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Der Winter hatte das Gut Tiemendorf warm in seine weißen Schneebetten gehüllt. Und immer noch war der kleine Hans, den Frau von Breskow eigentlich keinen Tag länger im Hause behalten wollte, bei ihnen.
Zunächst hatte die Mutter mit dem Vater, der erst am nächsten Sonntag wieder auf Urlaub herüberkam, Rücksprache nehmen müssen, wie man den Kleinen am besten an die Flüchtlingsstelle zurückbeförderte. In den paar Tagen bis zum Sonntag aber hatte sie das sanfte, freundliche Kind so in ihr Herz geschlossen, daß es ihr schwer wurde, es wieder in die fremde kalte Welt hinauszuweisen. Ein paar Wochen konnten sie es ja noch mit ansehen. Auch Edmund hatte für den fremden Jungen ein gutes Wort eingelegt, denn die tiefen Blauaugen des kleinen Hans, in denen es so warm aufleuchten konnte, hatten es dem Tertianer von Anfang an angetan.
Fritz zeigte sich nach einer väterlichen Standpauke etwas verträglicher. Abendliche Keilereien wurden dadurch umgangen, daß Hanni ins Kinderzimmer zum kleinen Jörg wanderte, und Fritz und Werner zusammen schliefen. Bald dachte Frau von Breskow gar nicht mehr daran, daß sie den »sechsten Jungen« ja durchaus nicht im Hause behalten wollte. So zärtlich und lieb war er, und so zuvorkommend und gefällig, daß er ihr bald wie ein Töchterchen ans Herz gewachsen war. Um so mehr empfand sie sein schmiegsames Wesen, als ihr Mann ins Feld hinauskam, die beiden Großen wieder wegen des Gymnasiums in ihre Stadtpension übersiedelten, und Fritz die beiden jüngeren Brüder ebenso wild machte, wie er selbst es war.
Aber auch bei den drei Jungen machte sich das gute Beispiel des kleinen Hans geltend. Seine bescheidene, verträgliche Art entwaffnete selbst Fritzens Rauflust. Auch der Hauslehrer, Herr Lenz, der nach den Ferien wieder auf das Gut zurückkehrte und die Knaben unterrichtete, stellte seinen neuen Schüler den beiden größeren stets als Muster von Pflichterfüllung und gutem Betragen hin. Hanni gab sich grenzenlose Mühe, den Herrn Lehrer wie die »Tante« zufriedenzustellen. Er war ein leicht zu leitendes, dankbares Kind, das auch bei der Dienerschaft bald beliebt war. Ja, selbst die Vierfüßler des großen Gutshofes hatten den Kleinen gern. Denn Fritz jagte und ärgerte die Tiere, während Hanni für alles Zwei- wie Vierbeinige ein warmes Herz hatte. Besonders mit Greif, dem Wolfshund, war er innig befreundet. Gerade so, wie einst mit seinem alten Hektor.
Auch die Armen und Kranken des zum Gut gehörenden Dorfes kannten den rotbäckigen Flachskopf, der die Gutsherrin gern auf ihren Gängen begleitete, und ihr das Körbchen mit allerlei guten Gaben trug. Da flehte manche alte Frau, mancher Kranke Gottes Segen auf das heimatlose Kind herab.
Wie kam es denn nur, daß der kleine Hanni trotzdem in dem neuen Kreise nicht ganz glücklich und froh war? Daß er manchmal abends beim Einschlafen erst noch leise in seine Kissen hineinweinte?
Es war doch hier alles viel feiner und schöner, als er es daheim gehabt hatte. Die Tante und alle anderen waren lieb zu ihm. Was hatte der kleine Junge bloß für einen Grund, zu weinen?
Hanni sehnte sich nach dem Gutenachtkuß seines Muttchens. Und auch nach Peter bangte er sich. Sie hatte ihm ein paarmal schon geschrieben. Lustige Karten waren es, gerade so übermütig wie sein Schwesterchen es selbst war. Hanni mußte sehr darüber lachen und mit einemmal weinen. Er wußte selbst nicht, warum. Der kleine Kerl ahnte nicht, daß nur die Sehnsucht nach seinem Peterchen der Grund dafür war. Am meisten Spaß machte es ihm, daß Peter jetzt Annedore hieß. Er konnte sie sich eigentlich gar nicht so vorstellen. Trotzdem er sich selbst doch auch inzwischen an seinen neuen Namen »Hans« gewöhnt hatte.
