches an. Sag' doch, daß es nicht wahr ist, Onkel Adalbert, ja, sag' doch!« Mund, Augen und Hände bettelten um die Wette.
Der alte Lehrer, der so viele Jahre gewöhnt gewesen, in Kinderseelen zu lesen, verstand besser, als seine Schwester, was die Kleine meinte.
Zärtlich zog er sie auf sein Knie.
»Du sprichst, wie ich vermute, von deinen Eltern, Annedore. Ich wünschte, daß ich mich irre. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach ist es leider nicht der Fall. Sonst hätten sie doch bestimmt schon ein Lebenszeichen gegeben. In Gottes unerforschlichen Ratschluß müssen wir uns fügen, mein Kind. Der Krieg fordert viele Opfer.«
Aber das ungezügelte kleine Mädchen hatte es noch nicht gelernt, sich zu fügen. Ungestüm wie sein ganzes Wesen war auch sein Schmerz.
»Und es ist doch nicht wahr – nein – nein – es soll aber nicht wahr sein, Muttchen und Vater sollen wiederkommen!« Annedore trampelte mit den Füßen, schrie und weinte.
Erschreckt eilte Tante Gine herbei und wollte gerade ihrer Empörung über ein so ungezogenes Benehmen Luft machen, als der Bruder ihr einen Wink gab und sie ins Nebenzimmer zog.
»Laß das Kind, Gine, es muß mit dem Schweren fertig werden. Besser, es kämpft sich heute durch seinen Schmerz durch, als daß es jahrelang auf ein Wiedersehen hofft und dann doppelt schwer enttäuscht wird.«
Annedore war nicht dazu zu bewegen, zum Mittagbrot zu kommen. In das Hofgärtchen war sie entwischt. Dort hockte sie zwischen den alten grauen Giebelhäusern auf der weinumrankten, niedrigen Steinmauer, die das Nachbargärtchen von dem des Professors trennte. Unten stand Hektor mit traurig herabhängenden Ohren und leckte seiner kleinen betrübten Herrin tröstend die in Wadenstrümpfchen steckenden Beinchen.
»Hektor – glaubst du auch, daß die Russen Vater und Mutter tot gemacht haben?« leise zitterte die Frage aus dem Kindermund zu dem vierfüßigen Freund herab, als wage Annedore es gar nicht, das Furchtbare auszusprechen.
Hektor hob die Ohren und schüttelte den Kopf. Das tat er oft, besonders wenn eine Fliege ihn, wie gerade jetzt, umsurrte. Das kleine Mädchen aber nahm es für eine Antwort. Mit einem Satz war Annedore von der Mauer. Was kümmerte es sie in diesem Augenblick, daß das neue grünschottische Schulkleidchen, das Tante Gine erst gekauft, ein Dreieck abbekam?
Ebenso ungestüm, wie die Kleine noch vor kurzem in ihrem Schmerz gewesen, umhalste sie den vierfüßigen Freund jetzt in ihrer Freude.
»Ich wußte es ja – ich wußte es ja – Hektor, wir beide glauben nicht daran, und wenn Onkel Adalbert auch zehnmal klüger und älter ist. Vater und Mutter kommen doch wieder!«
Hektor blaffte freudig, da er Annedore nicht mehr traurig sah. Wieder hielt diese es für eine zustimmende Antwort. Seit dieser Stunde stand es, entgegen der Annahme aller anderen, bei Annedore fest, daß ihre Eltern am Leben waren und wiederkommen würden.
Freilich, so froh und ausgelassen wie vordem, vermochte die Kleine trotzalledem tagelang nicht zu sein. Der geheime Druck wollte nicht von ihr weichen. Tante Gine fand diesen Zustand ideal. Ihr Pflegetöchterchen gefiel ihr tausendmal besser, wenn es, wie jetzt, ruhig durch die Zimmer ging und nicht auf Schritt und Tritt wie ein Gummiball hopste. Wenn es die Türen nicht temperamentvoll ins Schloß schmetterte und nicht in einer Minute hundert verschiedene Fragen an ihren alten Kopf stellte. Onkel Adalbert meinte, die Kleine würde das traurige Ereignis nach Kinderart bald vergessen und wieder die alte sein. Minna aber draußen bei ihren Töpfen und Pfannen machte sich von allen dreien die größten Sorgen.
