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Steil fallen die Berghänge zum Kleinen Teich ab. Wie ein heimliches Kleinod liegt er in dem Gebirgskessel verborgen. Graugrüne Samtmatten, von wildem Felsgestein übersät, schmiegen sich um seine Ufer. Alpenrosen, Enzian und Habmichlieb blühen hier.
Traut und anheimelnd, wie aus einer Spielzeugschachtel, grüßt die Teichbaude mit ihrem Glockentürmchen den Wanderer. Die Fenster blank und klar mit blühenden Blumen hinter weißen Gardinen. Die Tische mit den lustig bunten Bauerndecken sind rings auf sonniger Berghalde verstreut. Gescheckte Kühe weiden malerisch dazwischen. Ihr sanftes Glockengeläut vervollkommnet das Idyll. Liegestühle stehen in der Prallsonne, laden zur Rast. Nicht umsonst heißt der Kleine Teich das Kleinod des Herrn Rübezahl.
Hier ist immer Betrieb, ein ständiges Kommen und Gehen. Schulklassen lagern im Grünen, schmausen aus dem Rucksack und lassen sich dazu die frische Milch aus der Wirtschaft munden. Wandervögel und andere Jugendverbände ziehen singend des Weges, rasten begeistert an dem malerischen Punkte. Für die Gäste aus den tiefer gelegenen Sommerfrischen ist der Kleine Teich der beliebteste Ausflugsort. Vorüberwandernde Touristen hemmen den Schritt, legen Wanderstab und Rucksack für ein halbes Stündchen ab und lauschen bei einer Erfrischung den Weisen, die der Tiroler Heini zu seiner Zither singt.
Blitzsaubere Mädel in schwarzen Kleidern mit weißen Rüschenhäubchen und zierlichen Schürzchen eilen unermüdlich von Tisch zu Tisch, schaffen das Gewünschte herbei.
Ein großes, schlankes Mädel, schwarzhaarig und blauäugig, ist der besondere Liebling der Gäste. Bärbel heißt es und ist die anmutigste und freundlichste von allen. Wenn sie das Essen mit hellem »Wohl zu speisen« zierlich serviert, schmeckt es dem Gast noch einmal so gut.
Vier Monate weilte Bärbel nun schon in der Teichbaude. Sie war dort wie ein Kind im Hause. Alle, von den Wirtsleuten an bis zum Hüterbuben, hatten das junge Ding bald ihres lieben, gefälligen Wesens halber ins Herz geschlossen. Nach den schweren Sorgenmonaten drunten im Tal blühte Bärbel hier oben auf wie eine Blume, die plötzlich der warmen Sonne ausgesetzt ist. Sie hatte gar keine Zeit am Tage, an Leid und Sorgen zu denken. Die Gäste verlangten ein freundliches Gesicht, einen heiteren Gruß.
Und des Abends, wenn Bärbel ihre Kammer aufsuchte, die sie mit einer andern Kollegin teilte, war sie so todmüde von dem Herumlaufen, daß sie, ohne noch etwas denken zu können, in gesunden Jugendschlaf fiel. Nicht einmal am Sonntag hatte sie Ruhe. Im Gegenteil, da war der Hauptbetrieb in der Baude. Da kamen die Ausflügler aus allen Richtungen zum Kleinen Teich herauf.
Die Hausgäste, die Pensionäre, welche die großartige Gebirgsgegend im Verein mit der Höhe von fast zwölfhundert Meter zur Teichbaude hinauflockte, mochten die Bärbel besonders gern. Sie hatten es bald heraus, daß die junge Kellnerin kein gewöhnliches Bauernmädel war, daß sie eine gute Schulbildung genossen hatte.
»Kind, es ist schade um Sie, daß Sie hier die Gäste bedienen, anstatt Ihre guten geistigen Fähigkeiten auszunutzen«, hatte ihr schon so mancher gesagt.
Aber Bärbel schüttelte den Kopf mit den jetzt aufgesteckten schwarzen Flechten. »Ich fühle mich hier oben glücklich, ich verlange nichts weiter«, erwiderte sie schlicht.
