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In der Chorstunde war man in großer Aufregung. Ein Konzert sollte stattfinden. Nicht das gewöhnliche Schülerkonzert, das regelmäßig in dem Saal der Hochschule abgehalten wurde, damit sich die Hochschüler an das Publikum gewöhnen. Das pflegte allerdings auch immer die Wogen der Alltäglichkeit aufzuwirbeln, denn jeder wollte möglichst gut dabei abschneiden. Waren doch alle Lehrkräfte der Hochschule dazu versammelt.
Aber heute gab es was ganz Besonderes. In dem Saale der Hochschule fanden regelmäßig im Winter Meisterkonzerte statt. Eine Sängerin, die für das nächste Konzert verpflichtet war, hatte abgesagt. Nun hatte sich der Leiter der Meisterkonzerte an die Hochschule gewandt, ob nicht irgendeine vorgeschrittene Schülerin einspringen könne. Im allgemeinen ließ die Hochschule ihre Schüler nicht gern vor dem Schlußexamen an die Öffentlichkeit. Aber Professor Lange war mit dem Leiter der Meisterkonzerte befreundet. So hatte er versprochen, mal sein Material durchzusieben, ob schon etwas darunter sei, was er dem Publikum, ohne sich und die Hochschule zu blamieren, vorsetzen könne.
Ursel erschien, wie meist, mit pünktlicher Unpünktlichkeit zugleich mit dem Dirigenten.
»Haben Sie es schon gehört, Hartensteinchen?« So wurde Ursel fast von allen genannt.
»Was denn?« Ursels Neugier war geweckt.
»Eine von uns soll im nächsten Meisterkonzert auftreten.«
Der Taktstock des Dirigenten, Professor Bocks, machte dem Geflüster ein Ende.
Man studierte die Bachsche Matthäuspassion. Ursel Hartenstein kannte das Werk noch nicht. Sie war hingerissen von seiner schlichterhabenen Schönheit. Trotzdem vermochte sie sich heute nicht so zu konzentrieren wie sonst.
»Wer singt im Meisterkonzert? Sicher die Neudorf. Sie hat eine prachtvolle Stimme und steht kurz vor dem Examen – –«
»Es donnert – es blitzet«, sang der Chor gerade. Da donnerte und blitzte es auch von dem Dirigentenpult. »Was ist denn da für eine Privatunterhaltung? Wir haben doch hier keinen Kaffeeklatsch. Ein solches Werk erheischt volle Aufmerksamkeit. Wenn jemand noch einmal stört, dann verzichte ich künftig auf seine Beteiligung am Chor.« Professor Bocks Stimme donnerte. Sein Auge blitzte zu Ursels Platz hin. Er war für seine Schroffheit, um nicht zu sagen Grobheit, bekannt, wenn er im Eifer des Dirigierens war. Dafür schuf er auch einen mustergültigen Chor. Sonst war er ein durchaus liebenswürdiger Herr.
Die Augen aller Chormitglieder, Damen wie Herren, wandten sich der gemaßregelten Ecke zu. Trotz all ihrer Unverfrorenheit war Ursel dieses Spießrutenlaufen äußerst peinlich. Sie gab sich Mühe, die Scharte durch volle Aufmerksamkeit wieder auszuwetzen.
Die herrliche Bachsche Musik ließ sie ihr Mißgeschick bald vergessen. Die Solisten traten in Aktion. Fräulein Neudorf sang den Sopran, eine andere Schülerin, die demnächst auf ein Opernengagement hoffte, die Altstimme.
Da erschien Professor Lange auf der Bildfläche. Das kam öfters mal vor, daß er zu den Solopartien erschien, da er dieselben mit seinen Gesangschülern einstudierte und ihre Wirkung unter Beteiligung des Chors erproben wollte. Heute hatte er andere Absichten.
Professor Bock klopfte ab, als der Chor sich zu dem Choral »O Haupt voll Blut und Wunden« erhob. »Herr Professor Lange wünscht einige Damen hier im Saal singen zu hören. Ich unterbreche die Chorstunde daher.«
Grenzenlose Spannung lag über all den jungen Musikschülern. Nun kam's. Wer mochte die Glückliche sein?
