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Die großen Ferien waren vorüber.
Hilde hatte diesmal »kuschen« müssen und daheim bleiben, denn Frau Doktor Dahlen mochte in diesem verregneten Sommer keinen Landaufenthalt nehmen. Der Vater freilich mußte auf Anraten eines befreundeten Kollegen ein Sanatorium aufsuchen, er hatte sich in der Praxis überangestrengt und bedurfte dringend der Erholung. Auch die Brüder, denen sich Günter Berndt als Dritter angeschlossen hatte, waren vierzehn Tage durch das Riesengebirge gewandert. Aber einsam war es Hilde trotzdem nicht, denn Daisy, ihre liebe Daisy, wohnte die ganzen fünf Wochen über bei ihr.
Das war eine wundervolle Zeit.
Daisys Tante wollte zwar erst nicht recht heran; in dem Hause des Arztes, im steten Zusammensein mit der verwilderten Hilde, der sie den Schabernack, den diese ihrer Fränze gespielt, immer noch nicht vergessen hatte, würde Daisy sicherlich nicht gut beeinflußt werden. Aber der Geiz gab schließlich den Ausschlag. Was Daisys Bitten und Betteln nicht gelang, das tat die Überlegung, das Haus während ihrer Reise dann einfach zuschließen zu können. Denn Daisy in das teure Nordseebad mitzunehmen, der Gedanke kam der lieblosen Frau überhaupt nicht.
So siedelte Daisy eines Tages glückstrahlend mit Sack und Pack in das Mädchenstübchen des Dahlenschen Hauses über, wo sie mit offenen Armen empfangen wurde. Hilde, die sich nur schweren Herzens von Fräulein Doktor Geßner, den lustigen Gefährtinnen im Gymnasium und vor allem von gewissen Augen getrennt hatte, begriff jetzt gar nicht mehr, daß sie sich so vor den Ferien gegrault hatte. Wie ein Kind freute sie sich von einem Tage zum andern. Des Morgens mußte Frau Doktor Dahlen immer wieder gegen die Tür klopfen, bis ihre jungen Damen sichtbar wurden; das Anziehen dauerte jetzt gerade noch einmal so lange wie sonst. Die beiden turnten in der Früh und hatten gar viel miteinander zu schwatzen und zu kichern. Dann räumten sie miteinander ihr Zimmer auf und besorgten den Einkauf.
»Ach, Daisy, wenn du doch meine Schwester wärst, es ist ja so herrlich, alles gemeinsam unternehmen zu können,« seufzte Hilde oft.
Vormittags wurde Tennis gespielt, gerudert oder geschwommen. Jeden Tag aber blieb eine festgesetzte Stunde für die Arbeit, täglich wurde etwas anderes wiederholt, darauf hielt die gewissenhafte Daisy.
Das schönste aber waren die Nachmittage, da machte sich Frau Doktor Dahlen von allen Haushaltspflichten frei und wanderte, wenn das Wetter nur einigermaßen war, mit den jungen Mädchen hinaus ins Grüne.
Hildes Mutter hatte es verstanden, sich die Jugend des Herzens und die Frische des Gemüts selbst in vorgerückten Jahren zu bewahren. Sie war die heiterste und bestgelaunteste von den Dreien. Ein inniges Verhältnis erblühte in diesen Tagen schrankenlosen Beisammenseins zwischen Mutter und Tochter, wie zu einer älteren Freundin sah Hilde zu ihrer Mutter auf. Daisy verehrte Frau Doktor Dahlen mit der ganzen großen Liebe ihres verwaisten Herzens; sie war voll rührender Dankbarkeit und zartester Rücksichtnahme für die Mutter der Freundin, und unbewußt fiel durch ihr gutes Beispiel manch Samenkorn in Hildes empfängliches Herz, das dort keimte und später edle Frucht trug. –
Durch die von der ersterbenden Sonne in flüssiges Kupfer getauchte Welt wanderten die drei gegen Abend durch die Fluren, und harmonisch verschmolz Frau Doktor Dahlens Sopran mit der wunderbaren, weichen Altstimme Daisys. Dann war es, als ob jedes Ding in der Natur den Atem anhielte und den herrlichen Tönen lauschte; die zwitschernden Vöglein, die surrenden Käfer, die zirpenden Heimchen am Wege, ja selbst der leise wehende Abendwind schien plötzlich innezuhalten.
Auch die unmusikalische Hilde hörte wie gebannt zu. Das war die erhebendste Stunde des Tages.
»Daisy, du solltest wirklich Gesangunterricht nehmen, es ist ein Jammer, daß eine so selten schöne Stimme wie die deine nicht ausgebildet wird,« sagte Frau Doktor Dahlen oft.