Verlangte sie wirklich nichts weiter? Glücklich fühlte sie sich hier oben in der schönen Natur. Jeden Morgen empfand das Bärbel aufs neue wieder dankbar. Auch konnte sie schon mehrere Male ihrer Mutter von den reichlichen Trinkgeldern ein nettes Sümmchen schicken. Da auch der Mutter Verdienst jetzt zur Fremdensaison, wo jeder Wäsche waschen ließ, sich gebessert hatte, so durfte Bärbel über ihre Angehörigen beruhigt sein. Dennoch – hin und wieder begehrten niedergezwungene Wünsche, einstige Hoffnungen mit jugendlichem Ungestüm wieder in ihrem Herzen auf; wenn Bärbel den Heini seine Lieder zur Zither singen hörte und bei sich dachte, daß sie es wohl besser machen könne. Des Vaters Zither lag eingepackt droben im Schubfach; Bärbel hatte sie nach dem Tode des Vaters noch nicht wieder zu stimmen vermocht. Oder wenn sie mal an einem freien Nachmittag mit »Stille Stunden«, dem Büchlein von Hermann Opitz, im Lärchenwalde saß, dann kam ihr wohl wieder die Sehnsucht nach Lernen und geistigem Streben. Aber zum Glück war die Zeit so knapp, daß diese Wünsche ebenso schnell wie sie auftauchten, wieder zurücktraten vor der Notwendigkeit der täglichen Pflichten.
Manch freudiges Wiedersehen feierte Bärbel hier oben. Aus Wolfshau und aus Krummhübel kamen öfters mal Bekannte herauf, die ihr Grüße von der Mutter brachten. Ein Festtag war es, als die Geschwister alle drei im Verein mit Mohrle die Bärbel in ihrer neuen Heimat besuchten. Selbst Klein-Fritzel hatte den weiten Weg mit unternommen. Freilich blieb es zweifelhaft, ob die versprochene Schokolade mit Kuchen oder die Sehnsucht nach der großen Schwester ihn hinaufzog. Kinder und Köter rissen die Bärbel vor Wiedersehensfreude beinahe um. Und dann saßen sie nun, die Geschwister, sauber gekleidet, wie die Mutter sie stets hielt, und ließen sich die von Bärbel gespendeten Herrlichkeiten schmecken, während Mohrle seinen Futternapf serviert bekam.
»Du hast es gutt, Bärbel«, ließ sich Karl mit vollem Munde etwas neidisch vernehmen, »in die langweilige Schule brauchste nä mähr zu gähen, und hier kannste alle Tage Schokolade trinken.«
»Dann würde ich wohl kein Geld übrigbehalten, um es der Muttel zu schicken«, meinte Bärbel lachend.
»A neie Joppe kauft mir die Muttel fier a Winter davon, und du sollst halt fleißig auf einen Einsägnungsanzug fier mich sparen«, berichtete Karl.
»Und mir a Paar neie Schuhe, gelt ja?« fiel Friedel bittend ein.
»Und ich wünsch' mer halt zu Weihnachten unser Rosenhäusel wieder, da ist's viel scheener als jetze«, rief Fritzel dazwischen.
Bärbels Freude, daß sie die Geschwister von ihrem selbstverdienten Gelde kleiden helfen konnte, wurde durch die Erinnerung an ihr Rosenhäusel getrübt.
»Wie schaut's denn aus in unserm lieben Häusel, ist ein neuer Pächter drin?« erkundigte sie sich.
»Nu nä, der Bauer aus Seidorf vermietet es selber an die Fremden. Königs aus Breslau wohnen wieder drinne; sie waren halt traurig, daß wir nä mähr die Wirtsleite sind. Und scheene grießen lassen sie dich, und sie wollen dich auch amal besuchen kommen.«
Da rief eine Gesellschaft nach Bärbel. Sie mußte die vielen Fragen, die ihr noch am Herzen lagen, zurückdrängen und ihren Pflichten nachgehen.