Und dann war noch etwas in Tiemendorf, was den Hanni manchmal bedrückte. Das war, daß die anderen Knaben ihn für feige hielten. Besonders der wilde Fritz. Wenn er brav war und von ungezogenen Streichen abredete, dann hieß es gleich: »Natürlich, der Hans ist wieder mal feige!« Auch Werner und Jörg, obgleich sie mit Hans sehr befreundet waren, hielten ihn für einen Feigling. Denn Fritz mit seiner ungezügelten Wildheit, die vor nichts zurückschreckte, wurde von den kleinen Brüdern sehr bewundert. Wollte Hanni nicht den Berg herunterkegeln, damit der saubere Anzug nicht beschmutzt wurde, so legten ihm die Kinder das sicherlich als Feigheit aus. Oder Fritz höhnte sogar: »Er will sich lieb Kind bei der Mutter machen.« Mochte er nicht über den Zaun klettern, um die Hosen nicht zu zerreißen, gleich klang es dreistimmig: »Weil du zu feige bist – bloß weil du zu feige bist!« Und mahnte er gehorsam, der Mutter Wort zu befolgen und auf dem Teich nicht zu schliddern, da das Eis bereits dünne Stellen hatte, dann schrien die drei Jungen: »Haach – ist der Hans feige – ist der aber feige!«
»Wenn ich den Jungen doch bloß mal beweisen könnte, daß ich nicht feige bin«, dachte der Kleine öfters. »Wenn doch irgend etwas geschähe, daß ich ihnen zu zeigen vermag, daß ich auch Mut habe.« Und er träumte davon, daß die Russen eines Tages in Tiemendorf einfallen könnten, und die Breskowschen Jungen angstvoll vor ihnen Reißaus nehmen würden, während er die Tante und das Gut mutig beschützte.
Aber den Russen fiel es gar nicht ein, nach Tiemendorf zu kommen, denn ein anderer als der kleine Hanni schützte das Gut zugleich mit der ganzen Ostmark. Das war Hindenburg.
So mußte Hanni es sich gefallen lassen, auch fernerhin als Feigling zu gelten.
Der Schnee schmolz, Krokos und Veilchen blühten allenthalben in den Gartenwinkeln. Und als die Frühlingssonne nach langem Aprilregen wieder auf das Gut herablugte, da war sie sehr verwundert, wie tüchtig der kleine Hanni während des langen Winters in die Höhe geschossen war. Er war ja inzwischen auch schon acht Jahre alt geworden.
Eines Sonntags herrschte große Aufregung unter den Kindern. Selbst die beiden Großen, die den schulfreien Tag stets daheim zubrachten, waren davon ergriffen. Mit der nächsten Woche wurden russische Gefangene auf Tiemendorf erwartet. Da die eigenen Tagelöhner allenthalben zu den Waffen geeilt waren, wurden die Gefangenen zur Landarbeit herangezogen und auf die verschiedenen Güter unter militärischer Bewachung verteilt.
Die Jungen sprachen von nichts anderem mehr. Wie die Russen wohl aussehen mochten, ob sie auch nicht etwa heimlich auf sie schießen oder gar das Gut abbrennen würden.
Die Mutter liebte diese Gespräche nicht. Es war ihr sowieso etwas unbehaglich, die feindlichen Gefangenen auf ihrem Gut zu beschäftigen, wo ihr Mann nicht daheim war. Freilich waren sie ja unter militärischer Aufsicht, und der Schuppen, den man ihnen zur Wohnung anwies, lag außerhalb des Gutshofes. Auch mußte man noch zufrieden sein, überhaupt nur genügend Hände zur Frühjahrssaat zu bekommen.
»Am Ende tun sie uns Gift in unser Essen« – »oder legen Bomben in die Keller«, einer der Jungen hatte immer eine lebhaftere Phantasie als der andere.
»Kinder, redet nicht solchen Unsinn. Ich verbiete euch jetzt derartige Gespräche«, mischte sich die Mutter energisch hinein.
