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»Daisy – du mußt aufstehen – Himmel, schlaf doch nicht wie 'ne Ratte – nachmittags bist du natürlich mit deinen Arbeiten wieder nicht fertig, wenn ich zur Schneiderin gehen will – Daisy, so sei doch nicht so rücksichtslos, steh auf, ich bin doch erst um drei Uhr von einer Gesellschaft nach Haus gekommen,« damit rollte sich Fränze von Staven laut gähnend auf die andere Seite gegen die Wand.
In dem Bett gegenüber begann es sich zu regen. Lichtes Blondhaar wurde sichtbar; zwei Arme fuhren, sich rekelnd, in die Luft; ein verschlafenes Gesicht tauchte für einen Augenblick auf, um plötzlich wieder in bleierner Müdigkeit in die Kissen zurückzusinken.
Ach, das Aufstehen – dieses leidige Aufstehen!
Es verdarb den Charakter – ganz sicher – wie sie die schnarchende Fränze in diesem Augenblick haßte – mit einem energischen Ruck setzte sich Daisy plötzlich auf.
Müde blinzelte sie auf die kleine goldene Uhr, ein Erbstück von ihrer Mutter, jetzt klangen sechs helle Schläge aus dem Nebenzimmer herüber – es half nichts, sie mußte heraus.
»Plansche doch nicht so, sieh dich doch ein bißchen vor,« knurrte Fränze empört aus dem Halbschlaf und rieb sich zum heimlichen Gaudium der jetzt vollständig ermunterten Daisy herübergespritzten Seifenschaum von der sommersprossigen Nase.
Daisy vollendete mit schneller Hand ihren einfachen Morgenanzug, band die große Wirtschaftsschürze darüber, legte die herumliegenden Sachen an ihren Platz und ging dann ihren täglichen Obliegenheiten nach. Vor dem Unterricht mußte sie noch im Haushalt helfen.
Tante Malwine hatte es trotz ihrer vornehmen Gepflogenheiten für ratsam gehalten, das Hausmädchen zu entlassen, um, wie sie sagte, den jungen Mädchen Gelegenheit zu geben, sich im Haushalt zu betätigen, in Wahrheit aber sparte sie dadurch einen Teil des Geldes, das Daisy sie kostete. Daisy lächelte bitter – kolossal nützlich machte sich Fränze im Haushalt; wenn es hoch kam, stäubte sie die Meißner Puppen und Elfenbeinschnitzereien im Salon ab und gab dem Vogel frisches Wasser, während sie selbst beim Aufräumen der Zimmer, bei Wäsche und Plätten, ja selbst bei groben Arbeiten Hand anlegen mußte.
Heute schlief noch alles im Hause, sogar Auguste war noch nicht sichtbar. Mit geschickter Hand machte Daisy Feuer im Herd und setzte Kaffeewasser auf.
Dann zog sie aus ihrer Kleidertasche ein Buch und murmelte beim Kaffeemahlen halblaut lateinische Vokabeln vor sich hin. Auch beim Reinigen des Herrenzimmers hatte sie die Grammatik in der Hand, das heutige Pensum wollte gar nicht in ihrem Gedächtnis haften.
» Pater – der Vater, mater – die Mutter, avunculus – der Oheim, bellum – der Krieg,« mechanisch ließ sie dabei den schweren Bohner über das Parkett gleiten.
»Aber Daisy – nein – das ist mir doch noch nicht vorgekommen – das ist doch wirklich zu stark – und dann wundert man sich, daß man mit der Arbeit nicht von der Stelle kommt, wenn nebenbei Allotria getrieben wird.« Die eintretende Tante fuhr ärgerlich in ihrem Morgenrock im Zimmer auf und nieder.
Daisy legte still das Buch zur Seite.
»Allotria treibe ich nicht, Tante, ich lerne,« sagte sie mit ruhiger Stimme, welche die erboste Tante nur noch mehr aufbrachte, »da ich mit Fränze nachmittags zur Schneiderin gehen soll – – –«
»Aha – natürlich – da haben wir's ja – selbst dieser kleine Gefallen ist dir zu viel – nichts kann man doch von dem Mädchen haben!« fiel ihr die Tante erregt ins Wort. »Nun siehst du es ja mal selbst, Wilhelm, was du mir für eine Last mit deiner Nichte aufgebürdet hast.«
Onkel Wilhelm strich sich im Nebenzimmer leise seufzend das Butterbrötchen; seine kleinen gutmütigen Äuglein wanderten ängstlich und zaghaft von seiner erzürnten Frau zu der schweigenden Daisy. Aber Tante Malwine war noch lange nicht am Ende ihrer Kraft.
