Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die feine Villa

Tag für Tag wartete Ilse, daß Lilli sie besuchen würde, aber keine Lilli kam. Die saß daheim und wartete ebenfalls – auf eine Aufforderung der Miß. Denn Mutter blieb fest bei dem, was sie einmal gesagt hatte.

»Ob sie nicht zu mir kommen mag? Dann will ich sie nicht durch meine Frage in Verlegenheit sehen,« dachte Ilse und schwieg.

»Ob sie mich nicht auffordern darf?« überlegte Lilli, sooft sie beieinander waren, und schwieg ebenfalls.

Es war das erste Mal, daß die beiden Freundinnen das, was sie auf dem Herzen trugen, nicht gegeneinander aussprachen. Beide brachten sich dadurch um schöne gemeinsame Stunden.

»Heute hat Miß White mich bestimmt aufgefordert,« meldete Lilli jubelnd eines Tages, als sie heimkehrte.

»Was hat sie denn zu dir gesagt?« fragte die Mutter.

»Das habe ich natürlich nicht verstanden; wer kann denn solch Gegurgel und Gequetsche übersetzen! Aber sie hat mich sehr freundlich irgendwas gefragt, und Ilse hat hinzugefügt: ›Ja, willst du?‹«

»Du wirst ihr irgend ein Buch borgen sollen,« warf Ludwig nicht sehr hoffnungerweckend ein.

»Bewahre,« ereiferte sich die Schwester, »es hat ganz wie eine Einladung geklungen.«

Weiter konnte sie als wahrheitsliebendes Mädchen nicht gehen, denn verstanden hatte sie doch eigentlich kein Sterbenswörtlein.

»Du mußt Ilse einfach fragen,« riet der Bruder, »sonst weißt du ja gar nicht, an welchem Tage du kommen sollst.«

Das leuchtete ein, aber die Sache war doch heikel, denn »anmeiern« wollte sich Lilli in keinem Fall. Das verbot ihr Stolz.

»Du, Ilse,« fragte sie zögernd, als man sich am nächsten Morgen traf, »was hat deine Miß denn eigentlich gestern zu mir gesagt?«

Ilse zuckte die Achsel; sie ahnte nicht, wie wichtig diese Frage der Freundin war.

»Als du noch hinzusetztest: ›Ja, willst du?‹ Weißt du denn nicht mehr, Ilse?« drängte Lilli.

»Ach so« – Ilse besann sich – »sie hat dich aufgefordert« – in Lillis braunen Augen leuchtete es bei diesem Worte heller – »dich an einer Weihnachtsbescherung für Arme zu beteiligen.«

Der Freudenstrahl in Lillis Augen erlosch so plötzlich, wie er gekommen war. Ludwig aber, der mit den Freundinnen fuhr, und dem seine Lilli leid tat, steuerte nun in echter Jungenart gerade auf das Ziel los, um das die beiden Mädel schon tagelang herumgingen.

»Lilli hat gedacht, es sei eine Aufforderung, dich zu besuchen.«

Die Schwester plinkte ihm in großer Verlegenheit zu, den Mund zu halten; aber Ilse fragte atemlos: »Hast du darauf gewartet, Lilli Ich glaubte, du wolltest nicht zu mir kommen.«

Nun lachten sie alle beide über ihre Dämlichkeit. Aber das Gute war doch dabei, daß die beiden Mädel gleich zu Anfang ihrer Freundschaft sahen, wie wichtig es für diese war, stets Vertrauen zueinander zu haben.

»Ich werde Miß White bitten, an deine Mutter zu schreiben, daß sie dich recht bald zu uns schickt.«

Am nächsten Tag traf der angemeldete Brief an Frau Doktor Steffen ein, in einer Handschrift, als habe sich die Miß eines Besenstiels statt eines Federhalters bedient.

»Also nun liegt deinem Besuch bei Ilse nichts mehr im Wege,« verkündete Mutter ihrer strahlenden Ältesten.

»Gleich heute?« Lilli wäre am liebsten sofort losgegangen.

»Nein, Kind! Vater und ich gehen heute fort, und du mußt deinen Aufsatz über Maria Stuart schreiben; vorher darfst du dich nicht zersplittern.«

Lilli ging an ihr Pult und senkte den Blondkopf über das Heft.