Aber eine Woche darauf meldete Bärbels Kollegin der gerade in der Küche Speisen in Empfang nehmenden Bärbel: »Du, Bärbel, da sein Herrschaften, die haben halt nach dir gefragt und wollen sich durchaus nur von dir bedienen lassen. Kumm ooch, Mädel.«
Und als die Bärbel mit dem vollen Tablett hinaustrat, da hätte sie ihre Wiener Schnitzel, ihre Becher Milch und Gläser Bier fast vor freudiger Überraschung fallen lassen – Königs saßen an einem der Sonnentische auf der Wiese und riefen ebenso freudig, wie sie selbst es war: »Bärbel – Bärbel, da bist du ja, Mädel!«
Nicht schnell genug ging heute der Bärbel das Servieren; wenn sie bloß ihr Brett erst leer hätte. Da machte ein Gast auch noch Ausstellungen. Aber schließlich war sie doch fertig und konnte ihre einstigen Rosenhäuselgäste begrüßen. Das gab ein Händeschütteln und Staunen.
»Alle Wetter, Mädel, du bist aber tüchtig in die Höhe geschossen, blühst ja wie eine wilde Rose hier oben«, meinte der Studienrat lächelnd zu dem bildhübschen Mädel.
»Die Fräulein Gerda und die Fräulein Lilli sind halt inzwischen auch junge Damen geworden.« Bärbel wußte noch nicht recht, wie sie sich zu den früheren Spielgefährtinnen stellen sollte.
Die aber lachten sie einfach aus. »Bist du denn nicht gescheit, Bärbel, uns mit ›Fräulein‹ zu titulieren. Wir sind doch alte Freunde.« Und Lilli, die jüngere, fügte hinzu: »Es ist uns recht nahegegangen, daß Ihr nicht mehr im Rosenhäusel wohnt.«
Ein Schatten flog über Bärbels sonnengebräuntes Gesicht. Frau König drückte ihr mütterlich warm die Hände. »Ihr habt Schweres durchgemacht, Kind. Warum habt ihr uns denn gar keine Nachricht zukommen lassen? Wir trauern mit euch um den braven Vater Kleinert.«
Einen Augenblick schwiegen sie alle in stillem Gedenken. Dann schlug Lilli wieder einen munteren Ton an: »Komm, Bärbel, setze dich zu uns, wir haben uns viel zu erzählen.«
»Ja, nimm Platz, Bärbel, wir laden dich zu einer Tasse Kaffee ein«, forderte auch Herr König sie auf.
Bärbel errötete. »Ich habe Pflichten, Herr Studienrat, ich muß zur Hand sein, wenn die Gäste etwas wünschen«, entschuldigte sie sich. Es wurde ihr recht schwer, die freundliche Einladung abzulehnen.
»Pflicht über alles«, bekräftigte der Studienrat, während die jungen Töchter lange Gesichter machten, daß sie so wenig von der Bärbel haben sollten.
Frau König war ins Haus gegangen. Als sie zurückkehrte, winkte sie der kassierenden Bärbel. »Ich habe mit deiner Wirtin gesprochen, sie hat dir ein Freistündchen bewilligt. Jetzt bist du unser lieber Gast, Bärbel.«
»Aber erst bediene ich Sie, das überlasse ich keiner andern.« Eifrig sprang die Bärbel hin und her, um alles Gewünschte herbeizuschaffen. Seit Monaten war ihr nicht so froh ums Herz gewesen wie heute.
»Hättest du uns nur geschrieben, Bärbel«, begann Frau König, nachdem man sich an Kaffee und schlesischem Streuselkuchen gelabt hatte. »Vielleicht hätten sich doch Mittel und Wege finden lassen, daß ihr in eurem Häuschen hättet bleiben können.«
»Oder wenigstens, daß du die Schule durchgemacht hättest, Kind. Du scheinst ja eine ganz tüchtige Kellnerin geworden zu sein, aber schade ist's doch um das Erlernte«, fügte ihr Mann nachdenklich hinzu.
»Der Hermann Opitz sagt, was man gelernt hat, das gehört einem zu eigen, das behält halt allezeit seinen Wert.«
»Da hat der Hermann ganz recht. Aber du könntest mit deinen Fähigkeiten einen anderen Posten einnehmen, Bärbel«, erklärte ihr Frau König.
»Dein Hermännel hat uns in Breslau besucht, Bärbel«, berichtete Gerda.
»Der Hermann? Wie geht es ihm? Ist er gesund, und arbeitet er auch nicht zuviel? Er hat mir erst eine Karte geschrieben«, rief Bärbel lebhaft.
