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Am nächsten Tage waren Studienrat Königs bereits ganz daheim im Rosenhäusel, als ob sie nie in einem vierstöckigen Stadthause in Breslau gelebt hätten. Sie hatten Freundschaft geschlossen mit der Großmuttel und der Katze am Küchenherd, mit Mohrle, der Ziege und den Hühnern; vor allem aber mit den Kindern des Hauses. Gerda und Lilli König, die eine vierzehnjährig, die andere zwei Jahre jünger, waren glücklich, in Bärbel eine Altersgenossin gefunden zu haben. Karl war für alle dummen Streiche glänzend zu gebrauchen. Friedel war lieb und dankbar, wenn die Großen sie mitnahmen. Am niedlichsten aber war Klein-Fritzel. Der kugelrunde Flachskopf, der so zutraulich von einem Schoß zum andern wanderte und so drollig in seinem schlesischen Dialekt radebrechte, war bald der Verzug von allen. Wenn Königs unter dem Apfelbaum ihre Frühstücks- oder Abendmahlzeit einnahmen, war es ganz selbstverständlich, daß auf der einen Seite der schwarze Mohrle schönmachte, auf der andern der blonde Fritzel in die dicken Patschhändchen klatschte. Beide, Kind und Hund, hatten dasselbe Ziel: ein Stückchen Zucker war der Gipfelpunkt ihrer Wünsche.
Was waren das für wonnige Tage zwischen Rosen, frischem Heu, meckernden Ziegen, Hühnergegacker und Kinderjauchzen. Die Städter erholten sich nicht nur äußerlich, auch innerlich ging ihnen das Herz weit auf in dieser schönen Natur unter den schlichten, lieben Menschen. Die Stadtkinder kannten nichts Schöneres, als beim Heuen auf der Wiese zu helfen, die Ziege und die Hühner zu füttern. Und gab es wirklich mal einen Regentag, dann waren sie nicht aus der Küche herauszubekommen, wo die alte Großmuttel so schnurrige Rübezahlmärchen zu erzählen wußte. Ja, bei einem heftigen Gewitter schaute die kleine Lilli trotz ihrer zwölf Jahre mit ängstlichen Augen drein, ob der Herr des Riesengebirges auch nicht in Blitz und Donner aus den schwarzen Wolken, welche die Berge rings verschluckt hatten, in das sturmgepeitschte Tal herabgesaust käme.
Da waren die Sonnentage doch viel schöner. Wie eine goldene Kette reihten sie sich aneinander. »Solch eine gute Sonne wie hier in Wolfshau gibt's nirgendswoanders«, pflegte Frau König voller Befriedigung zu versichern, wenn sie in ihrem Liegestuhl auf der Wiese ruhte, zur Koppe hinauf- und zum Birkenwäldchen hinabblinzelte, dem Rauschen der Lomnitz, dem Schmettern des Rotkehlchens und dem Summen der Insekten lauschte. Oft aber hatte sie noch Schöneres zu hören. Wenn Bärbel die Wäsche, welche die Mutter gewaschen hatte, auf die Bleiche spreitete, dann sang sie heller als all die Vögel ringsum.
»Ihre Bärbel hat einen wahren Schatz in der Kehle«, sagte Frau König so manches Mal zu Bärbels Mutter.
»Nu, jo jo, nee nee, fier den Schatz kann man sich nur nischte nich kaufen«, gab Frau Kleinert lachend zurück, »es ist halt nur a gutte Zugabe fiers Läben.«
Abends, wenn Vater Kleinert von der Arbeit heimgekehrt war und seine Rübezahlpfeife in Brand gesetzt hatte, gab's Konzert unter dem Apfelbaum. Dann spielte er oder Bärbel Zither, und jung und alt, sangen sie ihre schlesischen Lieder dazu. Selbst die Großmuttel fiel mit heiserer Stimme ein:
»Blaue Berge, grüne Täler,
Mitten drin ein Häusel klein,
Herrlich ist dies Stückchen Erde,
Und ich bin ja dort daheim.
Oh, mein liebes Riesengebirge,
Wo die Elbe so heimlich rinnt,
Wo der Rübezahl mit seinen Zwergen
Heut' noch Sagen und Märchen spinnt.