Professor Lange nahm das Wort. »Wie Sie wohl schon gehört haben, meine Damen und Herren, handelt es sich um das nächste Meisterkonzert hier in diesem Saal. Wir sollen Lückenbüßer sein. Mir liegt natürlich daran, daß unsere Hochschule in würdigster Weise repräsentiert wird. Ich wende mich an Sie selbst, welche der Damen halten Sie dazu am geeignetsten? Welche können wir getrost in die Öffentlichkeit hinaussenden?«
»Fräulein Neudorf« – rief es hier und da, »Fräulein Binder« – das war die Altistin der Matthäuspassion. Auch einige andere Namen wurden noch genannt. Fräulein Neudorf reckte den Kopf wie ein Pfau. Es war ja ganz selbstverständlich, daß keine andere in Betracht kam. Fräulein Binder bekam zwei kreisrunde rote Flecke auf beiden Backen vor Aufregung. Da rief jemand: »Fräulein Hartenstein.« Es war die Nachbarin Ursels, eine begeisterte Verehrerin ihrer Stimme. Ursel hielt ihr erschreckt den Mund zu.
»Viel zu jung – ist doch noch lange nicht fertig – ist ja noch nicht viel länger als ein Jahr auf der Hochschule« – wurden hier und da Stimmen laut.
Professor Lange strich sich seinen schönen weißen Bart. »An die Namen, die mir genannt worden, habe ich auch in erster Reihe gedacht. Ich schlage vor, daß wir sogleich eine Prüfung vornehmen, wie die Stimmen hier im Saal klingen. Darf ich die Damen bitten vorzutreten.« Fräulein Neudorf war bereits da. Sie fand diese Prüfung eigentlich recht überflüssig. Sie hatte das beste Stimmaterial, davon waren alle überzeugt und sie selbst am meisten. Überdies war sie eine der ältesten Schülerinnen der Hochschule. Na also. Wozu dann bloß noch die Umstände?
Fräulein Binder flog am ganzen Körper. Sollte sie die Ortrudarie singen? Oder lag ihr die Azuzena aus dem »Troubadour« nicht noch besser?
Professor Lange überflog die nach vorn getretenen Damen.
»Fräulein Hartenstein fehlt noch«, sagte er.
»Ach, das war ja bloß Spaß«, rief Ursel aus ihrer Ecke.
»Nein, das war durchaus Ernst, Fräulein Hartenstein. Bitte treten Sie ebenfalls vor.«
Angst hatte Ursel keine Spur. Höchstens Angst, daß sie gewählt werden könnte. Denn sie kam sich hier auf der Hochschule den Älteren gegenüber doch noch recht als Küken vor. Besonders Fräulein Neudorf nannte sie immer »Kleinchen« und sah ein wenig mitleidig von ihrer stolzen Höhe auf sie herab. Es wäre ihr entschieden angenehmer gewesen, mit Fräulein Neudorf nicht in Wettbewerb treten zu müssen. Aber da Professor Lange sie nun mal vorgeholt hatte, wollte sie auch ihr Bestes geben. Oho – die Stimme, die sich da gemeldet hatte, daß sie noch viel zu jung und zu kurze Zeit an der Hochschule sei, wollte sie schon zum Schweigen bringen.
Fräulein Neudorf betrat als erste stolz erhobenen Hauptes das Podium. »Was wollen Sie singen, Fräulein Neudorf? Vielleicht ein Schubertlied, einen Brahms und einen Strauß«, schlug Professor Lange vor. Fräulein Neudorf begann mit dem Heideröslein. Sie hatte wirklich eine Riesenstimme. In dem Bemühen, die andern auszustechen, forcierte sie dieselbe etwas. Die Zartheit des Liedes wurde von ihr vollständig erdrückt.
»Ich danke«, sagte Professor Lange, der sich Notizen machte, als sie geendet. »Wir sprechen morgen in der Stunde darüber. Fräulein Hartenstein, bitte, singen Sie uns dasselbe Lied.«
Fräulein Neudorf, die zu Brahms übergehen wollte, mußte abtreten. Ursel Hartenstein stieg mit der ihr eigenen Unbefangenheit auf das Podium.