»Nun, besonders sieht er nicht aus«, erzählte Gerda. »Er ißt sicher seine Schnitte nicht auf beiden Seiten geschmiert, wohl noch nicht mal auf einer.«
»Ja, er quält sich sehr, der Hermann, um sein Studium zu ermöglichen«, fiel Lilli ein. »Jede freie Minute arbeitet er in einem Büro, gibt auch Gymnasiasten Nachhilfeunterricht, und dabei studiert er noch fleißig. Der hat sicher keine Zeit zum Schreiben.«
»Ein strebsamer junger Mensch. Er wird sein Ziel schon erreichen«, bestätigte der Studienrat. »Aber nun zu dir, Bärbel. Sag, hättest du nicht Lust, nochmals auf die Schulbank zurückzugehen, um wenigstens die erste Klasse durchzumachen? Ich könnte dir wohl ziemlich sicher an meiner Schule in Breslau eine Freistelle verschaffen, und du hättest dann später die Möglichkeit, eine kaufmännische Lehrstelle anzunehmen.«
Da waren sie plötzlich alle wieder da, die energisch niedergehaltenen Wünsche nach Weiterbildung. Mit einem Schlage erhoben sie wieder ihre Stimme in Bärbels Herzen. Sie schaute auf den Teich hinab, auf dem die Sonnenlichter spielten. Die moosigen Hänge hinauf – dort hinter jenem Berg lag die Seifengrube – dann schüttelte Bärbel entschlossen den Kopf.
»Sie meinen es gut, Herr Studienrat, aber es wäre halt nicht gut. Ich muß jetzt meiner Mutter zur Seite stehen und für die vaterlosen Geschwister sorgen helfen. Ich darf nicht aufhören zu verdienen und am Ende gar noch kosten.«
Frau König, die den deutlichen Kampf in den offenen Zügen des Mädchens wahrgenommen hatte, klopfte ihr anerkennend die blühende Wange. »Du bist ein braves Kind, Bärbel. Dein Vater hätte sicher seine Freude an dir. Überlege dir den Vorschlag meines Mannes in Ruhe. Kosten würden dir nicht dadurch entstehen. Du könntest bei uns in Breslau im Mädchenzimmer schlafen, da wir uns kein Mädchen halten. Und mit durchfüttern würden wir dich auch noch mit unsern zweien«, so sprach die menschenfreundliche Frau.
Bärbel schloß sekundenlang die Augen. Es war zu verlockend, das Bild. Da hörte sie des Studienrats Stimme: »Solche Sache will bedacht sein. Heute und morgen brauchst du dich noch nicht zu entscheiden, Bärbel. Die Mutter muß doch vor allen Dingen befragt werden – –.«
»Die gibt's nicht zu, die Muttel, nimmermehr.« Ordentlich erleichtert war die Bärbel, daß die Entscheidung ihr nicht überlassen blieb. »Ich soll zu einem Einsegnungsanzug für den Karl sparen, die Muttel bringt's nicht allein auf. Da darf ich meine Stelle hier doch nicht verlassen.«
»Du mußt auch an dich denken, Bärbel, was für deine Zukunft von Nutzen ist«, warf die Oberprimanerin Gerda als modern denkendes Mädchen ein.
»Vielleicht kommen wir noch gar in dieselbe Klasse«, frohlockte Lilli. »Zu Ostern werde ich in die erste versetzt.«
»Ist das schon sicher?« neckte der Vater. Denn Lilli ließ es im Gegensatz zu der älteren Schwester an sich herankommen.
Bärbel erhob sich. Die bewilligte Freistunde war um. Sie setzte Teller und Tassen zusammen. Aber mit ihren Gedanken war sie nicht so recht dabei. Aus der Baude klangen Zitherklänge. Da sang der Heini zum Gaudium der Gäste seine Schnadahupfl:
»Zwischen Hirschberg und Schmiedeberg,
Da gibt's 'nen Tunnel
Wenn man 'neinfährt, wird's dunkel,
Und wenn man 'nausfährt, wird's hell.«
Es folgte ein Jodler.