»Anstatt dankbar zu sein,« fuhr sie in scharfem Tone fort, »daß man sich ihrer angenommen, und sie aus der ärmlichen Atmosphäre in vornehme Kreise versetzt hat, zeigt sie es täglich aufs neue, wie wenig sie in unsere Gesellschaft paßt.«
Ein leises »Ja, Gott sei Dank!« entrang sich Daisys fest zusammengepreßten Lippen–Tante Malwine überhörte es zum Glück. »Das Künstlerblut verleugnet sich eben nicht,« mit diesem letzten Hieb rauschte die Tante zum Zimmer hinaus.
»Tante« – Daisy war aufgesprungen, ihre Lippen zuckten, und Tränen stürzten ihr aus den Augen, sie wollte hinter der Tante her.
Plötzlich besann sie sich, auf halbem Wege machte sie kehrt und trat in jähem Aufwallen vor den erschreckten Onkel.
»Und das leidest du,« rief sie mit flammenden Augen, »daß man mich in deinem Hause so beschimpft, daß man es wagt, das Andenken meines Vaters mit hineinzuziehen, der mehr adeliges Empfinden gehabt hat als die ganze Gesellschaft hier zusammengenommen!«
Onkel Wilhelm sah entsetzt auf die sonst so stille Nichte. »Aber Daisychen –« begann er unsicher.
»Ach – wenn ich euch doch nicht brauchte, wenn ich euch doch eure Wohltaten vor die Füße werfen könnte!« Die sanfte Daisy war vollständig außer sich, laut schluchzend stellte sie das Tassengeschirr zusammen. Onkel Wilhelms Gutmütigkeit konnte diesen lebhaften Schmerz nicht mit ansehen, leise und scheu strich er über Daisys kalte Rechte.
»Kind – Daisychen – beruhige dich doch – Himmel, wein doch nicht so – du kennst doch Tante Malwine, die sagt doch bald mal ein schnelles Wort –« Er verstummte.
Wieviel schnelle Worte hatte er so während seiner Ehe mit anhören müssen!
Daisy schluckte krampfhaft – es war unrecht, daß sie Onkel Wilhelm solche Szene machte, der hatte genug an seinem eigenen Päckchen zu tragen.
Mit energischem Griff trocknete sie sich die Augen und ging wieder an die Arbeit.
»Daisy,« rief die Tante aus dem andern Zimmer nach einer Weile, als ob nichts vorgefallen wäre, »du hast ja heute erst um zehn Uhr Unterricht, du kannst vorher noch in die Markthalle gehen.«
Daisy, die eigentlich Latein arbeiten wollte, zog stillschweigend den Mantel über und stülpte den Hut auf. Ein schneller Blick in den Spiegel – sie sah noch ganz schrecklich verweint aus, aber das half nun nichts.
»Nein – nimm nur die große graue Netztasche, in das kleine Ding geht ja nichts hinein – hier auf dem Zettel ist alles aufgeschrieben, sonst vergißt du mir wieder die Hälfte, und daß du nicht mehr als dreißig Pfennig für den Kohl gibst.«
Daisy vertauschte widerwillig die kleine zierliche Tasche mit dem schmutziggrauen Marktnetz – wenn sie nur keine Bekannten traf! Der Einkauf zerstreute sie ein wenig; die Tasche war bereits vollgepfropft und der lange Zettel immer noch nicht zu Ende.
»Ne, Fräuleinken, was nich is, is nich,« meinte der treuherzige Grünkramhändler mit breitem Lächeln, »der Blumenkohlkopp jeht beim besten Willen nich mehr rin, den nehmen Se man zärtlich in 'n Arm. Un hier noch de Tüte mit Tomaten, aber knautschen Se ihr nich so!« Beladen wie ein Packesel trat Daisy den Rückweg an.
Ach – um's Himmelswillen und jetzt fing es auch noch an zu regnen! Das junge Mädchen sah besorgt zu den schwarzen Wolken empor, in großen, schweren Tropfen ging der Regen hernieder. Kein Gedanke daran, den Schirm öffnen zu können; alle paar Minuten mußte Daisy sowieso schon die schwere Tasche absetzen, der Griff schnitt schmerzhaft in ihre Hand. Und nun stellte sich auch noch der abscheuliche Wind ein. Übermütig griff er unter das blaue Hütchen und zauste das weiche Blondhaar, daß es wie ein goldener Heiligenschein ihr echauffiertes Gesicht umflatterte.
