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Am Sonntag war Familientag draußen in Lichterfelde. Schon seit Jahren. Wer von den Verwandten und Freunden Sonntags nichts Besonderes vorhatte, der fuhr zu Professors hinaus. Dort war man stets willkommen und war sicher, ein paar nette, anregende Stunden zu verleben. Im Winter wurde musiziert, im Sommer bildete der herrliche Garten mit seiner Rosen- und Beerenfülle den Anziehungspunkt. Aber durchaus nicht den stärksten; der stärkste war und blieb die anmutige Wirtin, die in ihrer herzenswarmen Art es jedem Gast behaglich zu machen wußte.
Die Großmama, oder vielmehr die »Omama«, wie die herangewachsenen Hartensteinschen Kinder sie noch heute nannten, erschien bereits zu Tisch. Das war schon ein Fest für sich! Jeder der Familienmitglieder wetteiferte darin, der Omama den Aufenthalt so schön wie möglich zu gestalten. Ja, es war, als ob auch die vierfüßigen Familienmitglieder die Anwesenheit des lieben Gastes fühlten und sich dementsprechend anständig benahmen. Cäsar blieb wohlerzogen im Freien und stattete dem Biedermeierzimmer keinen Besuch ab. Die Ziegen und jungen Zicklein dämpften rücksichtsvoll ihre melodischen Stimmen. Auch die zweibeinigen, die Hühnerfamilie, begnügten sich mit ihrem eingezäunten Tummelplatz und versuchten keine Übergriffe in Frau Annemaries gehütete Gartenbeete. Und nun erst all das, was da grünte und blühte. Das entfaltete einen Farbenreichtum und einen Duft, als wüßte es, daß es galt, der jetzt einsamen Frau das noch immer um den treuen Weggenossen schmerzende Herz wieder weit und licht zu machen zum Einzug des Lenzes.
Heute gab es ein wahres Wettblühen zwischen Goldlack und Flieder, jeder versuchte seine Blüten in seligem Daseinsglück mit Sonnengold vollzutrinken. Die Luft war süß und schwer von all dem Duft. Schmetterlinge haschten sich. Es summte, surrte, zirpte und geigte drunten im Gras. Es flötete, pfiff, tirilierte und jubelte im maigrünen Blätterhaus der Linde. Ein Sonntag war es, an dem der liebe Herrgott seine Freude haben konnte.
Aber auch die Menschen genossen in wonnigem Behagen den lenzfrohen Feiertag nach anstrengender Arbeitswoche. Der Professor in Hausjoppe und Schirmmütze bastelte an seinem Spalierobst herum und freute sich, wie gut es heuer angesetzt hatte. Frau Annemarie hatte den nie leer werden wollenden Flickkorb heute in die Ecke geschoben. Auf der Veranda saß sie unter lichtgrünem Weingerank und schrieb an ihr Vronli nach München; das war ihr Feiertag.
Hans versuchte die Rosen zu okulieren, was der Vater mit etwas mißtrauischen Blicken beobachtete. Trotzdem der filius behauptete, es in Lüttgenheide bei Onkel Klaus aus dem Effeff gelernt zu haben.
Mitten auf dem Rasen in der Prallsonne lag Ursel schmetterlingumgaukelt in einem Liegestuhl und faulenzte sich gründlich aus. Die kleinen Füße hatte sie auf Cäsars Fell gelegt, der ebenso faul und schläfrig wie seine junge Herrin in die Sonne blinzelte. Ursel lauschte den Vogelstimmen im Gezweig und in ihr sang und jubilierte es mit den kleinen gefiederten Sängern um die Wette. Morgen sollte sie ihre erste Gesangstunde haben. Sie war ganz rappelig vor Freude. Eine bekannte Gesangspädagogin wollte sie unter ihre bewährten Flügel nehmen und ihr die Elementargründe der Sangeskunst beibringen. Ursel wußte eigentlich nicht recht, was sie sich unter diesen Elementargründen vorzustellen hatte. Lieder, Oratorien und Opernrollen wollte sie bei Frau Gerstinger studieren. Denn singen, singen konnte sie doch. Das war ihr doch angeboren, wie den Vöglein droben in der Linde. Die brauchten auch keine Elementargründe, sondern sangen, wie ihnen der Schnabel gerade gewachsen war. Schon als sie noch ein winziges Dingelchen gewesen, hatte sie mit ihren Kinderliedchen, die sie so dreist und drollig vorzutragen wußte, allgemeine Begeisterung erregt. Später in der Schule hatte sie stets die Solopartien übernehmen müssen, bei jeder Abendunterhaltung war sie die Stütze des Chors gewesen. Drei Gesangsprämien hatte sie während der Schulzeit erhalten. War es da ein Wunder, daß sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, Sängerin zu werden?