»Mit unserem Annedorchen ist das nicht richtig, gnädiges Fräulein. Das lacht und singt gar nicht mehr, das ist mir in der letzten Woche noch nicht einmal auf den Rücken huckepack geklettert, und so artig ist es geworden, das geht nicht mit richtigen Dingen zu. Unser Kind ist bestimmt krank«, meinte sie bekümmert.
Trotzdem Tante Gine die unnatürliche Artigkeit höchst wohltuend empfand, hielt sie es, da sie sehr ängstlicher Natur war, doch für geraten, mal mit dem alten Hausarzt, Geheimrat Wedel, Rücksprache zu nehmen, ob die Kleine auch nicht krank sei.
Aber der lachte sie aus. »Kerngesund, Fräulein Kruse. Wenn Sie meinen, daß das stillere Wesen ihres Pflegetöchterchens mit der Trauer um die Eltern zusammenhängt, was auch mir einleuchtet, so müssen wir das kleine Fräulein zerstreuen und ablenken. Laden Sie ihr ein paar Schulfreundinnen ein. Mit Altersgenossen wird sie schon wieder munter und fidel werden. Bei so alten ernsthaften Leuten, wie wir es nun mal sind, verlernt solch Dingelchen seine Ausgelassenheit.«
Noch mehr Kinder in ihr stilles, geordnetes Heim – und war es auch nur für ein paar Nachmittagsstunden – nein, Tante Gine hatte gerade der Opfer schon genug gebracht.
»Spiele doch mit dem Puppenwagen und mit meiner alten Aurelie, Kind«, forderte Tante Gine die Kleine freundlich auf, um sie zu zerstreuen.
»Och, der Puppenwagen hat ja nur noch drei Räder und Aurelies Schlafaugen sind in den Kopf hineingerutscht, so 'ne olle Puppe mag ich nicht. Puppen sind überhaupt dumm!« wandte die Kleine ein.
Tante Gine seufzte. Wie ein Heiligtum hatte sie ihre alte Puppe aus längst vergangenen Kindertagen aufbewahrt. Schweren Herzens hatte sie sich herbeigelassen, sie für das neue Pflegetöchterchen hervorzukramen. Sie hatte wunder gedacht, was für eine Freude sie Annedore damit machen würde. Aber die Kleine hatte niemals gern mit Puppen gespielt, die waren dem Wildfang zu zahm und zu langweilig. Tante Gines geliebte Aurelie bezeichnete sie höchst unehrerbietig als »altes Gestell« und wollte durchaus wissen, wer von beiden älter sei, Tante Gine oder die Puppe. Der Puppenwagen hatte gleich einen Militärschnellzug vorstellen müssen. Solchen Anforderungen war das altersschwache Möbel nicht mehr gewachsen. Die Folge davon war, daß er jetzt auf drei Beinen durch das Leben humpeln mußte. Und Puppe Aurelie, welche Tante Gine während ihrer ganzen Kinderzeit tadellos erhalten, befand sich, seitdem sie Annedores Bekanntschaft gemacht, in einem traurigen Zustand.
»Nimm dir doch etwas zu tun vor, wenn du nicht spielen magst. Hole dir dein Strickzeug, das ich dir angefangen habe. Dann stricken wir beide um die Wette«, schlug Tante Gine vor. Sie saß auf dem Hausbänkchen des Beischlags vor der Tür. Im warmen Oktobersonnenschein flimmerten ihre Stricknadeln wie lauter Silber.
Das kleine Mädchen, das sich untätig und unlustig an der Ballustrade des Beischlags herumräkelte, hatte aber zum Stricken erst recht keine Lust. Stricken hieß Stillsitzen, und das war für den Wildfang eine Strafe.
»Ich möchte so gern mit den Jungens mitspielen!« sehnsüchtig wies das kleine Mädchen auf die Straße. Die Frauengasse hinauf kamen Knaben, fast alle mit feldgrauen Mützen in Reih' und Glied anmarschiert. Kleine Rekruten, die Exerzieren spielten.