»Sah ein Knab' ein Röslein stehn – – –«. Zart, schlicht und innig klang die Weise. Lange nicht so voll wie Fräulein Neudorfs Stimme. Aber von einem so süßen Schmelz, daß jeder den Duft des Heiderösleins zu spüren glaubte. »Röslein – Röslein – Röslein rot – Röslein auf der Heiden.«
Stille herrschte, als Ursel geendet hatte. Ein jeder fühlte sich ergriffen. Professor Lange hatte vergessen, sich Notizen zu machen. »Ich danke, Fräulein Hartenstein«, sagte der alte Professor und nickte Ursel freundlich zu. »Bitte, Fräulein Binder.«
Fräulein Binder hatte sich für die Azuzenaarie aus dem »Troubadour« entschlossen. »Lodernde Flammen« schlugen über die Zuhörer zusammen. Aber es waren keine ganz reinen Flammen. Die Altistin sang vor Aufregung etwas unrein. Professor Lange machte häufig Anmerkungen in seinem Büchlein. Noch zwei Sängerinnen traten vor. Die eine sang den Lindenbaum, die andere Brahms »Vergebliches Ständchen«. Der Lindenbaum wackelte etwas in der Höhe. Bei dem Ständchen fehlte das Neckische, da Angst und Erregung der Sängerin die Kehle zupreßte.
»Fräulein Hartenstein, bitte wollen Sie uns noch einmal das Ständchen bringen.«
Fräulein Neudorf, die erwartet hatte, daß die Reihe nun wieder an sie kam, warf der auf Professor Langes Wunsch vortretenden, jüngeren Mitschülerin einen wütenden Blick zu. So ein Grasaffe! Wagte es neben einer fertigen Sängerin, wie sie es doch beinahe war, sich hören zu lassen.
»Guten Abend, mein Schatz, guten Abend, mein Kind –.« Mutwillig, übermütig und neckend erklang es. Ursels Naturell kam darin zwanglos zum Ausdruck.
Als sie geendet, trat Professor Bock, der bisher stiller Zuhörer gewesen, zu seinem Kollegen und sprach leise mit ihm. Professor Lange nickte zustimmend.
»Was wollen Sie noch singen, Fräulein Hartenstein?«
»Was Sie wünschen, Herr Professor.«
»So singen Sie das Straußsche Wiegenlied, zwei Schubertlieder und vielleicht noch ›Ich liebe dich, so wie du mich‹ von Beethoven, das wir erst kürzlich studiert haben. Das genügt.«
»Ich werde zuerst das Wiegenlied singen«, wandte sich Ursel an den Pianisten, der begleitete.
»Für heute genug, Fräulein Hartenstein.« Professor Lange winkte ab. »Ich meinte zum Meisterkonzert am neunzehnten. Bis dahin müssen wir die Sachen noch fleißig durcharbeiten. Denn daß Fräulein Hartenstein am geeignetsten ist, in dem Konzert zu singen, steht wohl außer Zweifel. Soviel musikalisches Empfinden und Urteil haben Sie alle selbst.«
Gedämpftes Gemurmel erhob sich im Saal. Meist beifällig. Aber es waren doch auch ablehnende Stimmen darunter, die es unerhört fanden, daß ein solches grünes Ding erfahrenen Sängerinnen vorgezogen wurde. Fräulein Neudorf selbst war geradezu erschlagen. Gift und Galle war sie. Eine solche Schmach, solch eine ungerechte Zurücksetzung ihr!
Ursel, der Mittelpunkt all dieser geteilten Empfindungen, hatte sich im ersten Augenblick am Flügel festhalten müssen. Nicht etwa, weil es ihr schwarz vor Augen wurde, nein – weil sie sonst unfehlbar einen Luftsprung vor Glückseligkeit gemacht hätte. Aber da das Podium für derartige Gefühlsäußerung doch nicht der geeignete Ort ist, und man sie sowieso schon in der Chorstunde als Baby behandelte, stand Ursel, so schwer es ihr wurde, doch lieber von ihrem Vorhaben ab.