Und nun hatte man sie statt dessen in die Bank gesperrt, eine Woche, acht ganze Tage hatte sie schon an dem gelben Holztisch mit den grünen Briefumschlägen, die immer wieder nachwuchsen, wie die Köpfe der Hydra, soviel sie auch schreiben mochte, zugebracht. Aber morgen – morgen kam die Belohnung für alle Pein.
»Ursel, mein Mädel, möchtest du nicht mal einen Blick auf den Mittagstisch werfen, ob auch nichts fehlt?« rief es von der Veranda herab. »Und die kalte Speise hättest du auch einrühren und schlagen können. Auguste hat noch den Salat für den Abend zu machen.«
»Ach, Muzichen, Trude und Auguste machen das ja tausendmal besser als ich,« gab Ursel in ehrlicher Selbsterkenntnis zur Antwort, ohne sich aus ihrer bequemen Lage zu erheben.
»Schlimm genug, daß sie es besser als du verstehen. Es wird Zeit, daß du endlich mal auch für hauswirtschaftliche Dinge Interesse zeigst. Seitdem du auf der Bank bist, scheinst du für den Haushalt überhaupt ganz verloren zu sein«, beklagte sich die Mutter.
»Ihr hättet mich ja nicht dorthin zuschicken brauchen. Zerteilen kann ich mich nicht«, begehrte Ursel auf.
»Und am Sonntag, wie steht's halt damit, mein Fräulein?« rief der Vater von seinen Schattenmorellen herüber.
»Am Sonntag muß ich mich von den Strapazen der Woche erholen«, gab Ursel schon wieder lachend zurück.
»Heut' brauchst dich nimmer zu zerteilen, nur ein ganz klein wenig aus deinem Faulenzerstuhl aufzurütteln. Schau, deine Mutter kann keine Sekunde unbeschäftigt zubringen, und auch ich – – –«
»Ja, die Muzi!« unterbrach Ursel den Vater lachend.
»Wenn ich erst mal Mutter von drei Küken bin, werde ich sicher auch nicht mehr im Faulenzerstuhl liegen.«
»Du liegst selbst als Großmutter noch dort und tust nichts!« foppte sie Hans.
»Die Ursel und heiraten?« Der Mutter erschien die Sache komisch. »Himmelangst wird mir, wenn ich an meinen armen Schwiegersohn in spe denke, wie der sich mit seiner unwirtschaftlichen Frau in die Brennesseln setzen wird. Bis dahin mußt du noch viel lernen, mein Herzchen.«
»Lieber heirate ich nicht!« Es war Ursel ganz ernst damit.
»Hahaha« – dreistimmiges Gelächter belohnte ihren Ausspruch. Es lachte aus grünen Zweigen, es läutete silbernlachend aus allen Blumenglocken. Frau Sonne lachte über das ganze breite Gesicht, alles lachte die faule Ursel aus.
»Für die Ursel muß mindestens ein Prinz kommen, daß sich das gnädige Fräulein nur keinen Finger naß zu machen braucht.« Hans und Ursel standen bei all ihrer geschwisterlichen Liebe auf ähnlichem Neck- und Kriegsfuß wie anno dazumal der Klaus und die Annemarie.
»Mit den Prinzen ist die Sache jetzt soso. Auf unserer Bank ist einer, der sieht auch bloß wie ein anderer Sterblicher aus. Nee, ich bleibe mein Leben lang hier bei meinen alten Herrschaften. Ich bin ja euer Nesthäkchen. Kein Prinz bringt mich aus meinem himmlischen Faulenzerstuhl auf.«
Ein Prinz war es nicht, der Ursel auf die Beine brachte. Nur eine weißhaarige Dame in schwarzer Kleidung, die draußen zwischen dem Gartenstaket sichtbar wurde. »Die Omama – die Omama kommt!« Cäsar bekam einen Tritt ab, daß er aufheulte. Wie früher als Kind flog das schlanke Mädel den Gartensteig entlang, der Omama entgegen. Auch Hans, der sonst nicht allzuviel Temperament zeigte, ließ seine Rosenbäumchen im Stich, um die liebe alte Dame feierlich einzuholen.