Riesengebirge, deutsches Gebirge,
Meine liebe Heimat du!«
Den Refrain sangen sie dann alle mit, auch die Fremden. Sogar der Leipziger Professor, der ein Sonderling war und stets für sich blieb, steckte den Kopf aus seinem Fenster und lauschte. Am samtdunklen Sternenhimmel lugte der goldene Mond hinter der Koppe hervor und hatte ebenfalls seine Freude daran.
»Jammerschade, daß das Mädel, die Bärbel, nicht in andern Verhältnissen groß wird«, sagte eines Abends nach solch einem ländlichen Konzert Frau König zu ihrem Manne. »Ich bin davon überzeugt, Vati, aus dem Kinde könnte eine bedeutende Sängerin werden.«
»Setz dem Mädel keine Raupen in den Kopf, Mutti«, meinte der Studienrat. Das Königsche Ehepaar nannte sich stets »Mutti« und »Vati«. »Das Mädel ist brav und tut seine Pflicht. Wer weiß, ob es zum Glücke des Kindes wäre.«
»Die Bärbel soll ja überhaupt aufs Töchterlyzeum kommen, will der Krummhübler Lehrer.« Durch die Tür zum Nebenzimmer schaute der blonde Krauskopf Gerdas neugierig herein. »Sie hat's uns neulich bei der Kammwanderung nach der Adolfsbaude anvertraut. Aber ihre Mutter will's nicht zugeben.«
»Die wird schon wissen, was sie tut. Frau Kleinert ist eine brave, verständige Frau, die ihr Kind bescheiden und einfach und nicht über ihre Verhältnisse hinaus erziehen will«, stimmte der Vater zu.
»Aber die Bärbel ist doch so klug«, rief jetzt Lilli, die Zweite, die schon im Bette lag, dazwischen. »Meine französische Grammatik hat sie sich geborgt. In jeder freien Minute lernt sie daraus, beim Ziegenmelken, beim Heuen und beim Pilzesuchen. Ich glaube, sie kann schon ebensoviel wie ich.«
»Und rechnen tut sie auch famos«, stimmte Gerda, die Gymnasiastin, ein. »Und Schillersche Gedichte liest sie, sogar ›Wilhelm Tell‹, ›Maria Stuart‹, die ›Jungfrau‹ und den ›Wallenstein‹ kennt sie.«
»Der Tausend!« Das Interesse des Studienrats war geweckt. »Ein Dorfmädel, das beim Melken Französisch lernt und den ›Wallenstein‹ liest, ist sicher nichts Alltägliches. Wie kommt der Schiller in den Ziegenstall?«
»Der Lehrerssohn, der Hermann Opitz, das ist ihr Freund. Er besucht in Hirschberg das Gymnasium, ist schon in der Prima. Der leiht ihr die Bücher. Aber die Frau Kleinert darf's nicht wissen. Die schimpft über die unnütze Zeitvergeudung«, berichteten die Töchter.
»Hm, da muß ich doch wirklich mal zusehen, ob in der Tat etwas Außergewöhnliches in der Bärbel steckt. Brachliegen lassen darf man eine besondere Begabung auch nicht«, meinte Studienrat König nachdenklich.
»Morgen gehen wir ja alle miteinander auf die Schneekoppe, Vati. Da hast du gleich die beste Gelegenheit, zu hören, was die Bärbel alles kann«, rief Gerda erfreut, daß der Vater sich der Sache anzunehmen schien.
»Aber jetzt in die Federn, Kinder!« machte die Mutter der Unterhaltung ein Ende. »Wir wollen morgen in aller Frühe aufbrechen.« –
Golden schien die Morgensonne ins Wolfshauer Tal, als die Bewohner des Rosenhäusels sich auf die Wanderung machten. Ausnahmsweise hatte die Mutter Bärbel und Karl heute von ihren häuslichen Pflichten beurlaubt. Sie waren stolz darauf, die Führer für die Familie König spielen zu dürfen. Der eigentliche Führer war aber Mohrle, der langhaarige schwarze Köter. Er war stets allen voraus und schien ganz genau zu wissen, daß der Weg über die Kirche Wang zur Prinz-Heinrich-Baude eingeschlagen werden sollte. Man wollte bei dem prächtigen Wetter die Kammwanderung möglichst lange ausdehnen. Karl ließ es sich nicht nehmen, wie ein richtiger Führer den Rucksack mit dem Proviant zu tragen. Bärbel führte das Schwesterchen, das inständig gebeten hatte, zum ersten Male mit auf die Schneekoppe steigen zu dürfen.