Mit glänzenden Augen wandte sie sich an ihren alten Lehrer. »Ich soll singen, Herr Professor? Wirklich ich? Oh, ich will so schön singen, grenzenlose Mühe will ich mir geben. Ich werde Ihnen ganz gewiß keine Schande machen«, versprach Ursel in ihrem Übermaß von Seligkeit.
Die beiden Herren lächelten über die naive Freude und rührende Kindlichkeit des jungen Mädchens. »Singen Sie nur so, wie Sie heute gesungen haben, Fräulein Hartenstein. Schlicht und natürlich, dabei kommt Ihre Stimme am meisten zur Geltung. So, Kollege, wenn Sie in Ihrer Chorstunde fortfahren wollen – ich bin fertig.« Professor Lange empfahl sich und der Taktstock Professor Bocks durchsauste aufs neue die Luft.
Wer hatte jetzt noch Aufmerksamkeit für die Matthäuspassion. Professor Bock mußte soundso oft abklopfen, er war heute recht unzufrieden mit seinem Chor. Die Solisten, wenigstens die weiblichen, klangen matt, Fräulein Neudorfs Stimme wutheiser. »O Golgatha – unselig Golgatha – – –.« Nicht einmal die tiefergreifende Weise vermochte ihren Grimm zu besänftigen.
Ursels Stimme jubilierte heute wie eine Lerche. Man hörte sie aus all den Stimmen heraus. Gab es einen glücklicheren Menschen auf Erden als sie? Im Konzert – in einem richtigen Konzert vor fremdem Publikum sollte sie auftreten – da war er, der Weg zum Ruhm, lorbeerumsäumt. Wenn es auch noch kein eigenes Konzert war, es war doch der erste Schritt in die Öffentlichkeit. Und im neuen Jahr würde sie in die Opernabteilung eintreten, sicher würde man sie dort aufnehmen, wenn man sie für das Konzert gewählt hatte. Dann ging es aufwärts – Sprosse auf Sprosse hinauf auf der Leiter der Berühmtheit. O Gott, was würden die Eltern bloß sagen. Nun mußte Vater es einsehen, daß sie an der Bank nicht am richtigen Platz gewesen, daß sie zur Sängerin auserkoren war. Und Muzi, ihre kleine Muzi. Wie würde die sich mit ihr freuen. Gleich nach der Hochschule mußte sie zur Großmutter mit heranspringen, denn Milton – Milton mußte es zuerst erfahren, ihr unsagbares Glück.
»Sechsachtelpause – wer hat denn da wieder falsch eingesetzt –!« Wütend klopfte der Taktstock auf das Dirigentenpult. »Nehmen Sie sich doch eine Brille, wenn Sie nicht sehen können –« Ursel verkroch sich erschreckt hinter ihren Vordermann. Wer sollte auch Sechsachtelpausen zählen, wenn er gerade im Begriff war, die Leiter des Ruhmes zu erklimmen.
Jeder atmete heute auf, als die Chorstunde zu Ende war. Der Dirigent nicht am wenigsten.
Um Ursel scharten sich Damen und Herren und beglückwünschten sie neidlos zu ihrem fabelhaften Erfolg. »Lange ist wenigstens gerecht. Er nimmt keine falschen Rücksichten auf das Alter einer Schülerin. Die Neudorf hat ja entsetzlich tremuliert, und die Binder singt sonst auch besser. Ich habe gleich gesagt, die kleine Hartenstein macht's – aber Schwein hat es doch, das Hartensteinchen«, so gingen die Stimmen der Hochschüler hin und her.
Fräulein Neudorf rauschte mit ihrem Stab, einem Gefolge von einigen älteren Schülerinnen, die gleich ihr über die unerhörte Zurücksetzung empört waren, an Ursel vorüber und tat, als ob sie Luft für sie wäre. Da streckte ihr Ursel mit der ihr eigenen liebenswürdigen Unbefangenheit die Hand entgegen. »Bitte, bitte, Neudorf, seien Sie mir doch nicht böse. Ich kann doch nichts dafür, daß ich singen soll. Und ich finde ja auch, daß Sie eine viel größere Stimme haben als ich – – –« Ursel sprach in die Luft. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, war die beleidigte Konkurrentin an ihr vorüber.
