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Am nächsten Tage durfte Annedore nicht gleich nach dem Mittagessen, wie sie es sich vorgenommen, zu ihrem Vater. Der Patient hatte von der Aufregung des plötzlichen Wiedersehens Fieber bekommen und sollte keinen Besuch haben.
War das hart für das kleine Mädchen, am Eingang zum Lazarett wieder kehrtmachen zu müssen. Hatte sie doch den ganzen Tag an nichts anderes denken können, als an das Beisammensein mit dem Vater. Selbst in die Schulstunden hatten sich diese nicht hingehörigen Gedanken mit eingeschlichen. Aber Fräulein Specht hatte heute Nachsicht mit der zerstreuten Schülerin.
Es dauerte eine ganze Woche, bis das Töchterchen wieder den Vater besuchen durfte. Eine schwere Geduldsprobe für das zappelige Ding! Aber dann hatte sie wenigstens die Freude, den Vater auf dem Wege der völligen Genesung zu sehen. Dieselbe schritt nun schnell vorwärts. Täglich weilte Annedore im Lazarett und leistete ihrem Vaterchen getreulich Gesellschaft. Fast alle dort kannten bald das lustige, hübsche Kind und scherzten mit ihm. Es war den Verwundeten, als ob ein lebendiger Sonnenstrahl durch den Saal husche, wenn die Kleine erschien.
Wie stolz war Annedore, als der Vater seinen ersten Ausgang, auf ihren Arm gestützt, machte! All die alten Giebelhäuser in Danzig verwunderten sich, daß der Wildfang nicht wie sonst durch die Straßen sprang und hopste, sondern fein ruhig einherschritt. Natürlich ging's zur Frauengasse. Vater mußte doch sehen, wo sein Peterchen jetzt zu Hause war. Tante Ginchen hatte den Kaffeetisch feierlich mit den schönen Röschentassen gedeckt, und Minna einen großen Napfkuchen zum Empfang gebacken. Die glücklichen Blicke der leuchtenden Kinderaugen wanderten zwischen dem Vater und dem großen Kuchen hin und her.
Zweifelhaft aber war es, wer sich mehr mit dem Vater freute – die Kleine oder Hektor. Sein Freudengeheul lockte sämtliche Bewohnerinnen der Frauengasse an das Fenster. Rührend war es, zu sehen, wie das treue Tier seinem Herrn die Hände leckte.
Herr Kaschuba war von Herzen froh, sein Kind bei so guten Menschen untergebracht zu wissen. Er dankte ihnen aufs wärmste für all die Liebe, die sie seiner Kleinen zuteil werden ließen.
Aber die guten, alten Leutchen wollten davon nichts hören. »Es ist uns selbst die größte Freude, unser Annedorchen im Hause zu haben«, so sagte Tante Ginchen, die sich so schwer dazu verstanden hatte, das kleine Mädchen zu behalten. Mit ihren runzligen Händen strich sie liebevoll die rosigen Wangen ihres Pflegetöchterchens.
Aber es sollten wieder Zeiten kommen, wo Fräulein Georgine anderer Meinung ward. Wo der Ärger über das Annedorchen die Freude, welche dieselbe machte, überwog.
Herr Kaschuba war genesen zur Front zurückgekehrt. Die schönsten Blumen aus Tante Gines Hofgärtchen schmückten seinen feldgrauen Helm. Bis zum Bahnhof gab ihm sein Töchterchen das Geleit.
»Das erste paar Strümpfe, das ich fertig gestrickt habe, schicke ich dir, Väterchen«, versprach sie zärtlich.
»Ei, Peterchen, ich hoffe, der Frieden wird eher da sein, als deine Strümpfe«, scherzte der Vater, der die Vorliebe seines Wildfangs für Stillsitzen kannte.
Aber der Vater irrte sich. Zum Staunen von Tante Gine und der Frauengasse fand sich Annedore jetzt öfters auf dem Hausbänkchen des Beischlags zum Stricken ein. Mit puterrotem Gesicht mühte sie sich, zerrte und zog an Nadeln und Faden, bis die gute Tante Ginchen sich erbarmte und Ordnung schaffte.