»Aber Annedorchen, wie unmädchenhaft!« entsetzte sich die alte Tante. »Siehst du ein einziges kleines Mädchen unter den wilden Jungen? Gut erzogene Kinder spielen überhaupt nicht auf der Gasse. Das schickt sich nicht.«
»Zu Hause durfte ich immer mit allen Jungens spielen, auch auf der Dorfstraße. Da war's viel, viel schöner, hier ist es so mopsig! Ich will wieder nach Hause!« ganz leise und traurig kam das letzte hinterher.
Tante Gines altem, gutem Herzen tat das sich heimbangende Kind leid. Seufzend entschloß sie sich, noch mehr Opfer zu bringen.
»Nächstens darfst du dir ein paar kleine Schulfreundinnen einladen, Annedorchen. Mit denen kannst du viel netter spielen, als mit wilden Jungen«, tröstete sie.
»Ja?« – in den Braunaugen ging plötzlich wieder die Sonne auf. Annedore war wie ausgetauscht. Aller Mißmut war aus dem hübschen Gesichtchen verschwunden. Trällernd sprang sie wieder durchs Haus.
Freilich, hätte Tante Gine bereits gewußt, was sie zwei Stunden später wußte, hätte sie eine derartige Aufheiterung für ihr Pflegetöchterchen gar nicht mehr für nötig befunden.
Sobald die Sonne abschiednehmend bis zum letzten Steinknauf des Beischlags gelangt war, pflegte Fräulein Georgine sich zu erheben, um ihren selbstgehäkelten lila Seelenwärmer zu holen. Dann wurde es kühl.
Vergeblich suchte die alte Dame, bei der jedes Ding seit Jahrzehnten den gleichen Platz innehatte, am Garderobenhaken nach ihrem Seelenwärmer. Er war verschwunden. Die ordentliche Tante geriet in Aufregung. Sie begann in ihren Kästen und Schränken herumzusuchen, sämtliche Schubfächer aufzuziehen und alles, was da so peinlich akkurat eingeräumt lag, durcheinander zu stöbern. Aber der lila Seelenwärmer wollte nicht zum Vorschein kommen.
Minna wurde gerufen. Sie begann gleichfalls in allen Ecken und Winkeln herumzusuchen, aber ebenso erfolglos. Auch der Professor, der vom Schachklub heimkehrte, hatte das lila Ding nicht gesehen.
Tante Georgine kam ein düsterer Gedanke. Sie hatte eine neue Waschfrau, die das erstemal in ihr Haus kam. Drunten im Keller stand sie und weichte zum morgigen Waschtag, der stets ein Ereignis in der stillen, gleichmäßigen Häuslichkeit der alten Geschwister bildete, schon im voraus die Wäsche ein. Wie – sollte die Frau nicht ehrlich sein? Aber sie war ihr doch so empfohlen.
Jedenfalls mußte Fräulein Georgine der Sache auf den Grund gehen. Nicht nur ihres Seelenwärmers wegen. Nein, wo eins blieb, konnte auch noch mehr verschwinden. Seife, gute Leibwäsche, altes, schönes Damasttischzeug von ihrer seligen Mutter. Fräulein Georgine geriet bei dieser Vorstellung in begreifliche Aufregung. Sie fühlte sich von dem langen Suchen schon ganz angegriffen. Wenn sie nur nicht wieder ihre Migräne bekam! Trotzdem ließ es ihr keine Ruhe. Das Fenster des Waschkellers ging in das Hofgärtchen hinaus. Von dort konnte sie den Keller übersehen.
Herzklopfend stieg das alte Fräulein die drei ausgetretenen Steinstufen, die zum Gärtchen hinabführten, hinunter. Alles, was außerhalb des regelmäßigen Ganges ihres Lebens lag, war ihr unbequem. Und nun noch eine solche peinliche Untersuchung.
Wie nett Annedore dort an der Hofmauer jetzt mit der Puppe und Hektor spielte. Einen flüchtigen Blick warf Tante Gine hinüber.