»Na, denn nicht!« sagte Ursel mit Nachdruck.
»Nehmen Sie sich die Abweisung nicht zu Herzen, Hartensteinchen. Neudorf ist immer so eingebildet. Die kalte Dusche ist ihr ganz gesund«, meinte eine Mitschülerin.
Oh, Ursel nahm sich heute ganz gewiß nichts zu Herzen, denn da drin blühten lauter Rosen, während draußen doch erster Schnee still und lautlos herniedersank.
Die Kuppel der Hochschule sah aus wie aus schlohweißem Marmor, und das griechische Tempelportal war mit lichtem Flockenhermelin verbrämt. Lustig wirbelten die Silbersternchen herab, hingen sich an Ursels Goldhaar und tanzten ihr übermütig auf der Nase herum. Weihnachtswetter. In vierzehn Tagen war Weihnachten und am 19. Dezember, kurz vorher, da war der große Tag für Ursel. Hurra!
Das großelterliche Haus in der Knesebeckstraße lag verschlafen in weichen Schneefedern. Ursel stürmte die Treppen hinaus, immer zwei Stufen auf einmal. Oben läutete sie Sturm.
»Herreje,« sagte die mit Gemütsruhe angeschlurft kommende Hanne, »biste denn janz und jar von Jott verlassen, Urselchen, so'n Spektakel zu machen.«
»Tag, Hanne – ist Milton Tavares zu Hause?«
»Du meinst woll Omaman« – verbesserte Hanne grimmig. »Jeh man rein bei ihr. Ob deine Schwarzen zu Hause sind, interessiert mir nich.« Bumms – da warf sie die Tür, die vom Vorderkorridor in ihr Reich führte, vor Ärger zu.
Ursel zögerte nur sekundenlang. Natürlich mußte sie zur Großmama. Sie hätte nur so brennend gern Milton Tavares die große Neuigkeit als erstem erzählt.
Da wurde bereits die Tür der Tavares aufgerissen. Milton hatte ihre Stimme erkannt.
»Oh, das ist gutt – serr gutt das.« Er griff erfreut nach ihren Händen. »Ich sitze in Zimmer und denke an blondes liebes Mädchen, da ich höre ihr Stimme. Bitte geben Sie nasse Mütz.« Er nahm ihr die schneebestreuten Sachen ab.
»Ich habe nicht lange Zeit, Milton.« Seit dem Novembertage, da sie miteinander »verknurrt« gewesen, nannten sie sich stillschweigend beim Vornamen. »Nur erzählen muß ich es Ihnen, daß ich der glücklichste Mensch auf der Erde bin.«
»Warrum glücklichste Mensch auf Errde?« fragte er, ein wenig mißtrauisch.
»Von allen Hochschülerinnen hat Professor Lange mich auserkoren, am neunzehnten im Meisterkonzert öffentlich aufzutreten. Das erste Konzert, Milton – nun werde ich bald eine berühmte Sängerin. Was sagen Sie bloß dazu?« Ursels Worte überstürzten sich.
Aber der Widerhall ihrer Freude, den sie erwartet, blieb aus. Der Brasilianer zupfte stumm an seinem Schlips, ein Zeichen, daß ihn etwas stark erregte.
»Nanu, Milton? Freuen Sie sich denn gar nicht, daß Ihre Freundin nun bald berühmt sein wird? Und wenn ich erst an die Oper darf – wenn ich den ersten Lorbeerkranz bekommen werde –«
»Nicht berrühmt – nicht Oper – nicht Lorbeerkranz. Deutsche Mädchen tragt Krranz von Myrrten«, sagte er voll Lebhaftigkeit. »Urrsel, liebe, liebe Urrsel muß haben Krranz von Myrrten.« Wieder griff er nach ihren Händen.