Der erste Aufsatz bei Doktor Petersen! Wenn der Klassenlehrer auch inzwischen erkannt hatte, daß »der abgebrochene Riese« in den Unterrichtsfächern durchaus seinen Mann stand: mit diesem Aufsatz wollte Lilli ihm ihre geistige Größe offenbaren. Ihre Feder flog über das Papier. Mit heißen Wangen schrieb sie; ihr ganzes warmes Herz legte sie in die Leidensgeschichte der schottischen Königin.

»Lillichen, Sie möchten herunterkommen; ein Onkel ist da,« rief Anna, mit der Lilli inzwischen wirklich gut Freund geworden war, nach oben.

Tief aufatmend legte die eifrige Schreiberin die Feder aus der Hand. Wundervoll war der Aufsatz geworden; sie war zufrieden mit sich. Nur der Schluß fehlte noch.

Unten im Wohnzimmer saß Onkel Martin und spielte mit Margot Zoologischer Garten. Er saß als Löwe hinter dem Gitter seiner aneinandergelegten Finger und schnappte nach ihrem sich ängstlich dem Löwenkäfig nähernden Fingerchen. Dazu brüllte er wie sechs Löwen, so daß die Kleine sich erleichtert hinter die eintretende Schwester verkroch.

»Na, Schmaltierchen, hast du dich mit Ludwig gebalgt, daß du so heiße Backen hast?« empfing sie der Löwe mit ganz menschlichem Lachen.

Gottlob, Onkel Martin sagte wieder »du« zu ihr! Auf Annas Anrede schien er zum Glück nicht geachtet zu haben, sonst hätte er sicher seine Glossen darüber gemacht.

»Ich habe eine Abhandlung über Maria Stuart geschrieben« – ein »Aufsatz« schien Lilli nicht erwachsen genug – »dabei ist mir warm geworden.«

Das klang so hoheitsvoll, als sei die kleine Lilli selbst die Königin von Schottland.

»Weißt du denn überhaupt, wer Maria Stuart war?« neckte der Onkel weiter.

»Oh, bitte sehr,« erhitzte sich Lilli, »wir lesen das Drama jetzt in der zweiten Klasse in der Literaturstunde!«

So, nun wußte Onkel Martin wenigstens gleich, daß man in der zweiten Klasse nicht mehr Deutsch, sondern Literatur hatte.

»Alle Wetter – Literatur« – das Wort schien ungeheuren Eindruck auf Onkel Martin zu machen – »verstehst du denn aber das Drama auch, Schmaltierchen?«

Lilli gab auf eine so entwürdigende Frage überhaupt keine Antwort.

»Sind denn welche in der neuen Klasse noch größer als du?« erkundigte sich der Onkel mit scheinheiligem Ernst weiter.

»Nur neunundvierzig, sonst wäre ich die Größte,« ging Lilli jetzt lachend auf den Scherz ein.

»Bravo, Schmaltierchen, und damit du die anderen neunundvierzig auch noch überflügelst, habe ich dir etwas mitgebracht.«

Er zog ein kleines Paket aus der Rocktasche. Lilli löste mit flinken Fingern in begreiflicher Neugier den Bindfaden.

»Ach pfui, Onkel Martin!«

Voll Enttäuschung schaute die Nichte auf das gelbe spiralförmige Ding in ihrer Hand. Es war ein Wachsstock.

»Na, erlaube mal, Schmaltierchen, solch ein Wachsstock soll dem Wachstum sehr förderlich sein, habe ich neulich in einer Zeitschrift gelesen. Beiß nur jeden Abend ein Stückchen davon ab und paß auf: in einem Jahr bist du ein wahrer Goliath.«

War das nun Ernst oder Scherz? Die Sache klang vollkommen unglaubwürdig, aber Lillis phantastischer Kopf, der in dem gewöhnlichsten Ding ein Märchen sah, schien nichts unmöglich. Onkel hatte auch eine so treuherzige Miene dabei, daß Lilli zweifelhaft wurde. Immerhin, versuchen konnte sie es ja.

Nachdem Onkel Martin sich noch zu Margots Vergnügen in einen Bären, Wolf und Affen verwandelt hatte, wurde der Zoologische Garten geschlossen. Der Onkel nahm Abschied, und Lilli ging an ihren Aufsatzschluß.

Am Abend vor dem Schlafengehen holte sie Onkel Martins Wachsstock hervor. Sie durfte nichts unversucht lassen, um zu wachsen; auf die merkwürdigsten Dinge war sie dabei schon verfallen. Also – die Augen zugemacht und hineingebissen! Sie würde sich doch nicht vergiften?