Das alte Fräulein frohlockte heimlich. Sollte aus dem Unband unter ihrer Erziehung am Ende doch noch ein sittsames kleines Mädchen werden?
Fräulein Georgine freute sich leider zu früh. Am nächsten Tage war Annedore zur Geburtstagsgesellschaft bei einer kleinen Schulfreundin eingeladen. Tante Gine und Minna wollten mit ihrem Kinde Ehre einlegen. Letztere wusch und bügelte das weiße Stickereikleid, daß es wie ein Hauch aussah. Tante Gine aber kaufte sogar eine mattrosa Seidenschärpe dazu.
Als Annedore sich in ihrem Staat kurz vor vier Uhr auf den Weg machte, stand die alte Tante, die Minna, ja selbst der greise Herr Professor draußen auf dem Beischlag. Alle drei schauten sie dem reizenden kleinen Ding nach, das von Hektor begleitet, im Hopsaschritt die Gasse entlangsprang.
»Sieht sie nicht wie ein Prinzeßchen aus?« fragte Tante Ginchen mit freudigem Stolz.
Ach – Annedore sollte nicht lange wie ein Prinzeßchen aussehen!
Am Langenmarkt fuhr ein großer, roter Sprengwagen, der die staubigen Dämme der Stadt mit seinem Wasserstrahl abbrauste. Barfüßige kleine Gassenjungen, jauchzend hinterdrein. Bald hielten sie den Kopf, bald die schmutzigen, nackten Beinchen unter den sprühenden Wasserstrahl.
Hurra – der Sprengwagen! Annedore dachte nicht an ihr schönes Stickereikleid, mit dem sich Minna so gequält, noch an die mattrosa Seidenschärpe, die ihr Tante Gine geschenkt. Nicht einmal an Freundin Lillis Kindergesellschaft, zu der man sie erwartete, dachte das kleine Mädchen. Wie es ging und stand, mit weißen Schuhen und Stickereikleid, mischte es sich unter die wilde Straßenjugend Danzigs.
Schschschsch – ging der Wasserstrahl über das »Prinzeßchenkleid« und über all die Herrlichkeit. Annedore kreischte und jauchzte lauter und ausgelassener als sämtliche Schlingel. Gegenseitig bespritzten sie sich und stießen sich unter die erfrischende Dusche. Das war nicht mehr die Annedore, die bei den alten Leutchen doch schon einigermaßen ihre Wildheit hatte zügeln lernen müssen, das war wieder ganz der bubenhafte »Peter« aus dem Heimatsdorf. Manch Vorübergehender blieb kopfschüttelnd stehen und sah mißbilligend zu, wie das sorglose kleine Mädel seine schönen Sachen verdarb.
Auch Hektor, die alte Kinderfrau, blaffte warnend. Er war überhaupt nicht für solch nasses Vergnügen. Aber Annedore achtete nicht auf die Mahnung des treuen Tieres.
Durch die belebtesten Straßen der Stadt fuhr der Wagen, die Gören immer hinterdrein. Er ratterte auch an dem Café vorüber, in welchem Herr Professor Kruse alltäglich mit einem Kollegen seine Partie Schach zu spielen pflegte.
»Sehen Sie nur diese Rangen«, sein Partner wies auf die Straße hinaus. »Die brauchen nicht erst nach Zoppot hinauszufahren, die nehmen hier schon ihr Bad.«
Der Professor schaute durch seine blaue Brille auf das Kreischen und Juchzen da draußen. Die eine helle Stimme, die alle andern übertönte, kam ihm doch so merkwürdig bekannt vor. Schärfer blickte er hin – »Himmel, ist es denn die Möglichkeit!«, rief der greise Herr erregt und sprang so ungestüm auf, daß Turm und Läufer ebenfalls vom Schachbrett sprangen.
»Annedore!« rief er durch das offene Fenster, »Annedore!«
Aber die jauchzende Kleine hörte ihn nicht, die belustigte sich gerade damit, auch den wasserscheuen Hektor mit unter das Sturzbad zu ziehen.
Da fühlte sie sich aber plötzlich selbst ans Schlafittchen genommen. Hinter ihr stand mit erzürntem Gesicht Onkel Adalbert.