» Dreadfull indeed!« stöhnte Daisy und schaute hilflos nach irgend einem kleinen Burschen aus, der ihr für einige Pfennige die schwere Tasche nach Haus trug. Vergebens – die Straße war wie ausgestorben, seufzend nahm sie ihre schwere Last wieder auf. Sie bog um die Ecke – ein erneuter Windstoß, das Hütchen machte Miene, das Weite zu suchen, sie hatte keine Hand frei, um es zu halten. Krampfhaft mußte sie den Kopf zur Erde gesenkt halten – au! – sie war mit einem ihr entgegenkommenden Herrn, der den Schirm gegen den heftigen Sturm vor sich ausgestreckt hielt, zusammengeprallt, der Wind ließ sie den Kopf nicht emporheben. Höflich den Hut ziehend, wollte der Herr an ihr vorüber, da stockte sein Fuß plötzlich – sein blasses Gesicht rötete sich lebhaft, eine bekannte Stimme schlug an Daisys Ohr und jagte ihr alles Blut zum Herzen.
»Aber, Miß Daisy – na das ist gut – beinahe wäre ich an Ihnen vorbeigelaufen – aber Sie sind ja ganz durchnäßt und so bepackt – erst geben Sie mal die Tasche her – Wetter, ist das Ding schwer, treten Sie doch bloß mal einen Augenblick hier ins Haus – Sie sind ja vollständig erschöpft.« Mitleidig zog Günter Berndt sie in den nächsten Hausflur.
Daisy atmete erleichtert auf, sie legte den Blumenkohl und die Tüten, die sie im Arm trug, nieder und strich sich verwirrt die nassen Haare aus der Stirn.
Kein Wort brachte sie heraus, wie peinlich, daß ›er‹ sie gerade so treffen mußte!
Günter Berndt sah ihre Verlegenheit.
»Aber, Miß Daisy, wie können Sie auch fast einen halben Zentner schleppen, das ist ja polizeiwidrig,« half er ihr lächelnd über ihre Befangenheit. »Sie wollen wohl einen neuen Grünkram eröffnen?« Sein Blick überflog die aufgestapelten Gemüseschätze.
»Haben den Büchern Valet gesagt, was?« fuhr er scherzend fort, als sie noch immer schwieg. »Sie gefallen mir auch viel besser so hauswirtschaftlich,« setzte er ernst werdend hinzu.
»Ich will – Ihnen überhaupt nicht gefallen,« stieß Daisy mühsam hervor, griff schnell nach ihren Paketen und eilte mit einem hastigen »Guten Morgen, Herr Berndt« an ihm vorüber in das Unwetter hinaus. Ein schützendes Schirmdach wölbte sich im nächsten Augenblick über ihr Haupt, eine entschlossene Hand ergriff die Tasche, und eine bestimmte Stimme sagte: »Meine Gesellschaft werden Sie trotzdem in den Kauf nehmen müssen, Miß Greeham, bitte lassen Sie die Tasche los, Sie erschweren sie nur noch.«
Daisy blieb wie angewurzelt stehen.
»Nein – auf keinen Fall, Herr Berndt, das leide ich nicht, daß Sie mit einer Markttasche gehen, was sollen denn die Leute denken?«
»Ist mir höchst gleichgültig – ich leide es wiederum nicht, daß Sie so schwer tragen – nun wollen wir sehen, wer recht behält.«
Seine ruhige Bestimmtheit machte sie verstummen.
»Herr Berndt – bitte – bitte tragen Sie die Tasche nicht weiter,« flehentlich schaute sie ihn an.
Er blieb stehen.
»Ja – wenn Sie mich bitten, Miß Daisy, das ist freilich etwas anderes – sehen Sie, dort kommt solch halbwüchsiger Bursche, den wollen wir uns mal langen,« er übergab die Tasche dem jungen Menschen, der froh war, sich ein paar Pfennige zu verdienen. Still schritten die beiden unter dem schützenden Schirm nebeneinander her.
»Es regnet fast gar nicht mehr,« meinte Daisy schließlich einen harmlosen Ton anschlagend.