Da – schimmerte es da nicht lila zwischen dem schwarzen Hundefell? Und was hatte das Tier denn bloß auf dem Kopf?
Tante Gine traute ihren Augen nicht. So schnell sie nur konnte, lief sie den schmalen Kiespfad entlang, trotz ihrer Eile sorglich darauf achtend, daß sie nirgends auf ein grünes Grashälmchen trat.
Annedore blickte der Kommenden strahlend entgegen. »Wir spielen ›Ostpreußische Flüchtlingsstelle‹, Tante Gine. Frau Hektor will Aurelchen an Kindes Statt annehmen, weil sie vor den alten Russen fliehen mußte, und nicht weiß, wo ihre Eltern sind. Nein, Frau Hektor, ein kleines Mädchen mit Augen habe ich nicht, nur das blinde Kind. Und dann wäre noch hier dieser kleine Junge«, sie hielt der schnuppernden »Frau Hektor« ein niedliches junges Kätzchen vom Nachbarhaus hin, dem sie Höschen von Puppe Aurelie angezogen und dazu ein Mäntelchen übergebunden hatte.
Aber Tante Gine hatte gar keinen Sinn für das komische Spiel der Kleinen. Die wies mit ausgestrecktem Zeigefinger entsetzt auf »Frau Hektor«.
War es denn die Möglichkeit? Ihren guten lila Seelenwärmer, nach dem sie stundenlang gesucht, wegen dessen sie schon heimlich die Waschfrau verdächtigt, hatte der Hund elegant um die Schultern geschlungen. Auf seinem schwarzen Zottelkopf aber wippte ihre beste Morgenhaube. Das gelbe Spitzenhäubchen mit maigrünem Sammetband, das sie selbst nur Sonntagmorgen sich aufzusetzen gestattete.
»Annedore – Annedore – ist das der Dank für all die Opfer, für all die Liebe, die du in unserem Hause empfängst?« Immer noch wies Tante Gines Zeigefinger anklagend auf »Frau Hektor«.
Das brave alte Tier war sich durchaus keiner Schuld bewußt. Freundschaftlich sprang es Tante Gine entgegen, wobei das schöne Spitzenhäubchen ihm auf die schwarze Hundenase rutschte. Da ihm dies unbehaglich war, begann er nach dem maigrünen Samtband zu schnappen.
In heller Empörung brachte Fräulein Georgine zuerst mal ihr Sonntagshäubchen in Sicherheit. Aber den lila Seelenwärmer wollte Hektor nicht herausgeben. Ob er sich so gut darin gefiel, oder ob er Tante Gines Feindseligkeit empfand, er raste wie besessen die Kieswege des Hofgärtchens entlang. Fräulein Georgine atemlos hinterdrein.
An der Mauer aber lehnte Annedore und quiekte vor Vergnügen und Ausgelassenheit. Das war wieder ganz der übermütige Strick von früher.
Tante Gine war durchaus nicht in der Stimmung, sich über die Heiterkeit der Kleinen zu freuen.
»Ungezogenes Mädchen, du lachst, während ich mich ärgere! Sofort nimmst du dem Hund meinen Seelenwärmer ab. Hast du denn gar keine Ehrfurcht vor meinen Sachen, daß du ein Tier damit anzuziehen wagst?« Dabei rannen zwei große Tränen über die verschrumpelten Wangen der alten Dame.
Annedore hielt jäh in ihrer Lustigkeit inne. Tante Gine weinte – ihretwegen – nein, nein, das durfte nicht sein! Ungestüm angelte sie an der alten Tante empor, daß dieselbe von dem Anprall beinahe aus dem Gleichgewicht geschleudert wurde. »Nicht weinen – Tante Ginchen, ich kann nicht sehen, wenn du meinetwegen traurig bist. Sei wieder gut, Tante Ginchen, bitte, bitte!« so bettelte der rote Kindermund und die zärtlichen braunen Augen.
Und die alte Tante Gine, die eben noch fest entschlossen gewesen, ihrem Bruder zu sagen, daß sie Annedore nicht länger behalten könne, neigte sich im Hofgärtchen herab und küßte ihr Pflegetöchterchen verzeihend.