»Lassen Sie das bloß nicht Tante Malwine hören, Frau Doktor,« lachte Daisy dann, »die will es durchaus nicht wahr haben, daß an meiner Stimme etwas Besonderes ist. Ich glaube, sie hat Angst, daß ich in die Fußstapfen meines lieben verstorbenen Vaters trete und ebenfalls zur Bühne gehe.«
»Oder sie fürchtet, daß Fränzes heiseres Gekrächze einem noch mehr auf die Nerven fällt, wenn man deine Stimme daneben hört, meine Daisy.« Zärtlich schlang Hilde den Arm um die Freundin.
»Hilde, Hilde, dein loses Mundwerk läuft schon wieder davon,« drohte Mama scherzend. –
Aus Nord und Süd, aus Ost und West flatterten Grüße, nach Bergwind duftend oder Meeresrauschen ausströmend, in das stille Dahlensche Heim. Der Vater schrieb befriedigende Briefe, die Brüder feuchtfröhliche Bierkarten, die Mitschülerinnen ließen fast alle etwas von sich hören und schwärmten von dem Schönen, das sie zu sehen bekamen. Und Fräulein Doktor Geßner sandte Hilde alle paar Tage von ihrer herrlichen Tour durch das Berner Oberland freundschaftliche Grüße.
Der Stoß Ansichtskarten häufte sich von Tag zu Tag, Daisy aber fand die am allerschönsten, auf denen in irgend einer Ecke die Worte »Besten Gruß! Günter Berndt« prangten. Sie suchte stets zuerst nach seinen festen steilen Schriftzügen und starrte auf die kurzen, sich meist gleichbleibenden Worte, als ob sie eine Offenbarung enthielten.
Fünf Wochen sind eine lange Zeit, aber schließlich gehen auch sie vorüber.
Einer nach dem andern der Ausflügler rückte sonnengebräunt, mit klarem Auge und erfrischtem Geiste wieder in die Heimat ein. Daisy kehrte schweren Herzens zu den Verwandten zurück. Das regelmäßige Gleichmaß der Tage trat wieder in seine Rechte, der Unterricht auf dem Gymnasium begann.
Die Mädel waren von ihrem Germanicus begeistert. Die Gletschersonne hatte sein Gesicht scharf gebräunt, seltsam hob sich sein helles Haar und die weiß gebliebene Stirn von dem dunklen Hautton ab. Aber es stand ihm ganz famos, fanden alle, einfach süß sah er aus! Auch Hilde gestand es sich heimlich zu, Doktor Werner sah jetzt womöglich noch männlicher und bedeutender aus. Unverwandt sah sie ihn die ganze Stunde über an. Ein übermütig keckes Wesen hatte er von der Alm mit heimgebracht. Er ließ sich in der ersten Stunde von den jungen Damen ihre Erlebnisse berichten und erzählte auch selbst einiges von seinen halsbrecherischen Besteigungen. Noch nachträglich klopfte Hildes Herz vor Angst und Sorge.
»Na, Fräulein Dahlen, und Sie, wo haben Sie sich Ihre schönen roten Backen geholt?« fragte er freundlich, Hildes flammendes Gesichtchen musternd.
»Ich – ich habe fleißig den Monte Croce bei Berlin bestiegen, die Bergluft ist mir so fein bekommen,« lachte sie schelmisch.
»O – o – gar nicht herausgewesen?« er sah sie bedauernd an, »das tut mir leid!«
»Es war aber auch hier sehr hübsch, Herr Doktor,« beteuerte Hilde eifrig, »Daisy und ich, wir haben die ganze Umgegend unsicher gemacht – fein war's!« –
Der erste Schultag verging, andere folgten, einer wie der andere – bald war's, als ob das Einerlei der täglichen Arbeit niemals unterbrochen worden wäre.
Heute schrieb man französisches Extemporale bei Fräulein Doktor Kurz. Es war schauderhaft schwer, lauter Konjunktivformen. Hilde mußte höllisch aufpassen, das heißt auf das, was Daisy neben ihr niederschrieb.
Und trotzdem mitten in einem schwierigen Satze flüsterte sie plötzlich der Freundin zu: »Du – Daisy – hörst du – denk' mal, Günter Berndt hat gestern sein Doktorexamen bestanden mit Auszeichnung – in drei Tagen geht er zur See nach Indien – will Schiffsarzt werden, sechs Monate bleibt er fort!«
Daisys Blutlauf stockte – sie griff sich mit der Hand nach dem wild schlagenden Herzen, sie wußte nichts mehr von Konjunktiv und Indikativ, mechanisch schrieb sie die Formen nieder – »er geht fort – in die weite Welt«. – Unaufhörlich kreiste dieser Gedanke in ihrem Hirn.
»Aber, Daisy Greeham, was haben Sie nur gemacht, was soll ich denn bloß von Ihnen denken?« fragte am nächsten Tage Fräulein Studienrat, die Stirn furchend. »Bis zur Hälfte haben Sie ein vollständig fehlerfreies Extemporale geschrieben und mit einem Male Fehler über Fehler. Sie schreiben hier Formen, wie sie ein Kind in der sechsten Klasse nicht bilden würde. Wenn Ihnen das nun zum Abiturium passiert!«
Daisy sah bleich und abgespannt aus.