»Das heißt auf deutsch: Bitte empfehlen Sie sich – machen Sie, daß Sie in die Klinik kommen! – Aber so schnell werden Sie mich noch nicht los, Miß Daisy, wenigstens nicht eher, als bis ich weiß, warum Ihre sonst so klaren Blauaugen heute trübe und gerötet sind.«
Daisy schwieg peinlich berührt.
Er hatte kein Recht, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern – nein – nach den Worten, die sie neulich mitanhören mußte, durfte sie ihm kein Recht einräumen, irgendwelches Interesse an ihrer Person zu nehmen – wie sagte sie ihm das nur in deutlicher Weise?
»Bitte, halten Sie es nicht für müßige Neugier,« bat Günter Berndt in herzlichem Ton, als ob er ihr die Gedanken von der Stirn gelesen, »ich weiß von Dahlens, daß Sie in Ihrer Familie mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, ich nehme warmen Anteil an dem, was Sie betrifft. Miß Daisy ich denke, das wissen Sie auch.«
»Nein – das weiß ich nicht, und das glaub' ich auch nicht.« Daisys biegsame weiche Stimme klang hart und rauh – »ich werde im übrigen aber auch mit mir allein fertig.«
Günter Berndt blieb verletzt stehen und schloß den Schirm.
»Sie haben recht, es regnet nicht mehr,« sagte er kühl, ihre abweisenden Worte überhörend, »ich darf Sie nun wohl Ihrem Schicksal überlassen.« Er lüftete den Hut und schritt davon, ohne ihr noch einen Blick zu schenken.
»Was hat sie nur – warum ist sie so entsetzlich ungleichmäßig und launenhaft,« überlegte der junge Mann, die Strecke wieder zurückgehend, »früher war sie doch anders – so lieb und sanft – das Lernen hat schuld – sie ist dem nicht gewachsen, sie fängt bereits an, gereizt und nervös zu werden!« –
Daisy eilte die Treppen empor. Höchste Zeit, daß sie ins Gymnasium kam. Sie fühlte nicht mehr die Last der Pakete, die waren ja leicht, federleicht, im Vergleich zu der Last, die ihr das Herz abdrückte.
Hatte sie recht gehandelt mit ihrer schroffen Zurückweisung? War es notwendig gewesen, ihm die kränkenden Worte zu sagen? – Selbstvorwürfe verfolgten sie bis in die Unterrichtsstunden. Die sonst so eifrige Schülerin war heute zerstreut und teilnahmlos.
Auch nachmittags bei der Schneiderin war Daisy mit ihren Gedanken nicht recht bei der Anprobe. Jede, auch die geringfügigste Einzelheit ihres heutigen Gespräches mit Günter durchlebte sie noch einmal.
Fränze war übler Laune.
Das neue Frühjahrskleid stand ihr nicht, die kräftige türkise Farbe ließ ihr stark gerötetes Gesicht fast blaurot erscheinen, und der plissierte Rock machte kurz und dick.
Sie hatte beständig noch irgend etwas auszusetzen und zu bemäkeln.
Die Schneiderin war schon ganz nervös.
»Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, gnädiges Fräulein,« meinte sie mit leiser Ungeduld, »zu solch einem Rock muß man schlank und groß sein, das Fräulein Cousine, ja, das könnte so was tragen.« Ihr Blick ruhte wohlgefällig auf Daisys ebenmäßiger schlanker Figur.
»Na, Gott sei Dank, daß ich nicht so 'ne lange Bohnenstange bin,« lachte Fränze boshaft und warf der armen Daisy, die kaum dem Gespräch gefolgt war, einen giftigen Blick zu.
Die Schneiderin bemerkte Fränzes Ärger nicht.
»Ja – wirklich,« meinte sie bewundernd und hielt das Kleid Daisy an, »so was müßten Sie sich mal machen lassen, gnädiges Fräulein, diese grünblaue Farbe hebt sich entzückend von Ihrem Goldhaar ab.«
Daisy lächelte wehmütig – ein seidenes Kleid für sie bei solcher teuren Schneiderin – ihre Fähnchen ließ Tante Malwine von einer billigen Hausschneiderin herstellen!
»Bitte – Fräulein –beeilen Sie sich doch ein bißchen – Sie sehen doch, ich muß fort,« Fränze zeigte sich in ihrer ganzen Unliebenswürdigkeit.
»Ich nehme mir ein Auto, Daisy, Herr Lämmerhirt darf auf keinen Fall warten.«
Daisy zog erschreckt die Uhr – gleich sechs – Hilde war sicherlich schon da. – – –
Ja, Hilde saß schon längst in dem kleinen Mädchenstübchen, in dem Fränzes Sachen unordentlich herumlagen.