»Ich denke ja gar nicht dran«, lachte Ursel lustig, um das Gefühl der Beklemmung, das ihr plötzlich das Herz einengte, nicht aufkommen zu lassen. »Erst kommt der Lorbeerkranz – zu einem Myrtenkranz habe ich noch lange, lange Zeit.« Es klang doch nicht ganz so keck wie sonst.
»Nicht Zeit – gar nicht Zeit lange. Vater schreibt aus S. Paulo, ist nicht gesund, Kinder sollen kommen heim, Sohn muß helfen ihm in Kaffee-Export, oh, ein serr, serr großes Export!« Er zog ihre Hände, die plötzlich eiskalt waren, an sein Herz. »Urrsel – liebe, liebe Urrsel, wenn Frrühling kommt, ich muß forrt auf grroße Schiff und Schwester Marga auch.« Der Blick seiner tiefschwarzen Augen war feucht geworden.
»Fort –«, wiederholte Ursel tonlos. »Fort?« Die Rosen, die noch vor kurzem in ihrem Herzen geblüht hatten, schienen plötzlich verdorrt. »Milton, das ist ja gar nicht möglich!« Ihre Hände zitterten in den seinen, sie flatterten wie gefangene Vögelchen. Gar keine Mühe gab sich die Ursel, den jähen Schmerz, der sie durchzuckte, vor dem Freunde zu verbergen.
Als Milton sah, daß auch in den sonst so übermütigen Blauaugen Tränen standen, preßte er feurig seine Lippen auf Ursels Hände.
»Nicht weinen – oh, nicht weinen wegen mir. Ich fahrre nicht forrt ohne Urrsel, ohne meine Urrsel – – –.«
»Na, nu sag' mal, Urselchen, jehste nu heute noch bei deine Frau Omaman oder jehste nich – – –!« Der heiße Gefühlsüberschwang des Brasilianers wurde durch die alte Hanne etwas ernüchtert. Sie mußte doch mal sehen, wo die Ursel steckte. Sie sorgte für Sitte und Moral im Braunschen Hause schon bald ein halbes Jahrhundert. Keiner von den beiden hatte in der Erregung Hannes schlurfende Schritte vernommen, bis sie plötzlich dicht vor ihnen stand. Der treuen Alten war es nicht viel anders zumute als Ursel selbst. Eiskalt hatte es ihr an das Herz gegriffen, als sie sah, daß der Brasilianer ihrem Kinde die Hände küßte. So fing es bei den Gebildeten immer an. Und was hatte er da von »meine Ursel« gesagt? Solche ruppige Unverschämtheit! Ach, sie hatte es ja von Anfang an geahnt, daß für das Kindchen, das Urselchen, im Leben nichts Gutes dabei rauskam, wenn sie sich mit den beiden »Schwarzen« einließ.
Energisch öffnete Hanne die Tür zum Wohnzimmer, daß helles Licht in den dämmerigen Korridor hinausflutete. Ganz blaß sah es aus, das Kind!
»Jeh man rein, Urselchen.« Hannes Empörung verwandelte sich plötzlich in Mitleid. »Omamachen is drinne und freut sich auf dir.« Sie schob Ursel energisch vor sich her in das Zimmer hinein.
So – dem Techtelmechtel da draußen im Korridor hätte sie glücklich ein Ende gemacht.
»Ei, mein Urselchen, das ist aber eine freudige Überraschung. Heute war ich ja gar nicht auf deinen lieben Besuch vorbereitet«, empfing sie die Omama, die in ihrem Lehnstuhl mit einem Strickzeug saß und in das Schneetreiben hinausblickte, erfreut.
Ursel mußte sich zusammenreißen, um die Großmama so herzlich wie sonst zu begrüßen. In ihr war alles in Aufruhr. Mit ihrem impulsiven Empfinden fühlte sie das in Aussicht stehende Fortgehen des Freundes als einen Schmerz, so namenlos, so weh – daß sie gar keinen andern Gedanken zu fassen vermochte. Denn was er sonst noch gesagt hatte, das war ja unmöglich – ganz undenkbar.
Die alten Augen hatten über die Brille hinweg schon verschiedene Male prüfend die stille Enkelin gestreift. Was war mit dem Kinde?