»Mir wurde gestern mit einem Male so elend, Fräulein Doktor,« stotterte sie verlegen, » indeed, ich verstand gar nicht mehr, was Sie sagten.«
»Sie sehen auch heute noch blaß aus, Daisy,« Fräulein Doktor Kurz schaute sie prüfend an, »ein wenig nervös und überarbeitet, was? Na, lassen Sie sich zu Hause nur schön pflegen!« Sie wandte sich zu Hilde.
»Und Sie, Hilde Dahlen, war Ihnen auch elend?« Hilde blickte verwundert auf.
»Mir – nein – mir war ganz vorzüglich zumute!«
»Merkwürdig, Ihr Extemporale ist ebenfalls bis auf einige Flüchtigkeitsfehler zur Hälfte fehlerlos, und dann schreiben auch Sie den größten Blödsinn von der Welt, in edler Übereinstimmung mit Daisy Greeham. Ich werde die Freundinnen doch wohl auseinandersetzen müssen.«
Hilde blieb kaltblütig, sie war es gewöhnt, öfters mal beim Abschreiben abgefaßt zu werden. Nur bei Doktor Werner machte sie prinzipiell keine Schielübungen mehr, den wollte sie nie wieder betrügen.
Fräulein Doktor Kurz schenkte sich für heute ihre Moralpredigt, sie war besonders guter Laune, und das machten sich die jungen Mädchen zunutze.
»Fräulein Studienrat, liebes Fräulein Doktor,« bettelten sie, »nun ist doch das Wetter beständiger, jetzt kann doch unser längst geplanter Dampferausflug stattfinden; ja, dürfen wir die Lehrer und Lehrerinnen zu nächstem Sonnabend einladen?« Jubelnd umringten die großen Mädchen die lächelnd Gewährung nickende Lehrerin, und der Ausflug war beschlossene Sache.
Den ersten Korb gab der alte Professor Collmann, der Latein lehrte, der Klasse. Er sei wasserscheu, meinte er, eine Dampferfahrt ihm zu gefährlich, und seine Glieder schon zu steif, um vorher noch Schwimmunterricht zu nehmen.
Lautes Gelächter der gesamten Klasse lohnte wie stets Professor Collmanns Witz; denn das war eine Schwäche des alten Herrn, daß er seine Bonmots gebührend belacht wissen wollte.
Der Spätsommer schien alles Versäumte wieder gut machen zu wollen. Heiß und blendend hing die Sonne am graublauen Dunsthimmel, bleiern schwer legte sich die ungewohnte drückende Wärme auf die Augen. Hilde war ganz schläfrig zumute. Die lateinische Lektüre war auch nicht gerade dazu angetan, sie munter zu halten; ein halb dutzendmal hatte sie wohl schon hintereinander gegähnt.
»Daisy, ich sterbe vor Langweile. Ich bin ja so schrecklich müde. Setz' dich mal ein kleines bißchen vor – so – ich werde jetzt eine kleine Siesta halten; wenn Collmann einen Witz macht und gelacht werden muß, kannst du mir einen Stoß geben.«
Sie stützte den Kopf in die Hände, daß ihr Gesicht unsichtbar blieb, neigte sich tief über den Cornelius Nepos und schlief wirklich bei dem monotonen Geräusch des einförmigen Übersetzens sanft ein.
»Bitte, weiter mal – die – die – na, mal Hilde Dahlen,« sagte Professor Collmann sich räuspernd.
Hilde schlief fest und rührte sich nicht. Tiefe, gleichmäßige Atemzüge entquollen ihren halbgeöffneten Lippen.
Professor Collmann sah sich suchend um.
»Ja – also – die – die – Hilde Dahlen, bitte,« er putzte sich angelegentlich die goldene Brille.
Daisy gab der immer noch schlummernden Hilde einen derben Stoß. Verschlafen fuhr diese empor.
Lachende Gesichter ringsherum – gewiß hatte Collmann wieder einen Witz gemacht – und »ha – ha – ha – ha – ha,« legte Hilde plötzlich los, sie brach in ein wieherndes Gelächter aus. Ein nicht endenwollendes Lachen der Klasse folgte.
»Hilde, bist du verdreht, du sollst übersetzen,« rief ihr Daisy entsetzt mit gedämpfter Stimme zu.
Der alte Collmann aber setzte sich verdutzt die Brille auf die kurze Nase und blickte mit erschreckten Augen zu der lachenden Hilde hinüber – war sie verrückt geworden?
Seit diesem Tage sah Professor Collmann Hilde Dahlen häufig mißtrauisch von der Seite an; war sie wirklich geistig ganz normal? Er traute dem Frieden nicht recht. –