»Was macht denn deine Sangeskunst, Bärbel?« erkundigte sich Frau König. »Singst und spielst du noch fleißig?«
Bärbel schüttelte den Kopf. »Seit der Vatel tot ist, mochte ich nicht mehr zur Zither singen. Ich hab' hier ja auch gar keine Zeit dazu.«
»Das ist aber schade, Bärbel. Ich hatte gehofft, daß du uns mit einem Lied erfreuen würdest«, stimmte ihr Mann bei.
»Ja, ja, Bärbel muß uns das Riesengebirgslied singen«, riefen die Töchter.
»Das geht doch nicht«, wehrte Bärbel ab. »Es sind doch fremde Gäste da.«
»Die hören das hübsche Lied sicher auch gern. Also nur zu, Bärbel.« Ehe das junge Mädchen noch weiter Einspruch erheben konnte, war der Studienrat zum Heini herangetreten.
»Die Bärbel wird uns jetzt mal ein Lied singen. Sie machen wohl ganz gern mal eine Pause und trinken ein Glas Bier zur Erfrischung. Bärbel, ein Glas Bier für den Zitherspieler.«
»Der Tausend, die Bärbel kann auch singen? Ja, warum hat's denn noch nix davon verraten?« verwunderte sich der Heini, während Bärbel des Vaters Zither herbeiholte. Zu einer fremden Zither konnte sie nicht singen. Bald ertönte es glockenklar:
»Blaue Berge, grüne Täler,
Mitten drin ein Häusel klein,
Herrlich ist dies Stückchen Erde
Und ich bin ja dort daheim.«
Die junge Stimme klang plötzlich ein wenig verschleiert. Sie hatte ja kein Häusel mehr, in dem sie daheim war, die Bärbel. Alles lauschte ringsum an den Tischen. Die Gespräche verstummten. Das war eine andere Stimme als die schon ziemlich ausgesungene des Heini.
»O mein liebes Riesengebirge,
Wo die Elbe so heimlich rinnt,
Wo der Rübezahl und seine Zwerge
Heut' noch Sagen und Märchen spinnt.
Riesengebirge, deutsches Gebirge,
Meine liebe Heimat du!«
Bärbel vermochte nicht weiterzusingen. Die Erinnerung an den Vater, dem sie sein Lieblingslied so häufig gesungen, übermannte sie. Lautes Beifallklatschen lohnte der jungen Sängerin. Bis hinauf in die Kammer klang es, wo Bärbel die hervorstürzenden Tränen zu stillen versuchte.
Seit diesem Tage war es um Bärbels innerliche Ruhe geschehen. Immer wieder fragte sie sich, ob sie recht handle, daß sie auf ihrem Posten blieb, ob sie nicht auch gegen sich selber Pflichten hätte. Sie kam zu keinem Resultat, zu keinem Entschluß.
Eines Tages kehrte eine größere Gesellschaft aus Krummhübel in die Teichbaude ein. War das nicht . . . ja natürlich, das war ja die Liebig Marthel, mit der sie zusammen die Schule besucht hatte. Wie eine Dame sah die jetzt aus. Das hinderte Bärbel aber nicht, strahlend auf die einstige Schulkameradin zuzugehen und ihr beide Hände entgegenzustrecken: »Tag, Marthel, wie geht's dir? Das freut mich, daß du uns mal besuchst.«
Martha Liebig schien die dargebotenen Hände nicht zu sehen. Sie musterte Bärbel von oben bis unten und meinte dann möglichst fremd: »Ach richtig, die Kleinert Bärbel, Sie sind ja wohl jetzt hier oben Kellnerin?« Damit wandte sie sich wieder ihrer Gesellschaft zu.
Was – ihre Schulkameradin nannte sie »Sie«, um ihr den gesellschaftlichen Abstand klarzumachen? Bärbel hätte gelacht, wenn ihr nicht etwas im Herzen weh getan hätte. Sie bat ihre Kollegin Anna den Tisch zu übernehmen. Denn die Liebig Marthel, die so dummstolz tat, selbst zu bedienen – nein, das brachte die Bärbel denn doch nicht fertig.
Die Nichtachtung der früheren Schulgefährtin hätte Bärbel fast zu dem Entschlusse geführt, ihre Kellnerinlaufbahn aufzugeben und den Vorschlag des Studienrats anzunehmen, einen mehr auf geistiger Grundlage aufgebauten Beruf zu wählen. Sie stand doch noch im Anfang ihres Lebens und Zurücksetzungen taten weh.