Es schmeckte süß, eigentlich wunderschön! Lilli riß die Augen wieder auf.

Himmlisch – der Wachsstock war aus Marzipan!

Drei Faustschläge gegen die Wand – das schwesterliche Zeichen – brachten sofort Bruder Ludwig zur Stelle, und nun schmausten die beiden Zwillinge lustig im Verein von dem Wunderwachsstock. Der wurde kleiner und kleiner, aber Lilli Liliput nicht größer!

Am nächsten Mittag lag auf Lillis Gedeck ein großer grauer Brief, ein gleicher an Ludwigs Platz.

Lilli ließ sich kaum Zeit, den Umschlag zu öffnen. Wer mochte an sie schreiben?

Da fielen zwei grüne Theaterkarten heraus; in dem Briefumschlag aber lag ein Zettel, auf dem stand: »Für Fräulein Schmaltierchen und ihre beste Freundin zwei Karten zu Maria Stuart.«

Wenn die Schrift auch verstellt war, das Schlauköpfchen wußte genau, wo sie den heimlichen Spender zu suchen hatte. Hurra – für eine Theaterkarte ließ sie sich schon ein bißchen foppen, und einen Kuß zum Dank sollte er überdies haben, der gute Onkel Martin!

Ludwigs Brief wies ähnlichen Inhalt auf; nur stand auf dem beigefügten Zettel: »Für den Primus der Obertertia und seinen Freund.«

»Ach, wird sich Ritter freuen! Der arme Junge kommt sicher nicht so leicht zu solchem Vergnügen, da doch seine Mutter sich seit des Vaters Tode so quälen muß,« sagte der gutherzige Ludwig.

Er dachte zuerst an die Freude des anderen und dann erst an seine eigene. Ritter war sein Freund von der untersten Klasse an und der Bruder von Lena.

Lilli aber war durch seine Worte in eine schwierige Lage gekommen. Wem sollte sie die zweite Karte geben, Ilse oder Lena?

Für die beste Freundin hatte Onkel Martin sie bestimmt. Das war seit einigen Wochen unbedingt Ilse Gerhard, aber Lena Ritter war viele Jahre lang ihre Freundin gewesen. In letzter Zeit waren sie beide freilich etwas auseinandergekommen, denn die dreizehnjährige Lena mußte in ihren Freistunden den Haushalt selbständig versehen. Die Mutter hatte nach dem plötzlichen Tode ihres Mannes, um sich und ihre Kinder zu ernähren, ein Blumengeschäft übernommen; Lenas große Schwester aber ging in die Handelschule. Da hatte Lena keine Zeit für Freundinnenbesuche.

Ja, Ludwig hatte recht: die Ritter würden nicht so leicht ins Theater kommen; derlei konnten die sich nicht leisten. Und wie würde Lena das Herz weh tun, wenn der Bruder eine Theaterkarte erhielt, Lilli aber die ihrige einer anderen gab! Für Ilse Gerhard war das Theater kein unerschwingliches Vergnügen. Erst neulich war sie mit ihrem Vater in der Oper zu »Hänsel und Gretel« gewesen. Aber wiederum – würde Ilse es nicht als einen Verrat an ihrer Herzensfreundschaft auffassen, wenn sie Lena ihr vorzog?

Lilli tat in ihrer Unschlüssigkeit das, was das Verständigste ist, wenn ein Mädel selbst keinen Rat weiß. Sie suchte ihn bei ihrer allerbesten Freundin, bei Mutti.

Diese wußte auch Auskunft für ihr von Zweifeln geplagtes Töchterchen.

»Geh zu Ilse Gerhard, Kind, und frage sie! Ilses Wort soll den Ausschlag geben. Ist sie das gutherzige Mädchen, für das ich sie halte, so wird sie dir den richtigen Weg weisen.«

Ja, so war es am besten, und gleichzeitig wurde Lillis sehnlichster Wunsch erfüllt; sie durfte Ilse endlich besuchen.

Das schönste Feenschloß, das ihre Phantasie ihr vorgaukelte, war Lilli kaum herrlich genug für das Bild, das sie sich von Ilses Villa machte. Aber als sie dann herzklopfend die Glocke an dem großen Tor zog, zu dem eine Auffahrt wie in einem Schloß führte, glaubte sie doch, so vornehm habe sie sich das Heim der Freundin nicht vorgestellt. Ecktürmchen hatte die Villa und eine Säulenterrasse nach dem See zu.