»Grüß Gott, Schwiegermutterle.« Der Professor schwenkte erfreut seine Mütze.
Am strahlendsten aber waren zwei Blauaugen, die der Mutter die ganze Freude, sie wieder mal hier draußen zu haben, sie mit all ihrer kindlichen Liebe umhegen zu können, offenbarten. Jetzt erst war richtig Sonntag für Frau Annemarie.
An Frau Doktor Braun waren die Jahre durchaus nicht spurlos vorübergegangen. Sie war seit dem Tode ihres Mannes eine alte Frau geworden. Weißes Haar hatte sie eigentlich, solange Annemarie zurückdenken konnte. Schon damals, als sie zu Anfang des Weltkrieges aus England, wo man sie interniert hatte, heimkehrte. Jetzt hatte das Schicksal mit seiner Furchenschrift ihr so manches Zeichen in das Antlitz geschrieben. Den Augen sah man es an, daß sie viel geweint hatten. Das einst so frei getragene Haupt hatte Leid zu Boden gesenkt. Selbst Ursels helle unbekümmerte Fröhlichkeit ward in Gegenwart der Großmutter in liebevolle Rücksichtnahme gedämpft.
»Guten Tag, Omama, gib mir dein Tuch und deinen Pompadour. Willst du meinen Arm nehmen? Hat dich der weite Weg angestrengt?« An der einen Seite die Ursel, an der anderen den Hans, so ward Frau Doktor Braun im Triumph der ihnen freudig entgegenkommenden Annemarie zugeführt.
»Die ganze Woche haben wir uns nicht gesehen, Muttchen.«
»Ja, von euch läßt sich niemand in Charlottenburg blicken. Dein Mann ist der Einzige, der noch hin und wieder mal nach mir sieht, trotzdem er doch der beschäftigste von euch ist«, meinte Frau Doktor Braun halb scherzhaft, halb im Ernst.
»Diese Woche stand unter dem Zeichen großer Gardinenwäsche, Muttchen. Da war ich beim besten Willen nicht abkömmlich. Und bei uns ist es jetzt so schön draußen, man mag gar nicht aus seinem Garten fort. Es ist viel richtger, du kommst zu uns und genießt hier den Frühling.«
»An Charlottenburg ist der Frühling auch nicht vorübergegangen, Annemie. Wenn er mich auch vielleicht nicht mehr zu finden weiß.«
»Komm, Omama, du mußt dich hier in meinen Faulenzerstuhl legen, da genießt man doppelt.« Ursel wollte keine Traurigkeit bei der Großmutter aufkommen lassen.
»Nein, mein Herzchen, ein Korbsessel ist mir angenehmer. So, danke schön, Hansi. Hier sitzt es sich wirklich schön.« Die matten Augen der alten Dame belebten sich, als sie in das Blühen ringsum schaute.
»Gelt, Mutterle? Wie haben wir das für dich hergerichtet? Die Annemie war die ganze Woche schon in Aufregung, ob Goldlack und Flieder auch ihrem Befehl, zum Sonntag zu blühen, nachkommen würden. Aber die haben ebensolchen Respekt vor ihr, wie ihr armer Ehemann.« Es war Rudi wieder mal gelungen, die alte Dame in bessere Stimmung zu bringen.
»Und mein Urselchen will gar nichts mehr von ihrer alten Omama wissen? Hanne sagte erst gestern: Unsere Kinderchen finden überhaupt den Weg nicht mehr zu uns Alten.«
»Berufspflichten, Omama.« Ursel machte ein drollig wichtiges Gesicht. »Augenblicklich ist viel los an der Börse. Da ruht natürlich alles auf den Schultern solch eines armen geplagten Banklehrlings.«
»Adressen schreibt sie und Dummheiten treibt sie«, warf Hans trocken dazwischen.
»Richtig, mein Urselchen ist ja inzwischen in Amt und Würden. Na, gefällt es dir denn dort, mein Kind?« erkundigte sich die Großmama, ihren Liebling zärtlich auf den Stuhl neben sich ziehend.
»So gut, daß ich bei der nächsten Gelegenheit wieder auskneife. Vorausgesetzt, daß ich nicht schon früher an die Luft gesetzt werde. Ach, Omamachen, ich sage dir, Zuchthausarbeit ist ein Vergnügen gegen dieses stumpfsinnige Adressenausschreiben.«
»Nun – nun, mein Herzchen, wenn die Leute erst sehen, was sie für eine Kraft an dir haben, werden sie dich schon zu interessanterer Tätigkeit heranziehen. Aller Anfang ist schwer.«
»Das Ende ist leider noch viel schwerer als der Anfang, da es noch gar nicht abzusehen ist«, seufzte die Enkelin.