»Nun, Urselchen, wie ist es dir heute in der Hochschule ergangen?« sondierte die Großmama das Terrain. Hatte Ursel dort Unannehmlichkeiten gehabt?
»Ach, Omamachen –!« Ursels Gedanken mußten sich aus Brasilien, wohin sie entschlüpft waren, erst wieder zurücktasten – die Hochschule – ja, war das denn wirklich noch keine halbe Stunde her, daß sie sich als glücklichster Mensch der ganzen Welt erschienen?
»Professor Lange hat mich heute dazu auserwählt, im nächsten Meisterkonzert – am 19. Dezember findet es statt – für eine Sängerin, die abgesagt hat, einzuspringen. Ich soll zum erstenmal öffentlich singen, Omamachen. Ihr müßt alle kommen, Hanne auch.« Der freudige Stolz meldete sich nun doch wieder. Aber der Jubel, diese jubelnde Glückseligkeit, die sie vorher durchpulst hatte, die war tot.
»Ei, der Tausend, Herzchen, das ist aber eine große Auszeichnung!« Die Großmama streichelte ihrem Liebling die Wange. Also darum war das Kind so still und in sich gekehrt. Das Konzert ging ihr im Kopf herum. Vielleicht schon Lampenfieber. »Das ist eine große Freude für mich, daß ich's noch erleben darf, dich als Sängerin auf dem Konzertpodium auftreten zu sehen. Es ist hübsch von dir, mein Urselchen, daß du gleich mit der frohen Botschaft zu deiner alten Omama kommst. Du weißt schon, wer sich am meisten mit dir freut.«
Ursel wurde rot bis an das Goldhaar. Sie schämte sich heimlich vor der Gütigen, daß sie in erster Reihe an einen ganz andern gedacht hatte. An einen, der ihre Freude nicht mal geteilt, ja, dieselbe sogar beinahe zertreten hatte. Aber sie wollte sich das, was sie noch vor kurzem so glücklich gemacht, nicht zerstören lassen. Nein! Ursels Trotz versuchte des Wehs, das ihr immer noch ins Herz stach, Herr zu werden.
»Hast du denn auch ein Konzertkleid, mein Urselchen?« erkundigte sich die alte Dame, um Ursel von dem mutmaßlichen Lampenfieber abzulenken.
»Ein Kleid?« – Richtig, ein Kleid gehörte ja auch dazu. Daran hatte die junge Sängerin noch nicht gedacht. »Mein rosa Kleid von Vronlis Hochzeit ist nicht mehr sehr schön. Ich habe es schon als Sommerkleid mit getragen.«
»Nu«, da wird der Weihnachtsmann wohl im voraus ein neues bringen müssen, was, Urselchen?« meinte die alte Dame lächelnd.
»Ach, Omamachen –!« Ursel schmiegte den Blondkopf zärtlich dankbar an die Großmama. Sie fühlte sich so geborgen an diesem stillen Platz, behütet vor all dem Unruhigen, was von draußen auf sie eindrang. Und das sollte sie aufgeben, dieses Sichgeborgenfühlen? Nicht nur hier am Herzen der Großmutter, nein, viel mehr noch daheim bei ihrer besten Freundin. Muzi – ihre kleine Muzi würde helfen, ihr aus dem Labyrinth der widerstreitenden Empfindungen herauszuhelfen. Dort war ihre Heimat. Nicht im fernen Lande bei dem fremden Menschen, der diese unerklärliche Unruhe über sie brachte, der sie herausreißen wollte aus ihrem Heimatsboden, aus ihrem künstlerischen Streben. Ihrer Kunst gehörte sie – keinem andern.
Ursel hob energisch den Blondkopf. Sie war in ihrer raschen Art fertig mit ihren Überlegungen – fertig auch mit Milton Tavares.
»Also, was meinst du zu einem mattblauen Seidenkleid, Urselchen, das müßte dir doch gut stehen? Deine Mutter hat früher mit Vorliebe hellblau getragen«, überlegte die Großmama.