Trotzdem Hilde gerade auch kein Ordnungsmuster war, fiel ihr diese Unordnung hier doch unangenehm auf. Sie setzte sich an Daisys Arbeitstisch und begann sich in das Rechenbuch zu vertiefen – Daisy mußte ja gleich kommen.
Aber Daisy kam und kam nicht. Hildes Kopf brummte schon wieder von all den Zahlen, Buchstaben und Linien, von denen sie nur die Hälfte begriff, sie fing an, sich zu langweilen. Gähnend schritt sie in dem kleinen Raum auf und nieder, die Tür zum Nebenzimmer, wo die Stunde stattfinden sollte, war weit geöffnet, Geigenständer und Violine warteten schon auf Herrn Lämmerhirt. Hilde rümpfte das Näschen, ihr Geschmack wäre er nicht, der kurzsichtige junge Mann mit dem gebrannten Kraushaar; sie mußte doch Fränze heute mal wieder mit ihrem dummen Lämmergeier ordentlich aufziehen.
Langsam schritt sie im Zimmer auf und ab und blieb vor den verschiedenen kleinen Bildern, die Fränze in der Malstunde verbrochen hatte, stehen. Gelbes Gras, grüner Himmel, verzeichnete Kühe, Hilde überlegte ernstlich, ob Fränze wohl schlechter malte oder Geige spielte.
Das ganze Zimmer war mit diesen künstlerischen Erzeugnissen geschmückt. Nur über Daisys Bett hingen die grün bekränzten Bilder ihrer Eltern.
Also hier war's, wo die boshafte Fränze ihre arme Daisy oft bis aufs Blut peinigte und quälte – ach, wenn sie Daisy doch mal rächen, wenn sie der Fränze doch auch mal einen Schabernack spielen könnte!
Fränze mußte gestern abend aus gewesen sein; Seidenpapiermützen und Knallbonbons lagen im bunten Durcheinander auf dem Tisch.
Und hier – was war denn das?
Ach, eine Larve, eine ganz abscheuliche Larve, wie kam die denn hierher? Eigentlich hatte die Larve Ähnlichkeit mit Fränze – ja wirklich – dasselbe breite rote Gesicht mit den kleinen Augen. Hilde langweilte sich weiter – sie blickte auf die Larve, sie blickte in das nebenliegende Zimmer, und plötzlich ging ein triumphierendes Leuchten über ihre sprechenden Züge.
Der Fränze, der wollte sie's anstreichen, warum blieb sie auch so lange! Sie nahm Fränzes Rock, den diese über einen Stuhl geworfen hatte und begann mit geschickter Hand den Geigenständer zu bekleiden. Er hatte zwar noch etwas mehr Umfang als Fränze, aber Hilde wußte sich mit einer Sicherheitsnadel zu helfen. Dann bekam er Hildes loses Jackett über, und jetzt noch das Schwierigste, die Larve oben zu befestigen. Sie wollte und wollte nicht sitzen, mit fliegender Hand löste das junge Mädchen ihren Gürtel und schnallte die Larve kunstgerecht fest. Nun noch ihren Hut aufgestülpt, prüfend mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Hilde ihr Werk – die Figur hatte entschieden etwas Menschliches, von weitem sah sie Fränze gar nicht unähnlich. Jetzt schlug es sechs. Hilde atmete auf, jeden Augenblick mußte Fränzes Geigenjüngling kommen.
Da klingelte es schon, das war er; denn Fränze hatte Schlüssel. Vorsichtig lehnte die mutwillige Hilde den angezogenen Geigenständer gegen die nach außen aufgehende Eingangstür, durch welche der Lehrer eintreten mußte. Dann begab sie sich auf den Fußspitzen in das kleine Mädchenzimmer auf ihren Beobachtungsposten.
Es klopfte – Hilde drückte das Taschentuch gegen die Lippen, um nicht loszuprusten, gespannt blickte sie durch die Türspalte.
Die Tür tat sich auf, und der verkleidete Geigenständer flog dem entsetzten jungen Mann direkt an das Herz.
»Gnädiges Fräulein – Fräulein Fränze« – hörte Hilde ihn schüchtern stammeln, immer noch hielt er den Geigenständer zärtlich im Arm.
