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Der Weihnachtsstern

Das Lichterfest hielt mit hellem Glanz seinen Einzug in die Häuser und in die Herzen der Menschen. In die dunkelste Gasse warfen die Weihnachtskerzen ihren Freudenschein, und in das einsamste Herz zog ein Leuchten von Weihnachtsglück.

Droben am Himmel blitzte ein Stern nach dem anderen auf. Einer aber funkelte heller als alle, und wenn man Märchenaugen hatte wie Lilli Liliput, dann sah man, daß das überhaupt kein Stern war. Nein, ein flammender Weihnachtsbaum war es, mit tausend und aber tausend Kerzen, den der liebe Gott für seine Engelchen da oben angezündet hatte!

Gerade über dem weißen Lehrerhäuschen draußen in Schlachtensee stand der funkelnde Stern. Durch die unverhangenen Fenster lugte er in die Weihnachtsstube. Von dort strahlten die Lichter hinaus in die nächtliche Kirschallee. Nirgends blitzten sie heller als hier, und nirgends jubelten auch Kinderstimmen heller als bei Oberlehrer Steffen.

Es war kein übermäßig reicher Gabentisch, auf den der Stern niederblinzelte. Ein oder zwei Geschenke für jedes: so erhielten die verständigen Eltern ihren Kindern die unbefangene Freude und ließen keine Übersättigung aufkommen. Von Großmama, den Tanten und Onkeln erhielten sie ohnedies noch genug.

Lilli war nicht vom Spiegel fortzubekommen. Selig drehte sie sich nach allen Seiten in der roten, von Mutter eigenhändig gestrickten Sportjacke. Unternehmungslustig drückte sie die rote Mütze ins Blondhaar; dann schnallte sie begeistert auf dem Parkettfußboden die blanken Schlittschuhe an, zur geringeren Begeisterung der Mutter. Ludwig schlug die Kugeln seines neuen Gartenkrockets durch die Zimmer, bis ein Wehgeheul Schnauzels dieser Freude ein Ende machte. Klein-Margot aber schob den Puppenwagen von Stube zu Stube; sie ließ ihn nicht von der Hand, und es kostete der Mutter ganze Überredung, daß sie das Riesending nicht mit ins Bett nahm.

Auf der Mutter Weihnachtstisch lag das erste Exemplar von Doktor Steffens neuem Buche. Frau Mieze sah mit glücklichen Augen auf die Blätter, die so viele Stunden Nachtarbeit in sich bargen.

»Nun wirst du endlich deinen jahrelangen Wunsch erfüllen und die längst geplante Reise nach Rom und Griechenland ausführen können,« sagte sie froh.

Aber Doktor Steffen schüttelte den Kopf.

»Nein, Mieze, danach sind die Zeiten augenblicklich nicht. Die Kinder werden größer; Ludwig soll studieren und Lilli ebenfalls etwas Tüchtiges lernen. Es ist richtiger, ich lasse das Buchhonorar zur Erziehung unserer Kinder unangetastet. Habe ich so lange auf die Reise gewartet, kommt es auf ein paar Jährchen mehr schon nicht an,« setzte er scherzend hinzu, als er Frau Miezes sonst so heiteres Auge sich umfloren sah.

»Ich weiß es doch, Ernst, wie du dich darauf gefreut hast! Als du den ersten Satz an dem Buch schriebst, sagtest du mir: ›Der erste Schritt ins Land meiner Sehnsucht!‹ Du sollst auch mal an dich selbst denken.«

»Tust du denn das, Mieze?« – Doktor Steffen hob den gesenkten Kopf seiner Frau zärtlich zu sich empor und sah sie lächelnd an – »Wer hat denn wieder einmal auf einen neuen Wintermantel verzichtet, weil Lilli und Ludwig gerade Wäsche brauchten?«

Lilli stand unweit von den Eltern. Das halblaut geführte Gespräch drang bis zu ihren kleinen Ohren. Auch sie wußte, wie sehnlich sich Vater wünschte, die Stätten des Altertums zu besuchen. Und nun wollte er darauf verzichten um seiner Kinder willen?

Heiße Dankbarkeit quoll in Lilli empor, aber auch der Wunsch, den Eltern ihre uneigennützige Liebe vergelten zu können. Wenn sie mal erst groß war und einen Beruf hatte: von dem ersten Geld, das sie verdiente, sollte Vater nach Italien und Griechenland fahren! Ganz bestimmt! Das waren gute Weihnachtsgedanken in dem Herzen von Lilli Liliput.

Der Stern droben am samtschwarzen Himmel zog langsam weiter seine Bahn. Er spiegelte sich, wie es Lilli vorhin getan hatte, eitel im Wannsee. Über der feinen Villa mit der Säulenterrasse und den Ecktürmchen machte er neugierig halt.