An der Kirche Wang, dem norwegischen Holzkirchlein, das malerisch hoch oben am Berghang klebt, wurde die erste Rast gemacht. Von dem kleinen Friedhof mit seinen schlichten Grabmälern und dem üppigen Blumenschmuck genoß man schweigend den herrlichen Rundblick auf die sich im goldenen Morgenlicht breitenden Täler.
»Hier ist halt der Lieblingsplatz von unserm Vatel«, berichtete Bärbel. »Er sagt immer, die Toten hier haben's gutt.«
»Ich finde es aber doch noch besser, mit meinen Augen all die Schönheit unseres Herrgotts schauen zu können«, erwiderte Frau König lächelnd.
Karl winkte den Königschen Töchtern. »Nu, so kummt ooch, ich zeig' euch halt was Feines.« Vor einer kleinen Bretterbude hatte er Posto gefaßt.
»Rübezahls Kunstkabinett« stand darüber zu lesen. Allerlei kunstvoll geschnitzte und bunt bemalte Holzfiguren waren da zu sehen. Da gab es eine Mühle mit dem Müller und dem Esel, eine Tischlerei mit Hobelbank, einen Schuster auf seinem Schemel, der den Pechdraht zog, den Schlächter, der das Schwein gerade schlachten wollte, und noch viele andere Handwerker.
»Wenn und man gibt der Budenfrau zähn Pfennige, dann macht der Riebezahl sie halt alle läbendig«, erklärte Karl pfiffig. Erwartungsvoll blickte er zu dem Studienrat auf. Richtig, der faßte in die Tasche seiner Lederjoppe; und gleich darauf setzte sich die ganze Rübezahlwerkstatt in Bewegung: die Mühle drehte sich, der Müller trieb den Esel an, der Tischler begann zu hobeln, der Schuster seinen Pechdraht zu ziehen und der Schlächter das Schwein zu schlachten. Die Kinder waren begeistert.
»Da hat der Herr Rübezahl in der Tat ein nettes Kunstwerk gemacht«, scherzte Frau König.
Friedel war nicht zum Weitergehen zu bewegen. »Wart ooch, Bärbel, wart ooch noch a bissel! Vielleicht läßt der Herr Riebezahl doch noch amal die Miehle gähn«, bettelte sie.
Erst als die große Schwester ihr bedeutete: »Du, Friedel, der Herr Riebezahl wird bös, wenn du nicht folgen tust«, ließ sie sich weiterziehen. Bald war Rübezahls Kunstwerk über die herrliche Natur im Reiche des Berggeistes vergessen. Horch, wie die Vögel in den goldenen Morgen hinein sangen, wie die dunklen Föhren und die lichten Lärchenbäume im Bergwind rauschten und raunten.
»Des Herrn Riebezahls Musikanten«, sagte Bärbel, auf die unsichtbaren Sänger in grünen Wipfeln weisend.
»Jetze kummen wir halt zu den Dreisteinen«, berichtete der Führer Karl. »Das sind amal mächtige Riesen gewäsen, die dreie, die dem Herrn Riebezahl nicht gehorchen wollten. Da hat er sie alle dreie in große Felssteine verwandelt. Unser Gebirge heißt nach ihnen das ›Riesengebirge‹.«
Klein-Friedel, die munter mit Mohrle umhergesprungen, hielt es jetzt doch für geratener, wieder die Hand der großen Schwester zu fassen. Gar gewaltig, wie drei steinerne Riesen, wälzten sich die drei Steine in den Weg.
»Woher kennt ihr denn all die Rübezahlsagen?« forschte Lilli.
»Halt von der Großmuttel. Die Großmuttel hat sie von ihrer Großmutter gehört und – – –.«
»Und ihr werdet sie wieder euren Enkeln erzählen«, lachte Gerda.