»Ungezogenes Mädchen, schämst du dich denn gar nicht? Wir denken, du bist bei deiner Freundin, und du treibst dich inzwischen hier auf der Straße herum und verdirbst die teuren Sachen?« So ausgebracht hatte Annedore den Professor noch nicht gesehen.
Mit zerknirschtem Gesicht stand die durchweichte kleine Sünderin da. Jetzt erst kam Annedore ihr unartiges Verhalten zum Bewußtsein. Auch Hektor strich mit gesenktem Schwanz, als Zeichen seines bösen Gewissens, um den Professor herum. Trotzdem er doch eigentlich nach Möglichkeit abgeraten hatte.
»Ach, Onkel Adalbert, das Kleid trocknet ja wieder. Sei nicht böse, es war ja so fein unter der Brause.« Mit sehnsüchtigen Augen blickte die Kleine dem davonfahrenden roten Wagen nach.
Aber der Professor hatte heute kein Verständnis für Annedores Begeisterung, er war ganz strenger Lehrer.
»Und an uns denkst du nicht, daß du dich auf den Tod erkälten kannst, und was du uns dann für Sorgen machst, du böses Kind. Marsch jetzt nach Haus, daß du in trockene Sachen kommst.«
»Aber ich muß doch zur Kindergesellschaft, Onkel Adalbert. Lilli wird schon auf mich warten. Und bis ich da bin, ist das Kleid und die Schuhe wieder trocken. Weißt du was, ich gehe immer in der Sonne, dann dauert's nicht so lange.«
»Zur Kindergesellschaft, wo du so ungezogen gewesen bist? Nein, das schlage dir nur aus dem Sinn, mein Kind. Die Erlaubnis hast du heute verwirkt. Ich bringe dich selbst heim, damit ich wenigstens sicher bin. daß du dich sofort umkleidest.« Und der alte Herr ließ seine Schachpartie im Stich, was noch nie im Leben bei ihm vorgekommen war.
Tante Ginchen flatterte von ihrem Beischlag den beiden die Frauengasse Heraufkommenden in begreiflicher Aufregung entgegen.
»Um Himmels willen – hat's ein Unglück gegeben? Ist unser Annedorchen in die Radaune gefallen? Gott sei Dank, daß wir sie nur lebend wieder haben!« Ein Tränenstrom löste die Erregung der alten Tante.
Strafend blickte der Professor auf seine Pflegetochter.
»Rege dich nicht auf, Ginchen, du kriegst sonst wieder deine Migräne. Das unartige Mädchen verdient es gar nicht, daß du seinetwegen Tränen vergießt. Hinter einem Sprengwagen ist es mit Straßenkindern hergezogen und hat sich durchweichen lassen. Sorg' nur dafür, daß es schnell in trockene Kleider kommt. Sonst gibt es zum mindesten eine Erkältung.«
In Tante Georgine, die über solche Ungezogenheit geradezu erstarrt war und keine Worte dafür fand, kam jetzt wieder Leben. Ihre Ängstlichkeit trug den Sieg davon.
»Schnell, schnell, du böses Kind, daß du nicht etwa Fieber bekommst.« Sie zog das nasse Dingelchen in den Alkoven neben ihrem Schlafzimmer, wo Annedore ihr Reich hatte.
Dort bettelte und schmeichelte Annedore, wie nur sie es verstand, während die Tante über das verdorbene Kleid und vor allem über die fleckige rosa Seidenschärpe jammerte.
»Tante Ginchen, liebstes, trautestes, allerbestes Tantchen, sei mir doch wieder gut. Ich will es ja auch ganz gewiß nie wieder tun. Und nicht wahr, ich darf mit meinem roten Musselinkleid zu Lillis Geburtstag gehen? Sie weiß ja sonst gar nicht, weshalb ich nicht komme.«
Tante Gine schwankte. Sie brachte es nicht über ihr gutes Herz, dem Kinde die Freude zu nehmen, trotzdem es dieselbe ganz und gar nicht verdient hatte. Der Professor aber rief zur offenen Tür herein: »Nein, Annedore bleibt zu Hause. Ungezogene Kinder müssen bestraft werden. Minna wird für sie absagen gehen.«
Das kam davon.