Für den Augenblick nützte das ja. Aber als sie später im Garten zusammen Krokett spielten, da hatten die sechs bedeutend mehr Interesse für die erwarteten Gefangenen, als für ihre Kugeln. Selbst Fritz dachte heute nicht daran, die Kugeln von Hans in die äußersten Ecken des Gartens zu schleudern und sich daran zu weiden, wenn der Kleine dann mit den Tränen kämpfte. Fritz hatte wieder mal den größten Mund von allen.
»Wenn die Russen feindliche Absichten gegen uns haben, schlage ich sie mit meinem Kroketthammer auf ihre hohen Pelzmützen«, prahlte er. Denn daß die russischen Gefangenen Pelzmützen trugen, darin waren sich alle Knaben einig.
»Glaubt ihr, daß sie böse Absichten haben werden?« Hanni fragte es herzklopfend.
»Haach – der Hans ist schon wieder mal feige! Au, der Feigling fürchtet sich sogar vor Gefangenen!« so zogen ihn die Knaben, Fritz an der Spitze, auf.
Nur Edmund nahm sich, wie meistens, seiner an. »Laßt den Hans in Frieden, Jungens. Freilich, wenn es bloß nach dem großen Munde ginge, dann wäre Fritz der größte Held. Aber Leute, die bescheiden sind, haben manchmal mehr Mut als die Herren Großmaul.«
»Du brauchst wirklich keine Angst zu haben«, sprach auch Lothar dem Kleinen zu. »Es ist ja Militär dabei. Und nächsten Sonntag sind wir Großen auch wieder da und sehen nach dem Rechten.« Seitdem der Vater eingezogen war, kam sich Lothar, sein Ältester, schon als junger Herr auf dem Gutshof vor.
Schweren Herzens zogen die beiden, Lothar und Edmund, am Abend wieder in ihre Pension zurück. Zu gern wären sie diesmal daheim geblieben, um dem Einzug der Gefangenen mit beizuwohnen. Auch die drei Kleinen konnten die Zeit nicht erwarten. Nur Hanni dachte mit herzbeklemmendem Gefühl an die feindlichen Arbeiter. »Ich glaube, die Jungen haben recht, ich bin wirklich ein Feigling«, so schalt er sich selbst.
Und dann waren die russischen Gefangenen eines Tages da, und es war gar nichts Aufregendes dabei. Sie trugen keine Pelzmützen, sondern ganz gewöhnliche graue und sahen wie alle anderen Tagelöhner aus. Nur die militärische Bewachung, die mit geladenen Flinten ihnen zur Seite schritt, zeigte, daß es sich um Gefangene handelte. Auch ihre fremde Sprache erweckte die Neugier der Kinder. Sie mochten es dem Hans nicht glauben, der behauptete, einen großen Teil ihrer Worte zu verstehen. Der wollte sich gewiß nur wichtig machen.
Dies war aber nicht der Fall. Hanni, der so dicht an der russischen Grenze daheim war, hatte früher oft Gelegenheit gehabt, russisch sprechen zu hören, besonders wenn der Vater die Kinder am Markttag mit nach Soldau genommen hatte. Fast alle Dorfbewohner konnten etwas Russisch. Da hatten es natürlich auch die Kinder gehört und gelernt.
Das Interesse der Jungen für die »Feinde«, so nannte Fritz die Arbeiter, legte sich allmählich. Die Leute taten ruhig ihre Pflicht und gaben keinen Grund zur Klage. Sie wohnten in ihrem Schuppen und wurden aus der Leuteküche verpflegt.
Frau von Breskows Unbehagen in Hinsicht auf die Gefangenen hatte sich gelegt. Sie freute sich, tüchtige Arbeitskräfte gewonnen zu haben.
Die Frühjahrsbestellung schritt flott voran. Auch die Knaben wurden in ihrer freien Zeit zum Felddienst herangezogen. Jeder deutsche Junge mußte seine Kräfte dem Vaterland und dem Heimatboden widmen.
Hanni machte es Spaß, in der Nähe der russischen Arbeiter beschäftigt zu werden und ihre Unterhaltung mitanzuhören. Seine Angst vor ihnen war längst geschwunden. Die Leute hatten den hübschen, freundlichen Jungen gern.