Da erkrankte im Herbst die Mutter. Sie hatte sich wohl zu viel zugemutet. Sie mußte ins Hirschberger Krankenhaus gebracht werden, wo eine Operation sich als notwendig erwies. Wochenlang dauerte das Krankenlager. Und als man die geschwächte Frau endlich entließ, machte ihr der Arzt weitere Schonung zur Pflicht. Damit war für Bärbel die Aussicht auf einen andern Beruf erledigt. Denn jetzt hieß es, jeden Pfennig zusammenkratzen für ihre Familie. Wenn Frau Hensel, bei der sie ein Stübchen bezogen hatten, auch für die Großmutter und die Kinder gesorgt hatte, Hensels hatten allein nichts übrig. Bärbel mußte soviel wie möglich zum Unterhalt beisteuern. Das war jetzt schwierig. Denn nach den Oktoberferien kamen nicht mehr viel Leute ins Gebirge hinauf. Erst Weihnachten begann bei günstigen Schneeverhältnissen wieder der Zuspruch von Skiläufern und Rodlern. Im Tal drunten war Bärbel nur ein einziges Mal gewesen, als die Mutter krank lag. Da hatte sie von weitem gestanden und auf ihr liebes Rosenhäusel, in dem sie nicht mehr daheim war, gestarrt, bis ihr die Augen übergegangen waren.
Zu Weihnachten gab's tüchtig zu tun in der Teichbaude. Der Schnee lag hoch, den Teich deckte eine weiße Eisdecke. Föhren, Bergtannen und Lärchenbäume standen in zartestem Spitzenmuster des Rauhreifs. Von den weißen Höhen herab flogen die Schneeschuhläufer. Jubel und Lachen erklang in dem stillen Bergkessel. In der Teichbaude tanzte man zu den Zitherklängen des Heini. Es herrschte ein ausgelassenes Leben dort wie im Hochsommer.
Bärbel hätte noch ein paar Hände mehr haben können, um jedermanns Wünsche zu befriedigen. Sie schien in allen Räumen der Baude zugleich zu sein. »Unsere tüchtigste Kraft«, nannte sie die Wirtin. Nur wenn die Hörnerschlittler, die Männer mit den großen gelben Stuhlschlitten, erschienen, überließ Bärbel einer andern die Bedienung. Dann brannte die Wunde um den Vater aufs neue.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag stampfte ein Trupp Schneeschuhläufer in die überfüllte Baude. Bärbel sorgte für einen freien Tisch, während sich die jungen Leute aus ihrer Vermummung herausschälten.
»Hermännel!« jubelte sie plötzlich los, als sie in einem jungen Burschen den Freund erkannte. Ja, er war's, der Hermann Opitz. Frisch gerötet von der Winterluft und von der Anstrengung des Schneeschuhsports. Aus seinen Augen lachte die Freude über die gelungene Überraschung.
»Bärbel, Mädel, ich hätte dich ja kaum wiedererkannt, so groß und – – –«, Hermann stockte. Komplimente konnte er nicht machen, am wenigsten der Freundin aus Kindheitstagen gegenüber. Er stellte seine Gefährten, Breslauer Studenten, vor und wollte Bärbel auf einen Stuhl neben sich ziehen.
»So, Bärbel, jetzt erzähle halt, wie es dir geht. Scheinst ja ganz gut hier im Futter zu stehen.«
»Entschuldigen Sie, Herr Opitz, aber ich habe keine Zeit zum Plaudern. Die Gäste warten auf mich«, brachte Bärbel ein wenig verlegen hervor. Wenn ihr auch in der Wiedersehensfreude die gewohnte Anrede entschlüpft war, nach ihren Erfahrungen mit der Martha Liebig durfte sie den jungen Studenten nicht mit dem vertrauten »Du« anreden. Er war der Gast, sie die Kellnerin.