»Es ist erstaunlich«, meinte der Studienrat zu seiner Frau, »wie die Rübezahlsagen hier noch tief im Volke wurzeln. Glaubt ihr denn auch noch an den Berggeist Rübezahl, Kinder?«
»I wo«, lachte Bärbel, »so dumm sind wir nicht mehr.«
»Halt manchmal, wenn's dunkel ist, und wenn's draußen gar so arg stirmen tut, dann fährt der Herr Riebezahl durch sein Reich«, erzählte der jüngere Karl. Unwillkürlich dämpfte er trotz hellem Sonnenlicht seine laute Jungenstimme.
Kleiner wurden die Bergtannen, die hohen Fichten; immer kleiner, je höher man emporstieg. »Jetzt kommen wir in das Gebiet des Knieholzes.« Der Studienrat wies auf das schlangenartig wie stacheliges Gewürm am Boden hinkriechende Nadelgehölz.
»Das sind halt Kieferlatschen. Daraus macht die Großmuttel eine gute Einreibe gegen das Reißen im Bein«, fiel Bärbel ein.
Der Weg führte zum Großen Teich. Schwarz und unergründlich ruhte er in der Tiefe an jäh abstürzender Bergwand. Hoch droben wie ein Raubritternest schaute die Prinz-Heinrich-Baude zu Tal.
»Das ist das Auge Riebezahls«, sagte Karl, auf den Großen Teich weisend.
»Hu – wie graulich.« Die große Lilli griff unwillkürlich nach Mutters Arm.
Friedel aber hatte das Gesicht in Bärbels geblümtes Dirndlkleid gesteckt. »Ich will's nä sähen, ich mag Riebezahls Auge nä sähen; es schaut mich halt gar so schwarz und beese an«, weinte das Kind angstvoll.
Erst beim Weitergehen, als Bärbel ein Lied anzustimmen begann, um das Schwesterchen auf andere Gedanken zu bringen, beruhigte sich die Kleine.
»Das Wandern ist des Müllers Lust . . .« hell wie eine Lerche jubelte Bärbels Stimme in den wonnigen Tag hinein. Da – ein Echo von der Höhe – – – Bärbel brach ab und lauschte.
»Das muß der Opitz Hermännel sein«, sagte sie. Und wirklich, ihr musikalisches Ohr hatte sich nicht getäuscht. Als man die Prinz-Heinrich-Baude erreichte, da saß auf der Aussichtsbank der Herr Lehrer Opitz und der Hermann. Das herrliche Wetter hatte die beiden ebenfalls auf die Höhen gelockt.
Die Herren, die Kollegen waren, machten sich miteinander bekannt.
»Hast du uns denn da unten am Teich erkennen können, Hermännel?« erkundigte sich Bärbel.
»Gesehen hab' ich dich nicht, aber gehört. Deine Stimme kenne ich unter allen andern heraus«, erwiderte der Junge.
In der Baude war viel Betrieb. Allenthalben Touristen und Wandervögel. Der Zitherspieler griff in die Saiten und stimmte an:
»Wo im schönen Schlesierlande
Rübezahl sein Zepter schwingt,
Wo auf schroffem Felsenrande
Freundlich manche Baude winkt,
Wo Habmichlieb und Enzian blühn,
Dahin, dahin möcht' ich ziehn.«
Die Baudengäste fielen in den Sang ein, soweit ihnen das Lied bekannt war. Aber plötzlich verstummte eine Stimme nach der andern – nur eine Mädchenstimme blieb übrig, die unbefangen den Vers mit anstimmte:
»Wo der Koppe Zinnen ragen
In die Lüfte stolz und kühn,
Wo sich flücht'ge Wolken jagen
Eilend an den Felsen hin,
Wo Habmichlieb und Enzian blühn,
Dahin, dahin möcht' ich ziehn.«
Lauter Applaus lohnte das schlesische Berglied. Alles klatschte. Der Zitherspieler verbeugte sich dankend und machte mit seinem Sammelteller die Runde.
Hermann Opitz stieß die neben ihm sitzende Bärbel an. »Du, Bärbel, der Beifall galt dir und nicht dem Zitherspieler. Du hast tausendmal besser gesungen als er. Sieh nur, die Leute gucken alle auf dich«, machte er sie aufmerksam.