Es wurde der sonst so unternehmungslustigen Lilli ordentlich beklommen zumute, als auf ihr Klingeln der Pförtner sein Fenster öffnete und nach ihrem Begehr fragte.

»Ist Ilse zu Hause? Ich möchte Ilse Gerhard sprechen,« antwortete Lilli und ärgerte sich im selben Augenblick, daß sie nicht »Fräulein Ilse« gesagt hatte.

Die Tür sprang wie durch Zauberwort vor ihr auf, und die kleine Lilli stand in der großen Diele. Scheu sah sie sich um. Wirklich – wie ein Märchen war es hier! Weiße Marmorsäulen, weiße Marmortreppen, mit roten Samtteppichen belegt, große Ledersessel mit Tischen davor, auf jedem blühende Blumen; in den Ecken und Nischen aber breiteten große Blattpflanzen geheimnisvoll ihre grünen Blätter.

Weltverloren stand die kleine Lilli in diesem Märchenreich. Kein Mensch ließ sich sehen; sie wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte.

Sekunde auf Sekunde verstrich, Lillis froher Mut sank mehr und mehr.

Da tauchte es plötzlich in dem dämmerigen Grün einer Nische auf – war das Frau Holle?

Eine alte Frau mit großer weißer Haube und einem Schlüsselbund am Gurt kam langsam näher gehumpelt; sie sah den fremden Eindringling ebenso erstaunt an wie umgekehrt.

»Ich möchte gern Ilse – Ilse Gerhard, das Töchterchen des Hauses, sprechen,« unterbrach Lilli endlich, allen Mut zusammenraffend, das unheimliche Schweigen.

»Unser Kind willst du sprechen? Na, da komm nur mit,« antwortete die Alte so freundlich, daß Lilli nicht mehr begriff, wie sie sich auch nur einen Augenblick vor ihr hatte fürchten können.

Gewiß war das Ilses alte Alwine! Nicht einmal das »Du« der Alten vermochte Lilli heute zu empören; sie war glücklich, einen Menschen in dieser bedrückenden Einsamkeit gefunden zu haben.

Ihre Führerin öffnete im oberen Geschoß eine der vielen weißen Türen und ging Lilli voran. Durch ein allerliebstes Mädchenzimmer mit Rosentapeten und weißen Korbmöbeln schritten sie, dann durch ein Spielzimmer, das der unverwöhnten Lilli wie eine Spielzeugausstellung erschien, und nun betraten sie Ilses Schlafzimmer. Das war ganz in Weiß und Hellblau gehalten; auf dem Bett lag eine mattblaue Seidensteppdecke. Die Besitzerin dieses feenhaften Reiches aber stand einsam am Fenster und schaute sehnsüchtig über die entblätterten Bäume. Sie wandte den Kopf nicht.

»Ilse.«

Da fuhr der braunlockige Mädchenkopf herum, und die Augen, an deren Wimpern noch Tropfen hingen, glänzten plötzlich in hellem Jubel.

»Lilli – o Lilli! Ist das eine schöne Überraschung!«

»Also du bist die neue Freundin von unserem Kind« – Alwine lachte über das ganze runzlige Gesicht und reichte Lilli die Hand – »ei, da muß ich doch gleich mal für Schokolade sorgen!« Damit humpelte sie hinaus.

»Hast du's fein hier, Ilse!« Lillis Bewunderung mußte sich erst mit einem tiefen Atemzug Luft machen.

»Ja, Papa ist so gut; er will mir immer noch Neues schenken, um mich zu erfreuen. Aber ich wünschte, ich hätte nur ein ganz einfaches kleines Stübchen, wenn ich nur nicht so allein wäre.« Es zuckte wieder weinerlich in dem jungen Gesicht.

»Hast du deshalb geweint, Ilschen?« Lilli schlang den Arm um die Freundin und preßte ihren Blondkopf voll Zärtlichkeit an den braunen.

Ilse nickte.

»Du mußt möglichst oft zu mir kommen, Ilse, ja? Und wenn ich darf, besuche ich dich auch,« tröstete nun Lilli; ach, sie hatte es ja selbst bei ihrem Eintritt empfunden, daß die feine Villa wie ausgestorben dalag.

»Ist deine Mutter schon lange verreist?« fragte sie nach einem Weilchen ein wenig scheu.

Wieder nickte Ilse.