Es war ein recht heißer Junitag. Alles war auf den Wiesen zur ersten Heumahd. Auch die Kinder halfen. Man hatte sie, damit sie nicht Dummheiten miteinander trieben, vor allem Fritz, an verschiedenen Stellen verteilt.
Hanni harkte mit einem Rechen, der größer war als er selbst, das gemähte Gras auf einer Wiese, die sich längs des Bahngleises hinzog, zusammen. Er arbeitete hier besonders gern. Oft kamen Militärzüge mit singenden Truppen vorüber, die den »Hurra« schreienden Knaben freundlich zuwinkten.
So heiß wie heute war es noch nie gewesen. Die Sonne stach grell vom fahlen Mittagshimmel. Dem kleinen, das gemähte Gras zusammenharkenden Bürschchen tropfte der Schweiß von der Stirn. Aber er tat unermüdlich weiter seine Pflicht. Herr Lenz, der Lehrer, hatte gesagt, daß er seinem Vaterlande dadurch ebenso nütze, wie die Soldaten draußen an der Front.
Aber als das Dorfkirchlein Mittag läutete, war Hanni doch froh, daß es jetzt heim ins Gutshaus, in den kühlen Speisesaal ging. Auch gab es heute sein Leibgericht, Schokoladenspeise mit Vanillensoße. Ach, wie würde die ihn nach der Hitze erquicken!
Die russischen Arbeiter hielten im Schatten von niedrigem Kiefergestrüpp ihre Mittagsrast. Sie steckten die Köpfe zusammen und sprachen erregt miteinander. Ganz laut, denn sie nahmen nicht an, daß jemand ihre Sprache verstand.
Hanni achtete nicht weiter auf die Gefangenen. Es trieb ihn heim. Plötzlich aber hemmte er den raschen Schritt.
Hatte er soeben recht gehört?
»Heute muß es geschehen, heute kommt wieder ein Militärzug hier vorbei, der Truppen an die Front befördert. Den bringen wir zum Entgleisen. Ich habe bereits heimlich die Schienen aufgerissen und wieder hingelegt, daß kein Mensch es merkt. Hahaha – den deutschen Feinden, die uns hier gefangen halten, den wollen wir mal eins auswischen«, einer der Leute rief es so drohend laut, daß jedes Wort Hannis Ohr erreichte.
Der Herzschlag des Kleinen setzte vor Schreck aus. In seinen Schläfen hämmerte es. Was wollten die bösen Leute tun? Einen Militärzug mit braven Feldgrauen zum Entgleisen bringen? Wenn Hanni auch nicht alles verstanden hatte, es genügte, um ihm den schändlichen Plan der Russen zu verraten.
Nein, lieber Gott, nein – das durfte nicht geschehen! Er mußte es verhindern, aber wie, wie sollte er es nur anfangen? Was konnte ein kleines, achtjähriges Jungchen gegen soviele starke Männer ausrichten! Ob er einfach zu ihnen gehen sollte und sie bitten, von ihrem bösen Vorhaben abzustehen? So klein Hanni war, fühlte er, daß dies keinen Zweck haben würde. Zu drohend hatte die Rede der Leute geklungen. Die Gefangenenaufseher, die sich während der ganzen Zeit von der Harmlosigkeit der Russen überzeugt hatten, waren bereits zu Tisch gegangen. Herr Lenz, sein Lehrer, arbeitete mit Werner und Jörg auf der entgegengesetzten Seite. Bis er zum Gutshaus lief und die Tante benachrichtigte, konnte das Unglück schon geschehen sein. Denn die Züge kamen nicht mehr fahrplanmäßig. Besonders die Militärzüge, die an die Front gingen, wurden oft eingelegt. So jagten die Gedanken sich hinter der Stirn des Flachskopfes – er wußte nicht ein, nicht aus.
Wenn doch Peterchen, sein Schwesterchen, da wäre! Die hätte sicher Rat gewußt! Oder wenigstens der Fritz! Der war ein forscher Junge, der würde schon einen Ausweg gefunden haben. Aber er selbst war ein Feigling, die Jungen hatten ganz recht. Nein, nein, er wollte aber nicht feige sein! Er hatte sein Vaterland genau so lieb wie Fritz. Die tapferen Feldgrauen durften nicht dem gräßlichen Plan zum Opfer fallen, wenn er es verhindern konnte.