»Du, Ursel, laß das den Vater nicht hören. Du weißt, er wird ärgerlich, wenn du derartige abfällige Bemerkungen über die Bank, wo dir jeder nett entgegenkommt, machst«, warnte die Mutter, »sonst wackelt die Gesangstunde morgen.«
»Die steht bombenfest. Eher wird die Bank in die Luft gesprengt. Omama, morgen bin ich der glücklichste Mensch der Welt. Frau Gerstinger hat mich als Schülerin angenommen.«
»Also doch! Hat's also doch durchgesetzt, das Urselchen. Es wäre auch schade um ihre Stimme.« Keine war begeisterter von den Vorzügen der Enkelin als die Großmama. »Übrigens, ich habe jetzt auch Freikonzert im Hause. Wir haben diese Woche neue Pensionäre bekommen – – –«
»Der Tausend! Und das erzählst du erst jetzt, Muttchen. Durch Ursels Plappermäulchen kommt man gar nicht zu einer richtigen Unterhaltung. Also nun berichte, Muttchen. Ursel, du kannst inzwischen nach dem Tisch sehen; Hansi, Omama nimmt es dir nicht übel, wenn du deine Rosen weiter pfropfst. Ich will die Omama erst mal ein bißchen für mich haben«, sagte Frau Annemarie energisch.
»Nee, erst will ich wissen, was das mit der Hausmusik für eine Bewandtnis hat.« Ursel rührte sich nicht von der Stelle. »Hast du Künstler ins Haus bekommen, Omama?« Ihr Interesse war geweckt.
»Nun, möglichenfalls angehende. Bruder und Schwester. Ganz exotische Herrschaften aus Brasilien. Der Vater soll dort einer der reichsten Kaffeekönige sein. Sie sind mir warm empfohlen worden. Der junge Mann wird natürlich ebenfalls mal Plantagenbesitzer. Vorläufig aber will er hier ein paar Jahre das deutsche Geschäft und vor allem die deutsche Musik studieren. Er ist ein guter Geiger. Diese Leute können sich eben alles leisten, jeder Laune nachgeben.«
»Die Beneidenswerten!« Aus tiefstem Herzen kam es der Ursel.
»Meinst du wirklich, Urselchen? So weit fort von der Heimat, von den Eltern und all ihren Lieben. Vielleicht findet dich das junge Mädchen viel beneidenswerter, daß du daheim in deinem Elternhaus bleiben kannst«, stellte ihr die Großmutter vor.
»Glaub ich nicht. Aber erzähle doch weiter, Omamachen. Wie heißen sie? Wie sehen sie aus? Wie alt sind sie? Studiert das junge Mädchen auch Musik?« Ursels Fragen überstürzten sich.
»Ruhig Blut, Kleines. So schnell geht's bei mir nicht mehr. Wie sie heißen? Margarida und Milton Tavares.«
»Margarida und Milton Tavares – ach, entzückend! Das heißt, Milton kenne ich bloß vom verlorenen Paradies her. Konnte ich nie recht leiden. Bei der Übersetzung in der englischen Stunde habe ich damals eine Vier bekommen. Sind sie hübsch? Die Namen klingen so, als ob sie hübsch sind.«
»Nun, das ist Geschmackssache. Interessant sehen sie jedenfalls aus. Die kleine Margarida ist entschieden eine exotische Schönheit. Blauschwarzes Haar, samtschwarze Augen und ein bräunliches Hautkolorit. Klein und zierlich ist sie. Ist deine Neugier befriedigt, Urselchen?«
»Noch lange nicht. Nun kommt erst noch der Bruder heran. Wie sieht der Herr Milton aus? Wie ein Künstler mit rabenschwarzen Locken?«
»Von Locken habe ich noch nichts bei ihm bemerkt. Er ist ein eleganter, gut erzogener junger Mann. Ein Gesicht wie aus Bronze. Das einzige Unangenehme ist nur, daß die beiden, besonders Fräulein Margarida, vorläufig kaum ein Wort Deutsch verstehen. Sie sprechen ihre portugiesische Landessprache und auch Französisch. Und da ich mein Schulfranzösisch ziemlich vergessen habe – die englische Unterhaltung mit meiner Amerikanerin macht mir ja gar keine Schwierigkeiten – ja, da ist die Verständigung natürlich nicht ganz einfach.«
»Mein armes Muttchen, auf deine alten Tage mußt du dein verstaubtes Französisch wieder hervorkramen! Laß sie doch Deutsch lernen, die brasilianischen Kaffeebohnen«, ereiferte sich Annemarie.