»Was wünschen die Herren? Milch, Kaffee, Skiwasser oder Bier gefällig?«
»Ich wünsche, daß du den Unsinn läßt, Bärbel, und mich hier nicht wie einen fremden Herrn behandelst«, legte da der junge Mediziner ärgerlich los. »Hast du denn deinen Freund Hermann ganz und gar vergessen?«
Bärbel schüttelte errötend den Kopf. »Ich glaubte, es wäre dem Herrn Studenten vielleicht nicht recht, weil ich doch nur – –.«
»Ja, Bärbel, bist du denn ganz und gar übergeschnappt? Mädel, warst doch sonst immer die verständigste von allen. Bring uns Bier und setz dich zu uns.«
»Das geht leider nicht, Hermann. Die Gäste rufen schon von allen Seiten nach mir. Gerade heute am Feiertag ist solch starker Betrieb.« Bärbel eilte davon.
Hermann sah ihr mit gerunzelten Brauen nach. Damals nach dem Tode ihres Vaters hatte er sie getröstet, daß auch der Kellnerinberuf ehrenwert sei, wenn man nur seine Pflicht erfülle. Aber jetzt war es ihm nicht recht, daß sie jedem Gast ein freundliches Gesicht machen mußte. Und aus dem Plauderstündchen, auf das er sich gefreut hatte, wurde auch nichts. Knapp, daß die Bärbel Zeit fand, ihm mit ihren strahlenden Blauaugen mal einen Gruß herüberzuschicken oder ein eiliges »dir geht's doch gut in Breslau, gelt?« hinter hochgetürmten Tellern und Tassen ihm zuzuflüstern. Aber zu Neujahr nahm sie die Einladung seiner Eltern ins Krummhübler Lehrerhaus mit Freuden an. Da mußten sie hier oben auf der Baude mal ohne sie fertig werden.
Ein nettes Sümmchen konnte die Bärbel am Neujahrstag der Mutter als Ertrag des Weihnachtsfestes auf den Tisch zählen. Es tat auch not. Denn die noch immer nicht völlig Genesene durfte bei der kalten Witterung nicht mehr am Waschfaß stehen. Sie half in einer Fremdenpension, aber auch das fiel ihr recht sauer. Die Großmuttel war seit Bärbels Fortgehen noch mehr eingedämmert. Aber als die Enkelin das selbstverdiente Geld stolz vor ihr ausbreitete, nickte sie schmunzelnd vor sich hin: »Bist halt a braves Mädel, Bärbele, 's wird dir halt schon noch gutt ergähn. Der Herr Riebezahl wird dir schon amal helfen.«
»Ich helfe mir lieber selber, Großmuttel«, lachte Bärbel, denn nun war sie doch schon zu groß für Großmutters Märchen.
Im Lehrerhaus war es so gemütlich wie stets. Die Scheite Fichtenholz knisterten im Kachelofen. Die selbstgebackenen Pfannkuchen dufteten. Und der Herr Lehrer saß am Klavier und spielte Mozart und Haydn.
Hermann berichtete von seinen ersten Semestern. Welche Freude ihm das Medizinstudium mache, wenn es auch nicht ganz leicht war, daneben noch seinen Lebensunterhalt zu gewinnen. »Abends spiele ich jetzt noch Klavier im Kino, da verdiene ich ganz nett. Und Sonntags bin ich stets zu Tisch bei Königs. Übrigens, wie ist es denn, Bärbel? Die Mädel erzählten mir, daß du vielleicht zu ihnen nach Breslau kommen würdest, um dort noch die erste Lyzeumsklasse zu besuchen. Das wäre famos.«
»Ich würde es nur zu gern tun, aber es geht nicht. Die Muttel ist nach der Krankheit mehr als je auf meinen Verdienst angewiesen. Ich darf sie und die Kinder nicht im Stich lassen.«
Die Freunde schwiegen. Sie fanden, daß Bärbel recht handelte.
Es ist etwas Eigenes um den Neujahrstag. Er ist vollgepfropft mit unbekannten Zukunftsmöglichkeiten. Man steht an der Jahresschwelle und weiß nicht, wohin die Pforte führt.
Als Hermann der Freundin gegen Abend mit der Laterne das Geleit durch den Winterwald gab, meinte er sinnend: »Was wird uns das neue Jahr bringen?«
»Sicher Gutes«, rief Bärbel hoffnungsfroh. »Schon deshalb, weil wir's miteinander begonnen haben.«
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, und durch die verschneiten Wipfel funkelten und glitzerten die Sterne.