Erschreckt blickte Bärbel von ihrer Erbssuppe, die der Studienrat zu den mitgenommenen Stullen bestellt hatte und die sie voller Andacht löffelte, auf. Wirklich, aller Augen waren auf ihren Tisch gerichtet. Verlegen senkte Bärbel den dunklen Kopf wieder auf ihren Teller. Als der Zitherspieler wieder ein neues Lied anstimmte, war sie nicht mehr zum Mitsingen zu bewegen. Diesmal blieb das Beifallklatschen aus.
Nach kurzer Rast trat man wieder hinaus in den goldenen Sonnenschein. Die beiden Kollegen Herr König und Herr Opitz hatten durch gemeinsame Interessen Gefallen aneinander gefunden. Gern kam der Krummhübler Lehrer der Aufforderung nach, sich mit seinem Sohn auf der Weiterwanderung anzuschließen. Trotzdem die Sonne schon bald im Mittag stand, ging die Luft frisch und kühl. Auf den grünen Matten schritt man wie auf Samtteppichen.
»Hier oben wandert es sich noch einmal so leicht«, meinte Frau König.
»Dafür sind wir auch in einer Höhe von mehr als vierzehnhundert Meter«, erwiderte ihr Mann. »Also Herr Führer, wohin geht es nun?« wandte er sich scherzend an den mit bedeutend leichter gewordenem Rucksack herumtollenden Karl.
»Halt uff a Koppe.«
Die Königschen Mädel begannen das Lied, das sie soeben in der Baude gehört hatten, zu trällern. »Wo der Koppe Zinnen ragen, dahin, dahin möchte ich ziehen.«
»Frei nach Goethe«, lachte die Mutter. »Ihr wißt doch, Kinder, in welchem Goetheschen Gedicht ein ähnlicher Refrain vorkommt?«
»Aber natürlich«, sagte Gerda, die Gymnasiastin, beinahe gekränkt.
Lilli schwieg errötend. Sie wußte es nicht.
»Na, Bärbel, weißt du's?« examinierte Hermann Opitz die jüngere Freundin.
»Nu freilich, halt aus dem Gedicht, wo die Zitronen blühn, und wo halt auch so ein hoher Berg vorkommt wie unsere Schneekoppe«, war die Antwort.
»Ei – ei – die Bärbel kennt sogar Mignon und das Land, wo die Zitronen blühn«, wandte sich der Studienrat belustigt an seinen Wandergenossen Opitz.
»Die Bärbel hat einen gescheiten Kopf und seltenen Bildungsdrang. Sie ist meine beste Schülerin. Leider will die Mutter nichts davon wissen, daß sie das Lyzeum besuchen soll«, berichtete Herr Opitz.
»Und der Vater, wie stellt sich der dazu?« erkundigte sich der Kollege.
»Vater Kleinert ist ein braver und kluger Mann. Von ihm hat Bärbel wohl die Intelligenz geerbt, ebenso wie ihre musikalische Begabung. Er würde seinem Kinde sehr gern einen Weg zur Bildung erschließen.«
»Hm«, machte der Studienrat. »Im allgemeinen halte ich es ja nicht für gut, einen Baum aus seinem Erdreich zu entwurzeln.«
»Aber wenn der Boden besser ist, in den man ihn verpflanzen will? Wenn der Baum daraus neue Säfte, neue Kräfte ziehen kann, um edlere Früchte zu tragen?« wandte der Krummhübler Lehrer ein.
»Sie haben recht, Herr Kollege«, gab der Studienrat nach kurzem Besinnen zur Antwort. »Man darf ein besonders begabtes Kind nicht von größeren Leistungsmöglichkeiten ausschließen. Vielleicht hat meine Frau Einfluß auf Mutter Kleinert.«
»Was hat deine Frau?« erkundigte sich Frau König, interessiert den Kopf wendend. Sie hatte die Gabe, mit den Kindern zu scherzen, die kleine Teichmannbaude, die so still mit ihrem Glockentürmchen am Bergsee träumt, zu bewundern, und dabei noch zu hören, was man hinter ihr sprach.