Das war zuviel für Hilde, sie brach in ein schallendes Gelächter aus. Sie hörte nicht, daß die Tür draußen geschlossen wurde, nicht, daß Fränze bereits das Musikzimmer betrat.
»Entschuldigen Sie, Herr Lämmerhirt –« Fränzes holdseliges Lächeln erstarrte plötzlich – war Lämmerhirt verrückt geworden? Da stand er mitten im Zimmer, den Violinständer im Arm, und blickte blöde auf die hölzerne Figur, deren wahre Bedeutung er nachgerade erfaßt hatte, herab.
Mit einem Ruck setzte der junge Mann die leblose Gestalt auf ihre hölzernen Füße.
»Gnädiges Fräulein,« begann er mit jämmerlicher Miene, »ich fürchte, ich bin das Opfer eines kindischen Streiches geworden, diese Figur, die ich, da das Licht stark blendete, bei meiner Kurzsichtigkeit für gnädiges Fräulein selber hielt, flog mir bei meinem Eintritt in die Arme.«
Fränze schaute auf das breite steife Ungetüm, auf das abscheuerregende Gesicht, Tränen des Zornes traten ihr in die Augen.
»Das kann nur Hilde gewesen sein, die unverschämte Hilde Dahlen, aber sie soll es mir büßen, sie und Daisy.«
Sie riß die Tür zu ihrem Zimmer auf.
Da saß Hilde noch immer auf demselben Stuhl und lachte so unbändig, daß die Tränen ihr über das Gesicht liefen.
Vor ihr stand die ahnungslose Daisy und bemühte sich vergebens, eine Erklärung von Hilde herauszubekommen.
»Was ist los?« fragte Daisy erstaunt, als sie das zornverzerrte Gesicht der Cousine erblickte.
»Was los ist – das wirst du gleich erfahren – Hilde, was weißt du von dem Geigenständer drin, wie konntest du die Frechheit haben – – –« Fränzes Stimme schnappte vor Zorn über.
»Ach du mein Himmel – ich kann ja nicht mehr,« stöhnte Hilde, »ich kann doch nichts dafür, Fränze, wenn du unpünktlich zur Stunde kommst,« sie wischte sich immer noch lachend die Tränen aus den Augen. »Selbstverständlich wollte ich nur dir mit der angezogenen Puppe eine Freude machen; daß Herr Lämmergeier das häßliche Gestell für dich halten könnte und es gar nicht wieder aus seinen Armen lassen würde, das konnte ich doch nicht voraussehen.«
Fränze hatte genug, sie raste aus dem Zimmer. Hilde blamierte sie mit jedem Wort nur noch mehr vor dem angebeteten Lehrer. Bald klang wütendes Geigengekratze aus dem Nebenzimmer.
Daisy aber stand in stummem Entsetzen.
Um's Himmels willen – was hatte die Hilde, das enfant terrible, wieder angestellt!
Allmählich erholte sich Hilde von der Anstrengung des Lachens, zärtlich strich sie Daisy über das blasse Gesicht.
»Aber, Daisychen – was sagst du denn bloß dazu, ist das nicht glänzend? – stolz kannst du auf deine Freundin sein. Für alle Zeiten habe ich dich an der greulichen Fränze gerächt!«
»Mir wär's lieber gewesen, du hättest ihr den Streich nicht gespielt, darling,« sagte Daisy ernst. »Siehst du, ich muß es auf alle Fälle ausbaden, an mir wird sie ihre Wut auslassen.«
Hilde machte ein bestürztes Gesicht, daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
»Komm, Daisychen, verstöre mir den famosen Jux nicht durch deine traurige Miene. Hab' nur keine Bange, es kommt mir gar nicht darauf an, dich noch einmal an Fränze zu rächen; ich habe noch viel auf der Walze. Ach, du hättest das stupide Gesicht des Lämmergeiers sehen sollen – zum Radschlagen!«
Daisy wurde von Hildes Heiterkeit mit fortgerissen; wider Willen mußte auch sie über die komische Situation lachen. Hilde hatte wieder mal gewonnenes Spiel.
Aber Daisys schwarze Ahnung trog nicht. Auf Schritt und Tritt mußte sie den Ulk der Freundin büßen. Fränze machte ihr das Leben im Hause jetzt geradezu zur Hölle, und am Abend des bedeutungsvollen Tages sprach Frau von Staven zu Daisy die inhaltsschweren Worte: »Die Hilde Dahlen, dieses bodenlos schlecht erzogene Ding, kommt mir nicht wieder in mein Haus!«