Solch einen großen Weihnachtsbaum wie hier hatte er noch nirgends auf seiner Wanderung gesehen. Die Edeltanne reichte vom Fußboden bis an die Decke des hohen Raumes; sie blitzte und funkelte, daß der Stern schnell noch einmal in den Spiegel des Wannsees schaute, ob sein eigener Glanz auch nicht davon überstrahlt wurde.

Aber wo waren denn die jauchzenden Kinder, die zu solch einem schönen Weihnachtsbaum gehörten? Spielzeug stand genug auf der langen, mit kostbarem Damast gedeckten Tafel. Da gab es Puppen in allen Größen, jede mit einer ganzen Aussteuer, dazu eine Puppenschneiderei nebst Nähmaschine. Die schönsten Bücher lagen unter der glitzernden Weihnachtstanne, Gesellschaftsspiele, feine Kleider und Hüte. Ei – und sogar ein Armband mit einer kleinen Uhr! Da mußte doch jedes Kinderherz jubeln.

Das braunhaarige Mädchen aber, das vor den kostbaren Gaben stand, blickte still über die ausgebreiteten Herrlichkeiten hinweg in das Flimmern der Weihnachtslichter. Wohl hatte Ilse innig dem Papa für alle seine Liebe gedankt, mit der er sie so reich bedachte. Wohl hatte sie voller Freude selbst einen kleinen Geschenktisch für ihn, für die Miß und ihre gute alte Alwine hergerichtet. Aber nun, nachdem die Bescherung vorüber war, da Papa nach seiner Abendzeitung griff und die Miß zu einem Armenaufbau gegangen war, stand Ilse ganz allein unter dem breitästigen Lichterbaum.

So allein, so einsam kam sie sich vor wie nie. Was mochte das wohl jetzt für ein lautes Leben in dem Lehrerhäuschen sein! Wie mochte Lilli mit ihren Geschwistern um die Wette jubeln! Und die lustige Frau Doktor Steffen verstand es sicherlich, sich mit jedem ihrer Kinder zu freuen.

Ja, wenn Mama daheim wäre! Dann würde alles anders sein. Nichts hätte sie geschenkt haben mögen, die Ilse – gar nichts – wenn nur Mama heute am Weihnachtsabend bei ihnen gewesen wäre!

Durch die stille Villa schrillte die elektrische Klingel. Ilse zuckte zusammen. Wer konnte das nur sein – sollte Lilli ...

Auch Papa hatte lauschend den Kopf gehoben. Gäste kamen jetzt kaum in die vom Großstadtgetriebe entlegene Wannseevilla, seitdem die Frau des Hauses in der Ferne weilte.

»Vielleicht hat Knecht Ruprecht noch etwas abzugeben vergessen, Ilse,« scherzte Papa, der seines Töchterchens gespitzte Ohren bemerkte.

Da brachte der Diener auch schon auf einem silbernen Tablett einen Brief herein – einen Brief an Fräulein Ilse Gerhard.

»Von Mama – von meinem lieben Muttchen!«

Laut jubelte die sonst so stille Ilse los. Dann drückte sie, unbekümmert um die erstaunten Blicke des Dieners, das knisternde Papier an die Lippen.

Ein Weihnachtsbrief von Mama – und an sie selbst gerichtet! Mit heißen Wangen und klopfendem Herzen las Ilse die guten, liebevollen Mutterworte, die da aus weiter Ferne zu ihr sprachen. Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr vereinsamt; ihr war es, als ob Mamas liebe Stimme den Raum durchzittere.

Nachdenklich blickte der Bankdirektor auf sein erregtes Töchterchen. Wie wenig konnte er seiner Ilse doch trotz seiner großen Liebe geben! Wie fehlte ihrer von Glanz und Reichtum umfangenen Jugend das Beste, das auch das ärmste Kind sein eigen nannte: die Mutterliebe!

»Mama kommt heim – der Arzt ist mit ihren Fortschritten zufrieden – zum Frühling darf sie wahrscheinlich heimkehren!« Noch nie hatten die vornehm stillen Räume solch jubelnden Glücksruf vernommen. »Das ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk!«

In überströmender Seligkeit barg Ilse den braunen Kopf an Papas Brust. Dann saßen sie beide innig umschlungen am knisternden Kaminfeuer, lasen noch einmal gemeinsam Mamas Brief und machten Pläne, wie schön es werden sollte, wenn sie zum Frühling wieder bei ihnen sein würde.

Der Stern droben aber hatte genug gesehen; sein klares Auge war von dem wehmütigen Kinderglück feucht geworden. Eine glänzende Sternschnuppe sank als Träne in den schlafenden See ...

Über die laute Millionenstadt hinweg segelte Lillis Weihnachtsstern. Er hatte nicht Zeit, all die vielen brennenden Bäume, die aus den Fenstern in den Winterabend hinausstrahlten, zu bewundern. Plötzlich machte er aber doch halt.