Als sie vernahm, wovon die Rede gewesen, war sie sogleich Feuer und Flamme. Freilich, sie hatte Einfluß auf Mutter Kleinert, sie wollte versuchen, sie umzustimmen. Bärbel wäre ihr in den wenigen Wochen fast so liebgeworden wie eins der eigenen Kinder. Wie gerne wollte sie diesem lieben Mädel den Lebensweg ebnen helfen.
Merkwürdig – Bärbels Gedanken beschäftigten sich ebenfalls mit dem Töchterlyzeum, trotzdem sie nichts von dem Gespräch der Erwachsenen erlauscht hatte. Die Kinder waren mit Mohrle ein weites Stück voran. Hermann Opitz ging mit Gerda. Die beiden Gymnasiasten tauschten gemeinsame Schulinteressen aus. Lilli pflückte Blumen, Friedel sprang mit dem Hund herum. Karl spähte nach seltenen Steinen aus. Der alte Professor, der bei ihnen im Rosenhäusel wohnte, pflegte ihm dafür einen Zehner zu geben. So war Bärbel ihren Gedanken überlassen. Sie wollte auch soviel lernen wie die Gerda. Natürlich mußte es dem Hermann mehr Spaß machen, mit der klugen Gerda, die so viele Sprachen erlernte und später mal studieren wollte, zu plaudern als mit solchem Dorfgänsel, wie sie eins war. Sie mußte – mußte zu Oktober aufs Lyzeum! Aber wie das anfangen? Wie der Mutter Widerstand besiegen?
Rübezahl! – Dem Kind der schlesischen Berge, das sich vorhin zu groß gedünkt hatte, um noch an die Rübezahlsagen und -märchen zu glauben, kam unwillkürlich der Name des Berggeistes, der so viele Wunder getan, der so manchem aus der Not geholfen, in den Sinn. Vielleicht half Rübezahl wirklich, wenn man nur fest an ihn glaubte. Die Großmutter hatte es oft erzählt.
An der Hampelbaude vorbei führte der Weg jetzt zum Schlesierhaus hinauf. Der Lehrer Opitz wandte sich zu den Kindern, die wie Böcklein bald hierhin, bald dorthin sprangen, und wies auf eine Tafel am Weg. Lachend lasen sie folgenden Vers:
Wanderer, merk dir dies und das,
Geh auf dem Weg und nicht ins Gras.
Damit man leicht und ohne Müh
Dich unterscheiden kann vom Vieh.
Droben am Schlesierhaus machte Karl das Kunststück, mit einem Bein auf deutschem Boden zu sein, mit dem andern auf böhmischem. Die Riesenbaude, die dem Schlesierhaus gegenübersteht, war tschechisch. Allenthalben las man Wegweiser in deutscher und unleserlich tschechischer Sprache. Noch einen Blick hinab in den Riesengrund. Dort drüben war der Brunnenberg, in dem Rübezahl hauste – mit ängstlichen Augen betrachtete die kleine Friedel den großen Berg.
Nun war man am Fuße des Koppenkegels. Nur noch den letzten Zickzackweg hinan, auf dem die Menschen wie kleine schwarze Ameisen hinaufkrabbelten. Aber so einfach war die Sache nicht, wie sie aussah. So leicht machte es Rübezahl dem Wanderer nicht, seinem höchsten Berg den Fuß in den Nacken zu setzen. Da mußte man gehörig den steinernen Zickzack hinaufprusten und schwitzen. Den Gebirgskindern machte es nichts aus, aber die Städter, die das Steigen nicht so gewohnt waren, bekamen Herzklopfen.
»Nicht sprechen beim Steigen«, sagte Herr Opitz zu der jungen Gesellschaft, »das ist die erste Bergregel.«
So – nun war man oben, hoch oben auf der Schneekoppe. Als erster hatte Mohrle das Ziel erreicht. Ein starker Sturm blies hier auf dem Plateau – »tut die Windjacken um, Kinder, Rübezahl pustet einen auf seiner Schneekoppe tüchtig an«, mahnte Frau König, als die leichtsinnige Jugend sich so erhitzt lagern wollte.
Die Koppenhäusel, die Bärbel von ihrem Bett aus so winzig klein erschienen, waren gar stattlich. Ein deutsches und ein tschechisches Gasthaus gab es, die kleine Koppenkapelle und daneben hoch emporragend das Observatorium. »Hier macht Rübezahl das Wetter«, erklärte der Führer Karl.