»Seit dem vorigen Winter ist sie schon fort. Im Sommer waren wir einige Wochen im Bade mit ihr zusammen; jetzt ist sie in Meran, und im Winter fährt sie wieder nach Ägypten. Sie kann das Klima hier nicht vertragen.«

Alwine erschien mit einem umfangreichen Tablett und deckte in Ilses Wohnzimmer den Tisch.

Nun saßen die Freundinnen auf dem kleinen Korbsofa mit den rosa Seidenkissen und ließen sich die Schokolade und den Kuchen dazu munden. Alles aus Silber und doch – war Ilse wirklich beneidenswert?

Aber Schokolade samt Kuchen verfehlen ihre tröstliche Wirkung selbst auf die betrübteste Mädchenseele nicht, und Lillis sonniges Wesen bewies auch hier seine Kraft. Bald erschollen aus Ilses reizendem Zimmer frohes Lachen und übermütige junge Stimmen.

Die Miß, die ihr Nachmittagschläfchen gehalten hatte, erschien auf der Schwelle, ganz erstaunt über soviel Fröhlichkeit in den sonst stillen Räumen. Dann aber begrüßte sie den Besuch mit einem englischen Wortschwall, den Lilli nur mit einem deutschen Knicks beantwortete, denn das war entschieden bequemer als eine englische Erwiderung.

Lilli berichtete jetzt von dem eigentlichen Zweck ihres Besuches, und während sie von Lena erzählte, dachte sie, ob es nicht doch unrecht wäre, daß sie Ilse, die so allein war, die Theaterkarte vorenthielt.

Doch diese versetzte erstaunt: »Ich verstehe gar nicht, Lilli, wie du da nur einen Augenblick zweifeln konntest! Natürlich gibst du Lena die Karte! Aber zeigen kannst du sie mir mal« – sie sah die grünen Karten aufmerksam an – »und dann noch eines, Lillichen, was mir schon immer auf der Seele lag: Ich möchte nicht gern, daß die arme Lena durch mich an die zweite Stelle bei dir gerückt ist. Sag, können wir nicht alle drei beste Freundinnen sein?«

Lilli drückte der selbstlosen Ilse dankbar die Hand.

Es war ihr schon oft schwer aufs Herz gefallen, ob sie nicht gegen Lena schlecht handle.

Dann zog Ilse die Freundin mit hinunter in den Garten. Dort war Ilses liebster Aufenthalt. Eigentlich war es eher ein Park, mit alten Bäumen und kleinen Teichen, über die Brücken aus Birkenstämmen führten; auch einen schönen Tennisplatz gab es.

»Hier müssen wir zusammen spielen; kannst du Tennis?« fragte Ilse eifrig.

Lilli verneinte.

»Schadet nichts! Das lernst du schon, und dein Bruder Ludwig auch. Vielleicht kann Lena auch mitspielen.«

Aber Lilli entgegnete ein wenig kleinlaut: »Du, Ilse, ich glaube, das paßt doch nicht.«

»Was paßt nicht?«

»Lena Ritter und du! Sieh mal, Lena heizt selbst die Öfen – sie hat es mir erzählt – und sie haben nur zwei Zimmer und eine Küche.«

Lilli warf einen vergleichenden Blick über die Villa hin und den Garten, der bis zum Wannsee hinunterführte. Dort lagen die zum Hause gehörenden Ruder- und Segelboote und eine eigene kleine Badeanstalt.

»Du bist ja nicht gescheit« – Ilse lachte jetzt hellauf – »wenn Lena so fleißig und tüchtig ist, müssen wir uns vor ihr schämen und können höchstens von ihr lernen!«

Vorläufig schämte sich nur Lilli, und zwar ihrer Äußerung wegen. War Ilse nicht besser als sie?

»Wollen wir im Garten spielen, oder soll ich dir unser Haus zeigen? Eigentlich mußt du doch erst alles kennen lernen.«

Ilse war glücklich, eine junge frohe Gefährtin bei sich zu haben. Ihre Schulfreundinnen wohnten in Berlin und kamen nur zu den Kindergesellschaften zu ihr hinaus.

Hand in Hand zogen die beiden Mädchen durch die vornehmen Räume. In der Diele brannte jetzt eine rötliche Ampel und machte sie noch märchenhafter. Aber an Ilses Seite fühlte Lilli keine Scheu. Durch das Musikzimmer ging es, in dem der große Flügel stand und ein eingebautes Grammophon. Ilse ließ zu Lillis Begeisterung allerlei spielen.