»Wollen sie auch. Vorläufig gibt unsere alte Hanne ihnen praktisch deutschen Unterricht. Ich sage euch, das ist das Komischste, was ihr euch vorstellen könnt. Entweder sie schreit mit ihnen, als ob sie schwerhörig wären, oder aber sie greift zur Methode der Taubstummen und macht ihnen handgreiflich das Notwendige klar. Manchmal habe ich die Empfindung, unter harmlos Verrückten zu sein.«
»Hahaha – Hanne als deutscher Sprachlehrer! Das muß ich sehen, Omama. Ein Anblick für Götter. Morgen besuche ich dich bestimmt. Die Brasilianer haben sicher interessante Briefmarken.« Der phlegmatische Hans, dem die Erzählung von der Großmutter neuen Pensionären doch noch interessanter war, als seine gärtnerischen Bestrebungen, kam wieder herbei.
»Ach, morgen kann ich leider nicht. Nach Schluß der Bank habe ich meine erste Gesangstunde. Aber übermorgen besuche ich dich auch, Omama, deine entzückenden Brasilianer muß ich kennenlernen. Sorge nur dafür, daß sie zu Hause sind, so gegen sechs bin ich da«, rief Ursel lebhaft.
»Also die Hanne als Sprachlehrer und meine exotischen Pensionäre, das ist euch interessanter als eure alte Omama. Na wartet! Mich zu besuchen, daran denkt keiner«, neckte Frau Doktor Braun.
»Wir verbinden das Angenehme mit dem Nützlichen, Omama«, verteidigte sich Hans.
»Bin ich nun angenehm oder nützlich?« überlegte die Großmama mit feinem Humor.
»Beides – wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, Omama.«
»Eine etwas flügellahme Fliege bin ich nun schon ganz gewiß. Aber eine Brummfliege will ich keineswegs sein, sondern mich auf alle Fälle freuen, wenn meine Kinderchen mal wieder Zeit für mich finden.« Die Großmama war doch reizend in ihrer abgeklärten sanften Art. Jedesmal empfanden die jungen Menschen das aufs neue.
»Nun, Ursel, ich denke, deine Wißbegierde über Brasilien ist nun genügend befriedigt«, wandte sich Frau Annemarie jetzt an ihre Tochter. »Du darfst dich nun endlich um das Essen und den Mittagstisch kümmern. Wir wollen doch unsere Omama nicht verhungern lassen.«
»Ach, Muzi, Auguste und Trude machen das auch ohne mich tadellos.« Das Haustöchterchen rührte sich noch immer nicht von der Stelle.
»Ja, Ursel, soll ich selbst gehen?« Frau Annemarie erhob sich bereits in ihrer raschen, energischen Art.
»Bleib nur ruhig da, Muzichen, ich habe noch jüngere Beine. Und was würde die Omama dann für eine schlechte Meinung von deinen mütterlich pädagogischen Erfolgen bekommen.« Trällernd sprang das lose Ding ins Haus.
»Das ist das Schlimme bei unserer Ursel, man kann ihr niemals richtig böse sein. Sie ist so drollig in ihrer frechdachsigen Art, daß sie einem dadurch die Erziehung recht schwer macht«, meinte Annemarie halb lachend, halb bekümmert zu ihrer Mutter, die der hübschen Enkelin ebenfalls belustigt nachblickte.
»Ihr seid ja nun bald fertig mit eurer Erziehung, Annemarie.«
»Fertig – bei der Ursel? Da sind wir in den Anfangsstadien steckengeblieben. Wenn uns das Leben nur nicht die Zügel aus der Hand nimmt und selbst weiter erzieht. Ich will es unserm unbekümmert heiteren Kinde nicht wünschen. Die Hand der Eltern ist entschieden liebevoller und milder.«
»Ei, Annemarie, ich glaube, daß unser Kind, wo immer es hinkommt, mit seinem Liebreiz und seiner kindlichfrohen Anmut sich überall die Herzen gewinnen muß. Das ist gewiß nicht verblendete Großmuttereitelkeit.« Annemaries Nesthäkchen war von klein auf Frau Doktor Brauns Augapfel. Stets hatte sie es in Schutz genommen, wenn es auch noch so ungezogen war.