Es gab nur eins – er mußte dem Zug entgegenlaufen und den Lokomotivführer warnen. Vielleicht kam er bis zur nächsten Station, ehe der Zug ausfuhr. Nur schnell – schnell – jede Minute konnte Verderben bringen.
Behutsam, ohne daß die Gefangenen ihn bemerkten, schlich sich der Kleine davon. Hanni dachte nicht mehr an die glühende Mittagshitze und an den kühlen Speisesaal im Gutshaus. Nicht mal an die erquickende Schokoladenspeise – nur an die armen Soldaten, die dem sicheren Untergange entgegenfuhren.
Er raste den Bahndamm entlang, ob auch die Sonne noch so brannte. Die flachsblonden Haare klebten an seiner Stirn – was kümmerte das Hanni. Die Soldaten draußen im Felde hatten noch ganz andere Mühsal zu bestehen. Der lange Rechen drückte dem kleinen Jungen die Schulter wund. Schon wollte er ihn fortwerfen. Da fiel ihm ein, ob er ihm am Ende nicht noch gute Dienste leisten könnte. Wenn der Zug die letzte Bahnstation schon verlassen, und er ihn auf offener Strecke traf, konnte er dem Zugführer am Ende damit ein Zeichen geben, anzuhalten.
So schleppte er die Last weiter. Trotz starken Herzklopfens, trotz der Stiche in der Seite, hielt er in dem rasenden Lauf nicht inne.
»Nur nicht zu spät kommen – lieber Gott, laß mich nur nicht zu spät kommen!« keinen andern Gedanken vermochte der Kleine zu fassen.
Er wußte nicht, wie lange er schon durch die siedende Mittagshitze jagte. Sicher wohl über eine Stunde, und bis zur nächsten Station waren es zwei! Die Kräfte drohten den erschöpften Knaben zu verlassen, aber er durfte nicht – er durfte ja nicht müde werden.
Da – ein Rollen in der Ferne – war das ein nahendes Gewitter? Hanni schaute zum Himmel empor. Der war tiefblau, wolkenlos.
Barmherziger – das mußte der Zug sein!
Was nun?
Wenn der Lokomotivführer ihn nicht beachtete und weiterfuhr – – »lieber Gott, steh' mir bei, hilf mir die vielen tapferen Soldaten erretten!« so betete der kleine Junge inbrünstig.
Da kam ihm ein Gedanke. Wenn er sein weißes Sporthemd auszog und als Fahne an dem Rechen befestigte? Darauf würde der Zugführer wohl eher aufmerksam werden. Das beste war überhaupt, er blieb nicht seitlich auf dem Bahndamm, sondern stellte sich zwischen die Schienen gerade vor den Zug – da mußte der Führer ihn doch bemerken und anhalten. Und tat er's nicht, wurde er überfahren – nun, was galt sein kleines Leben, wenn soviele tapfere Feldgraue dem Untergange geweiht waren! So dachte Hanni, den die andern Jungen einen Feigling nannten.
Mit bebenden Fingern befestigte er das weiße Hemd an dem Rechen. Dann sprang er, ohne noch weiter zu überlegen, von der seitlichen Bahnböschung hinunter, geradeswegs zwischen die Schienen.
Näher und näher kam das Donnern – Hannis Herz pochte zum Zerspringen. Jetzt war der Zug schon ganz nahe. Als ein gewaltiges mitleidsloses Ungetüm fauchte er auf den kleinen Jungen los, der mit seinen letzten Kräften den Rechen wie eine weiße Fahne schwenkte und dazu »halt! – halt!« brüllte.
Ach – das laute Brausen der eisernen Schlange übertönte die dünne Kinderstimme. Noch wenige Sekunden, dann mußte das schwarze Ungetüm den kleinen Knaben unter seinen Rädern zermalmen, da – hielt es plötzlich.
Der Zugführer hatte im letzten Augenblick die wehende Fahne bemerkt.
Er stieg von der Lokomotive. Schaffner eilten herbei. Feldgraue Soldaten schauten neugierig aus allen Fenstern, was es denn gäbe.