Nanu, worauf wartete man denn hier noch mit der Bescherung? Durch die blütenweißen Gardinen warf jetzt der Stern sein Silberlicht in eine kleine Dachwohnung. Alles dunkel, alles still – und doch preßten sich kleine Näschen gegen die beschlagenen Fensterscheiben, sahen Kinderaugen sehnsüchtig hie und da die Weihnachtskerzen anderer aufblitzen!

Mitleidig schaute der Stern auf die Kinder herab. Sollten sie heute ganz leer ausgehen, wo jedes sich freute? Der gute Stern funkelte, so sehr er nur konnte, aber niemand achtete auf ihn.

Die Küchentür öffnete sich.

Durch die Spalte sah der Stern, vom Herdfeuer beleuchtet, ein blondes Mädel von etwa dreizehn Jahren. Neben ihm stand in Hut und Mantel die ältere Schwester und wies ihm mit frohem Gesicht mehrere kleine Päckchen, die sie soeben noch eingekauft hatte.

»Sieh nur, Lena, warme Handschuhe für Walter – für Mutter die Wurst und die Weihnachtsstolle, und für die Kleinen dies da –«

Die beiden Mädchen steckten die Köpfe zusammen. Geheimnisvoll flüsternd verschwanden sie in der Nebenstube. Weder der Stern noch die Kleinen hatten etwas vom Gewisper vernommen, obwohl sie sehr angestrengt lauschten.

»Mutter kommt – Mutter kommt!« jauchzte es plötzlich vom Fenster her, gerade in dem Augenblick, als der Stern sich auf die Weiterreise begeben wollte. Da mußte er schnell noch einen Augenblick säumen.

»Mutter kommt – Mutter kommt!«

Frau Ritters feine Züge waren blaß und müde. Das Weihnachtsgeschäft war anstrengend gewesen. Jeder wollte einen frischen Feststrauß zu den Feiertagen; allerlei Weihnachtsendungen hatte sie mit Tannen und Kätzchen schmücken müssen.

Jetzt aber war die Müdigkeit vergessen. Ein frohes Lächeln um die Lippen, schlich sich die Mutter, um von der kleinen Gesellschaft nicht angehalten zu werden, durch die Küche in das Nebenzimmer. Dort hatten Lena und ihre ältere Schwester Ruth bereits ihre Weihnachtsgaben ausgebreitet und sorgsam mit Zeitungsbogen zugedeckt, daß Mutter nichts von ihren heimlich vorbereiteten Schätzen gewahren konnte.

Nun wurden auch sie aus dem Zimmer vertrieben. Nur Walter, der ein niedliches Tannenbäumchen hinter der Mutter hergetragen hatte, wurde zugelassen.

Während der Junge an dem bereits mit Christwatte und Silberlametta geschmückten Baum geschickt die Lichter befestigte, ordnete Mutter ihre Gaben für jedes ihrer Kinder. Bleistifte, Hefte, eine warme Mütze, für Ruth und Lena selbstgenähte Blusen, Zehnpfennigspielzeug, lauter Kleinigkeiten waren es, und doch – mit wieviel Liebe wurde es gegeben, mit wieviel Kinderglück in Empfang genommen!

Frohen Auges überschaute die Mutter den bescheidenen Gabentisch.

Wie hatte Ruth, ihre Große, jede freie Minute dazu benutzt, der Mutter bei dem lebhaften Weihnachtsgeschäft zur Seite zu stehen! Die Ladenkasse hatte sie verwaltet, und da konnte man sicher sein, daß auch nicht der kleinste Rechenfehler mit unterlief. Ja, die Ruth hatte einen klaren, kaufmännischen Kopf; an der würde sie gewiß bald eine gute, zuverlässige Stütze haben.

Und ihr Zweiter, der Walter? Unermüdlich war der Junge treppauf, treppab gelaufen, die eingegangenen Bestellungen abzuliefern. Keine falsche Scham, daß es mit der Würde eines Gymnasiasten nicht vereinbar wäre, den Laufburschen zu spielen, hatte ihn beirrt, da es galt, der Mutter zu helfen.

Lena aber, ihr Hausmütterchen, hatte emsig heißen Kaffee oder Tee herbeigetragen, daß die Mutter sich nicht in dem kalten Laden erkältete, daß sie die klammen Finger, die kaum die Blüten zu halten vermochten, immer wieder erwärmen konnte. Nebenbei hatte sie bei allen ihren Schularbeiten noch die Wirtschaft versehen und die Kleinen bemuttert!

Ja, Frau Ritter hatte allen Grund, dem Schöpfer von Herzen dankbar zu sein, daß er ihr so gut geratene Kinder gegeben – daß er ihr bis heute beigestanden hatte, durch ihrer Hände Arbeit für sie den Lebensunterhalt zu schaffen und sie zu wertvollen Menschen zu erziehen. Und vor allem dafür, daß ihnen der liebe Gott Zufriedenheit und liebevolles Sorgen, einer für den anderen, ins Herz gelegt!

Da flammte das erste Weihnachtslicht in der Dachstube auf – still glitt der Stern davon, seine schimmernde Bahn zu vollenden.


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