»Das ist es ja eben. Sie nimmt zu schnell für sich ein. Und da sie das ganz genau weiß, baut sie darauf und schiebt alles ihr Unbequeme mit liebenswürdiger Anmut von sich. Ich fürchte, auf der Bank ist es schon dieselbe Leier wie früher in der Schule. Alle kommen ihr so nett entgegen, erzählt sie, und sind ihr behilflich, die ihr widerstrebende Arbeit fertigzustellen. Und gerade das wollte ich vermeiden. Ich wollte meine Kinder unabhängig von fremder Hilfe und selbsttüchtig für das Leben machen.«
»Bei Vronli ist es dir ja gelungen, Annemarie. Auch Hansi ist bei all seiner Pomadigkeit heute schon zielbewußt und fürs Leben tauglich. Und um mein Urselchen ist mir nicht bange. Das ist ein Sonnenkind, wie du selbst es gewesen bist. Der Weg, den sie geht, der führt sicher zum Glück«, meinte die Großmama überzeugungsvoll.
»Der Himmel gebe es!« Frau Annemarie blickte hinauf in das lichtgrüne Blätterdach, in dem es trillerte und jubilierte, als ob alles so sonnenhell im Leben wäre wie der heutige Frühlingstag.
Inzwischen hatte der Gegenstand ihrer ernsthaften Betrachtungen unbekümmert das Speisezimmer erreicht.
»Trude, liebstes bestes Trudchen, tun Sie mir den Gefallen und vergessen Sie nichts auf dem Tisch, sonst kriege ich ein Donnerwetter ab«, rief sie dem tischdeckenden Stubenmädchen zu.
»Sie, Fräulein Urselchen? Na, das wäre ja noch schöner, wenn Sie für meinen Fehler die Ausschimpfe bekämen. Aber haben Sie man keine Bange nich, es fehlt nichts«, versicherte das Mädchen, den zierlich gedeckten Tisch noch einmal überblickend.
»Trude, Sie haben doch was vergessen!« Ursel setzte eine strenge Richtermiene auf.
»Nanu?« machte Trude erstaunt.
»Die Hauptsache – die Blumenvase.« Ursel holte aus dem Wintergarten, den man nachträglich an das Speisezimmer angebaut hatte, um es zu vergrößern, ein Blumenglas mit lustigbunten Frühlingsanemonen.
»Die Hauptsache, das ist das Essen. Von Blumen wird kein Mensch nich satt. So – und nun bringe ich die Suppe, Fräulein Urselchen. Sagen Sie doch bitte Frau Professern, es sei angerichtet.«
»Nicht so eilig, Trude, immer mit der Ruhe. Erst muß ich mal bei Auguste inspizieren, ob auch alles schmeckt.«
»Das tut's auch, ohne daß Sie da lecken kommen. Rufen Sie man lieber die Herrschaften zu Tisch. Was die Auguste is, die kann keine Topfkieker leiden.«
»Also schön. Ich wasche meine Hände in Unschuld, wenn die Suppe angebrannt ist und die Speise versalzen.«
Trotzdem Ursel nicht vorher abgekostet hatte, war alles tadellos geraten. Großmama war durch ihre alte Hanne verwöhnt, da mußte man besondere Ehre einlegen.
»Von der Speise müssen wir was für Waldemar und Herbert aufheben. Hans kommt doch mit den Jungs zum Kaffee her, nicht, Muttchen?« erkundigte sich Annemarie.
»Wenn sein Mädchen ihm die Erlaubnis zum Ausgehen erteilt. Die Wirtschafterin hat er Knall und Fall entlassen müssen, weil sie in ihre eigene Tasche gewirtschaftet hat. Es ist ein ewiges Pech mit den fremden, uninteressierten Leuten. Der arme Junge hat gar keine Häuslichkeit mehr«, seufzte die alte Dame.
»Ja, unsere Ola ist uns leider zu früh entrissen worden.« Das war bei allem eigenen häuslichen Glück eine Wunde im Herzen des Professors, die nie vernarbte.
»Hans sollte sich eine gebildete Dame ins Haus nehmen, das wäre auch für die heranwachsenden Jungen wünschenswert. Wenn man nur irgend jemand durch persönliche Empfehlung wüßte«, überlegte Annemarie.
»Ich weiß jemand«, rief Ursel frohlockend.
»Du – ih, der Tausend – ist das Ei wieder mal klüger als die Henne?« Annemarie sah das Töchterchen erwartungsvoll an.