Ursel fuhr sich über die Stirn. Die Gedanken wollten sich doch nicht so schnell scheuchen lassen, wie man es ihnen befahl. Hatte Milton neulich nicht gesagt, mattlila sei die geeignetste Farbe für sie, für den Goldton ihrer Haare? Aber was ging sie denn Milton noch an?
»Hellblau ist so altmodisch, Omamachen. Mattlila steht mir sicher besser – falls du den Weihnachtsmann sprechen solltest.« Da hatte sie doch gerade das Gegenteil von dem gesagt, was sie soeben gedacht.
Es war Zeit, heimzukehren. Dort würde sie sich zu größerer Klarheit, zur völligen Unabhängigkeit von einem fremden Willen durchringen. Hier in diesen Räumen empfand sie Miltons Nähe. Sie fühlte sein intensives Denken an sie durch die trennende Tür hindurch, konnte sich von dem Ring der Zusammengehörigkeit, den er um sie schmiedete, nicht gänzlich lösen.
O Gott, da trat er selbst durch die bewußte trennende Tür. Die Tavares waren wie Kinder im Haus. Sie hatten zu Frau Doktors Wohnzimmer stets Zutritt.
Er sah, wie Ursel bei seinem Eintritt zusammenzuckte.
»Habe ich geschreckt, Urrsel?« fragte er teilnehmend. »Ist es erlaubt, Frau Doktor?« Er zog sich mit liebenswürdiger Selbstverständlichkeit einen Stuhl zu den beiden Damen.
»Kommen Sie nur, lieber Milton.« Auch die alte Frau Doktor nannte die beiden Ausländer auf deren Bitte beim Vornamen. »Wo steckt denn unsere Marga?«
»Marga ist gegangen zu Hutmacher, wird kommen bald.«
Ursel fiel es erst jetzt ein, daß sie die Freundin überhaupt noch nicht vermißt, daß sie bisher nur an Miltons Fortgehen aus Deutschland gedacht hatte.
»Deutsches Schnee«, sagte der Brasilianer, in das weiße Flockengetriebe hinausweisend. »Hu – ist kalt. Sonne in Brasilien warm auch in Winter, serr warm, serr schön, oh, moito bonito. Weiße Haus mit Marmor, wie deutsche Schloß, und Garten an Haus, viel mehr schön als deutsches Garten. Palmen, grroße Palmen, Blätter wie Dach. Apfelsinen-, Bananen-, Pfirsich- und Feigenbäume mit Früchte, so grroß. Und Blumen, herrliche Blumen, kann liebe Urrsel sich schmücken Goldhaar.«
»Was gehen mich denn Ihre Blumen in Brasilien an?« begehrte Ursel in deutlicher Abweisung auf.
»Nun, Urselchen, wenn du deine Freunde mal in Brasilien besuchst – vielleicht per Luftschiff. Bei unserer vorgeschrittenen Technik ist ja nichts mehr unmöglich«, lachte Frau Doktor Braun harmlos.
Milton schaute Ursel stumm an. Stumm, und doch beredt. Unbequem, ja geradezu peinigend war der Blick seiner dunklen Augen. Ach, und doch so süß, so lockend. Und was er da von Brasilien erzählt hatte, das hatte sie wie ein süßes Gift berauscht. Schön mußte es sein in dem weißen Marmorhaus. Wenn sie mit ihm unter den Palmen, Apfelsinen- und Bananenbäumen wandern würde – – – – – nein, nein, und nochmals nein! Sie mußte sich freimachen von dem Zauber, den seine Gegenwart auf sie ausübte.
Brüsk erhob sie sich. »Ich will heim, Omama. Vater und Mutti sollen sich mit mir freuen über meinen ersten Schritt auf dem Wege des Ruhmes. Zum Januar gehe ich zur Opernlaufbahn über. Und wenn ich erst auf der Bühne mein erstes Debüt feiern werde – wäre es nur schon so weit!«
So, nun wußte Milton Tavares Bescheid. Nun hatte sie es ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß nicht die Wunderblumen Brasiliens sie lockten, sondern der Lorbeer im Lande der Kunst.