»Ach, wenn Margot das hören könnte! Die würde wieder denken, es sitzt jemand in dem Schrank drin und singt. In dem Telephon beim Kaufmann sucht sie auch immer, wo das Fräulein eigentlich ist, das verbindet.«

»Bring die süße kleine Margot doch das nächste Mal mit und Ludwig auch, ja?« bat Ilse.

»Bewahre,« wehrte Lilli ab, »wir können doch nicht gleich zu einem Vierteldutzend hier einrücken.«

»Je mehr, desto besser! Ach, Lilli, du weißt ja gar nicht, wie still es hier im Hause immer ist. Manchmal ist es fast zum Davonlaufen. Ich glaube, Papa fürchtet sich auch vor der Stille. Es ist ihm ungemütlich zu Hause; darum bleibt er meistens abends fort.«

»Weißt du, was ich tun würde, Ilschen?« – Lillis Braunaugen lachten schelmisch – »Ich würde es meinem Papa zu Hause so gemütlich machen, daß er gar nicht mehr Lust hätte, wegzugehen. Dann bist auch du nicht mehr so allein.« Lilli schlang den Arm um die Freundin.

»Ja, wenn ich wüßte, wie ich das anfangen soll,« sann Ilse.

»Ach, das ist doch gar nicht schwer! Also, wenn er naß vom Regen nach Hause kommt, mußt du ihm seine Morgenschuhe am Ofen wärmen und ihm das feuchte Zeug abnehmen. Eine brennende Lampe macht das Zimmer gleich gemütlich. Dann deckst du den Tisch recht hübsch mit Blumen, schenkst heißen Tee ein, holst Zigarren, Aschbecher und Zeitung, und dann setzest du dich zu Vater hin und erzählst ihm allerlei. Paß mal auf, Ilse, es wird deinem Papa schon gemütlich zu Hause werden.«

»Ich will's versuchen, Lilli! Aber heute bleibst du doch zum Abendbrot bei uns? Da wollen wir Papa beide heiter stimmen, nicht?«

»Ich kann leider nicht – ich muß um sieben Uhr zurück sein – Himmel, es ist die höchste Zeit!« Sie warf einen erschreckten Blick auf die große Standuhr in dem riesigen eichenen Speisesaal, den sie gerade durchschritten.

»Warum denn bloß? Ich bin doch bei dir auch bis halb neun Uhr geblieben!« Ilse war grenzenlos enttäuscht.

»Wir haben nur ein Mädchen, Ilse, und das hat abends zu tun; da kann es mich nicht abholen,« gestand Lilli ehrlich.

»Dann wird Papa dich gern mit dem Auto nach Hause schicken. Wir wollen telephonieren, ob du bleiben darfst, ja?« Verhaltener Jubel, die Freundin noch länger zu behalten, klang schon wieder aus ihren Worten.

»Nein, es geht wirklich nicht, Ilse,« entgegnete Lilli sehr zögernd, da sie brennend gern noch geblieben und mit dem Auto heimgefahren wäre. »Wir haben kein eigenes Telephon, und die Freundlichkeit des Kaufmanns dürfen wir nur bei sehr wichtigen Gelegenheiten in Anspruch nehmen. Es ist unmöglich.« Das wurde von einem tiefen Seufzer begleitet.

Freundin Ilse fand zwar, eine wichtigere Gelegenheit könne es gar nicht geben, aber Lilli war nicht zu überreden. Sie stülpte die Matrosenmütze auf den Blondkopf und zog den Mantel über.

»Das nächste Mal bleibe ich bestimmt, wenn ich darf!« Damit nahm sie zärtlichen Abschied.

Immer wieder drehte sie den Kopf zu der ihr nachwinkenden Ilse und der herrlichen Villa zurück. Aber als sie nach Hause kam in das gemütliche Wohnzimmer, wo die Lampe so trauliches Licht über den Familientisch goß, wo Mutter bei der Flickarbeit saß und mit der ihr Püppchen im Arm wiegenden Margot und dem an der Schnitzarbeit bastelnden Ludwig frohe Lieder sang, als die Geschwister sie neugierig empfingen: »Na, wie war's bei Ilse?« da antwortete Lilli aus tiefstem Herzen: »Wunderbar war's! So schön, wie ihr es euch gar nicht denken könnt! Aber – zu Hause ist es doch am allerschönsten!«


 << zurück weiter >>