»Tante Margot – Tante Margot Thielen. Neulich erst hat sie gesagt, daß es ihr so einsam daheim sei, seitdem ihre jüngste Schwester aus Berlin fort geheiratet habe. Daß sie jetzt niemanden mehr zu versorgen hätte – paß auf, Muzi, Tante Margot tut's, die ist ja so gut.«
»Damit allein ist's halt nicht getan, mit der Güte, Urselchen. Es ist nicht so leicht, sich in eine immerhin abhängige Stellung zu begeben, wenn man sein Lebtag sein eigener Herr gewesen ist«, sagte der Vater kopfschüttelnd. »Ich glaube nimmer, daß sie darauf eingeht.«
»Ich auch nicht, Rudi«, schloß sich die Großmama der Ansicht ihres Schwiegersohnes an. »Margot Thielen hat ihre Häuslichkeit, ihr gutes Auskommen durch ihre kunstgewerblichen Arbeiten. Um anderen Leuten einen Gefallen zu tun, gibt man seine eigene Bequemlichkeit nicht auf. Was meinst du, Annemarie?«
»Ich finde Ursels Vorschlag gar nicht so schlecht. Margots liebevolle, weibliche Art muß stets etwas zu umsorgen haben. Früher war es die leidende Mutter – später die Geschwister – und nun mag sie sich in der Tat recht vereinsamt in der jetzt leergewordenen Wohnung vorkommen.«
»Tante Margot hat ja zwei ihrer Zimmer an ein junges Ehepaar abvermietet, da ist sie doch nicht allein«, stellte Hans sachlich fest.
»Nun, das sind doch Fremde, zu denen sie keine innere Fühlung hat. Ich halte es gar nicht für ausgeschlossen, daß sie auf unsern Vorschlag eingeht. Ich hoffe, sie kommt heute zu uns heraus, dann wollen wir ihr gleich mal auf den Zahn fühlen.«
Ursel fand, daß die Mutter ein ganz merkwürdiges Gesicht zu ihren Worten machte. Halb versonnen lächelnd, halb verschmitzt – aber Fräulein Neunmalklug kam bei all ihrer Schlauheit doch nicht dahinter, was es damit wohl für eine Bewandtnis habe.
»Mein großes Mädel, vertrittst du mich heute und richtest den Kaffeetisch auf der Terrasse her, ja? Kann ich mich auf dich verlassen?« fragte Frau Annemarie liebevoll.
»Geht denn Trude heute aus?« kam die Gegenfrage recht wenig erbaut von den Lippen Ursels.
»Nein, Auguste hat heute Ausgang. Trude soll ihr abtrocknen helfen. Sie kommt sonst erst so spät fort. Solch ein armes Mädel hat doch nur den einen Sonntag.«
»Ich auch bloß! Nun wird's wieder nichts aus dem Gesangüben. Ich möchte Frau Gerstinger doch morgen gleich zeigen, was ich kann.« Ursel schien durchaus nicht einverstanden.
»Üben kannst du jetzt so wie so nicht. Die Omama hat sich nebenan ein bißchen hingelegt. Und auch der Vater will heute am Sonntag ein ruhiges Mittagsstündchen haben. Aber laß nur, wenn du es nicht gern tust, werde ich – –«
»Nein, gern tue ich's ganz gewiß nicht«, gab Ursel ehrlich zu.
»Was tut sie nicht gern, wovon will sie sich schon wieder drücken, der Faulpelz?« fragte Hans, der sich gerade an seiner prachtvollen Schmetterlingssammlung erquickte.
»Von Hausmädchenarbeit.«
»Haustochterarbeit willst du wohl sagen, Ursel«, verbesserte die Mutter.
»Was bin ich denn schlechter als Hansi? Ihr Jungs braucht keinen Kaffeetisch zu decken. Und ich muß mich die Woche über mehr quälen, als du in deiner Penne.« Ursels Unmut richtete sich jetzt gegen den Bruder, an den solche Zumutungen nicht gestellt wurden.
»Und deshalb regste dir uff?« machte Hans gleichmütig. »Leg dich ruhig aufs Ohr, Mutterherz. Ich werde die Ursel inzwischen zur Hauswirtschaftlichkeit erziehen. Einen Kaffeetisch decken, kann ein Oberprimaner schließlich auch noch. Dazu muß man nicht unbedingt Banklehrling sein.«
»Na, meinetwegen, wenn du helfen willst.« Der Ursel begann die Sache in Gemeinschaft mit dem Bruder mehr Spaß zu machen.