»Kinder, wenn ihr mit euren Butterschnitten fertig seid, dürft ihr euch auch mal die Aussicht ansehen«, neckte Studienrat König, da die Jugend sich sogleich auf den Rucksack stürzte.
Freilich, der Blick in die weiten Lande hinein war lohnender als alle Schinken- und Käseschnitten. Herrlich, überwältigend schön lagen blühende Täler und Dörfer, Waldgründe und goldene Saatfelder ihnen zu Füßen.
»Krummhübel sieht aus wie aus der Spielzeugschachtel – kann man das Rosenhäusel in Wolfshau erkennen?« erkundigten sich die jungen Mädchen.
»Mit bloßem Auge nicht, aber es gibt ein Fernglas hier oben. An klaren Tagen wie der heutige kann man bis Breslau sehen«, berichtete Hermann Opitz.
Das mußten die Mädel natürlich probieren. Vaters Zeißglas wurde verschmäht. Das lange Fernrohr mußte eingestellt werden. Zuerst aufs Rosenhäusel – »Bärbel, deine Mutter gießt die Wäsche auf der Bleiche«, schrie Gerda begeistert, als ob sie das nicht alle Tage bequemer unten sehen konnte.
»Ach bitte, laß mich halt mal«, bat Bärbel. »Ich seh die Großmuttel, sie streut den Hühnerle Futter –.« Bärbel war nicht minder begeistert. Hermann stellte auf Breslau ein. Aber ob das nun der Zobten bei Breslau war oder das Altvatergebirge, blieb unaufgeklärt. Sogar die Herren Lehrer waren sich darüber nicht einig. Nach Böhmen zu aber hatte Rübezahl inzwischen einen dichten Wolkenschleier vorgezogen.
»Wenn ihr mich noch einmal durchs Fernrohr sehen laßt, sag ich euch halt ganz was Feines«, versprach Karl den Königschen Töchtern.
Die legten ihre Groschen zusammen, denn neugierig waren sie beide. Nachdem sich Karl genugsam am Fernrohr ergötzt hatte, bestürmten ihn die andern: »Nun sag endlich, was du Schönes weißt – nu sag auch, Karle!«
Karl machte ein vielverheißendes Gesicht.
»Die Großmuttel tut sprechen, wenn und man ist uff des Herrn Riebezahls Schnäkoppe und tut hier oben halt einen Wunsch, den erfillt der Herr der Berge.« Halb geheimnisvoll, halb lachend kam es heraus.
»Au – famos – da müssen wir uns alle was wünschen«, rief Gerda lustig. »Ich wünsche mir den nächsten Tennispreis.« Sie war eine tüchtige Spielerin.
»Und ich wünsche mir ein gutes Zeugnis zu Oktober.« Damit sah es bei Lilly nie besonders glänzend aus. »Und du Bärbel?«
»Ich sag nicht, was ich mir wünschen tu«, erwiderte Bärbel und das bräunliche Rot ihrer Wangen vertiefte sich. »Wenn man's sagt, geht's halt nicht in Erfüllung.«
»Bärbel – Bärbele –«, drohte Hermann, »ei wie kann man nur so abergläubisch sein.« Da wurde Bärbel noch röter und schämte sich.
»Ich tu mir vom Riebezahl wünschen, daß er das ganze Gebirge in Schokolade verwandeln täte«, rief Karl, das Leckermaul.
»Eher noch in Zucker«, scherzte Gerda, »aber da mußt du bis zum Winter warten.«
»Und du, Friedel?« fragte man die Kleine.
»Ich tu mir nischte weiter wünschen, als daß der Riebezahl uns auf dem Heimweg nä in Steine verwandelt.« Es war Friedel nicht recht geheuer auf der Schneekoppe, auf die sie sich so gefreut hatte.
Klein-Friedels Rübezahlwunsch ging als erster in Erfüllung. Ohne in Felssteine verwandelt zu werden, langten sie wohlbehalten, wenn auch recht müde, wieder in Wolfshau an.
Ob der Herr Rübezahl die andern Wünsche wohl auch erfüllte?