Offiziere stiegen aus und begaben sich zum Zugführer, den Grund des unvorhergesehenen Aufenthalts zu erforschen.
Hanni konnte vor Erregung und Erschöpfung kaum sprechen. »Russische Gefangene – haben – haben – die Bahnschienen ausgerissen, um den Militärzug zum Entgleisen zu bringen«, stieß er endlich schweratmend heraus.
»Und deshalb bist du dem Zuge entgegengelaufen – braver Kleiner!« belobte ihn ein junger Offizier.
»Der mutige Junge hatte sich direkt vor die Lokomotive zwischen die Schienen gestellt, Königliche Hoheit, um bemerkt zu werden«, meldete der Zugführer.
»Potztausend – ein kleiner Held! Das wird dir sobald kein anderer Knabe nachmachen. Nun, nenne mir deinen Namen, mein Sohn, und erzähle mir, wer deine Eltern sind«, wandte sich der junge Offizier, der mit »Königliche Hoheit« angeredet wurde, an den Kleinen. Es war einer der preußischen Prinzen, ein Sohn des deutschen Kaisers.
Hanni gab bescheiden Auskunft. Er erzählte, daß er ein Flüchtlingskind sei, das nichts von dem Verbleibe seiner Eltern wisse, und daß er auf dem Gut Tiemendorf eine Heimat gefunden habe.
»Tapferer, kleiner Kerl«, der Prinz, dem das Schicksal des Kindes zu Herzen ging, streichelte seine erhitzte Wange. »Ich will später für dich sorgen, das Heldenstück soll dir nicht vergessen werden. Und nun wollen wir uns mal die Herren Russen langen und ihnen derartige Absichten ein für allemal vertreiben.« Er winkte einigen seiner Offiziere, die mit einem Trupp Soldaten den von Hanni angegebenen Arbeitsplatz der Gefangenen aufsuchten. Einige Pioniere wurden mit dem Wiederinstandsetzen der aufgerissenen Schienen betraut und die Bahnstation von dem Anschlag in Kenntnis gesetzt.
Der Prinz selbst aber und sein Adjutant bestiegen mit Hanni einen vom nächsten Dorf herbeigeholten Wagen. Seine Königliche Hoheit wollte den unfreiwilligen Aufenthalt dazu benutzen, um den mutigen kleinen Jungen, der ihnen allen das Leben gerettet hatte, persönlich heimzubringen.
Auf dem Gute war man bereits in großer Sorge über das Ausbleiben Hannis. Frau von Breskow vermochte keinen Bissen hinabzubringen, sie fühlte jetzt erst, wie lieb sie den kleinen Hans gewonnen hatte.
»Au, der kriegt mächtige Senge, der kann sich freuen, wenn er nach Hause kommt«, meinte Fritz zu Werner frohlockend, daß er diesmal nicht der Schuldige war.
Wie erstaunten sie aber alle, als der Vermißte in einem Wagen mit zwei Offizieren zurückkehrte. Und als sie gar noch erfuhren, daß es ein Prinz sei, der Hanni heimbrachte, und daß der Kleine durch seinen Mut den Prinzen und all die Soldaten vor dem sicheren Untergang bewahrt hatte, da blickten sie voller Begeisterung auf den Jungen, den sie stets als feige verlacht hatten. Wenn Königliche Hoheit ihn einen »kleinen Helden« nannte, dann mußte er es wohl sein. Ordentlich stolz waren sie alle auf ihren Hans.
Die Bahngleise waren wieder ausgebessert, die russischen Gefangenen zur nächsten Stadt in festes Gewahrsam abgeführt. Der Prinz hatte nach freundlichem Abschied das Gut verlassen. Hannis Heldentat aber verbreitete sich in ganz Deutschland. Alle Zeitungen brachten eine Notiz über den mutigen kleinen Hans Kaschuba, der, ohne an sich selbst zu denken, einem der Hohenzollernprinzen und so vielen tapferen Soldaten das Leben gerettet hatte.
Und der alte Herr Professor Kruse in Danzig las seinem Pflegetöchterchen Annedore aus der Zeitung die Heldentat ihres kleinen Bruders vor.