»Na, Kinder, da wird was Nettes rauskommen. Zertöppert mir nur nicht meine guten Tassen. Den Kuchen werde ich lieber nachher selbst aufschneiden – sonst haben unsere Gäste das Nachsehen.« Frau Annemarie kannte ihre Küken.
»Kuchenaufschneiden ist die Hauptsache dabei. Verlaß dich nur ganz auf uns, Mutter. Du darfst dich jetzt auf dein Altenteil zurückziehen.« Hans versuchte die Mutter hinauszukomplimentieren.
»Dummer Junge – ich werde dich bringen. Altenteil – ist das wohl erhört? Es hat nicht jeder solche jugendliche Mutter«, protestierte Frau Annemarie noch lachend zwischen Tür und Angel.
»Stimmt! Unsere alte Dame hat sich tadellos konserviert. Manchmal wundere ich mich selber über das verwandtschaftliche Verhältnis, in dem wir zueinander stehen«, meinte Hans anerkennend hinter ihr her. »So, und nun an die Arbeit, Ursel. Ich bin für deine hauswirtschaftliche Ausbildung verantwortlich. Wieviel Mann kommen denn?«
»Warte mal. Wir sind mit der Omama fünf. Onkel Hans und die beiden Jungs – Edith und Ruth wollten vielleicht kommen. Tante Margot – na, ich denke, das Dutzend wird voll werden«, überlegte Ursel.
»Zum Adressenschreiben mag solch Banklehrling allenfalls taugen, zum Rechnen ganz gewiß nicht. Elf bekomme ich nur zusammen«, neckte der Bruder.
»Bei deiner glänzenden Zensur in Mathematik ist es noch fraglich, wer von uns beiden recht hat«, gab die Jüngere schlagfertig zurück.
»Frechdachs!« Er packte sie mit seinen derben Fäusten an die kleinen Ohren.
»Au – laß mich bloß erst die guten Tassen hinsetzen. Du – die Omama schläft doch nebenan – – –« wehrte sich Ursel.
»Habe ich so geblökt oder du? Na also! Ist ein Zentimetermaß oder ein Zollstock zur Hand?«
»Wozu denn? Willst du die Stärke der Kuchenstücke etwa abmessen?« fragte die Schwester.
»Nee, aber die Raumverhältnisse mathematisch einteilen. Der Tisch hat zweieinhalb Meter Längenmaß. Wenn unten und oben einer sitzt, kommt auf jeden einen halben Meter Flächeninhalt. Warte, ich werde jedesmal einen Bleistiftstrich machen, wo du eine Tasse hinsetzen darfst.« Hans begann mit Metermaß und Bleistift zu hantieren.
Da aber erwachten in Ursel doch die verkümmerten Hausfrauengefühle. »Was – Mutters schönes Veilchengedeck willst du bemalen? Du bist wohl nicht ganz« – ihre Hand, welche ihm bei der Vandalenarbeit Einhalt tun wollte, wurde statt dessen von der seinigen wie in einen Schraubstock gepreßt.
»Wer ist hier Lehrling, du oder ich, he?«
»Laß los – grober Michel – – – au, du, ich schreie, ich beiße – – –« Zum Glück für die Nachmittagsruhe der Großmama erschien gerade Trude mit Silber und Glas.
»Um Himmels willen, was machen Sie denn hier für einen Krach!« ereiferte sich das Mädchen.
»Wir decken Ihnen den Kaffeetisch, Undankbare«, gab Hans, die wie eine kleine Wildkatze um sich fauchende Schwester loslassend, gekränkt zur Antwort.
»Ach, lassen Sie man – ich mach mir's schon lieber allein. Gehen Sie man in den Garten, Fräulein Urselchen. Hier machen Sie ja doch nichts als Dummheiten.« Trude war schon im vierten Jahre im Hause und betrachtete Hans und Ursel, trotzdem sie dieselben jetzt »Sie« nannte, immer noch als Gören. Besonders, wenn sie sich so benahmen wie augenblicklich.
»Hast du's gehört, Hansi?« Ursel hatte ihren Kampf im Nu vergessen. »Trude hat soeben vor Zeugen erklärt, daß ihr an unserer Hilfe nichts liegt. Also ich ziehe mich gekränkt auf meinen Faulenzerstuhl zurück und decke mich mit Sonnenstrahlen zu.« Glücklich entwischte sie.
So ging es fast immer, wenn Ursel sich irgendwie mal im Haushalt nützlich machen sollte.