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Nicht im sonnendurchsponnenen maigrünen Lenzgewande zog der Wonnemond diesmal durch die Lande, mürrisch und griesgrämig schaute der holde Frühlingsgesell drein. Zerfetzte regengeschwollene Wolken jagten am grauen Himmel dahin, in endlosen Strömen rauschte der Regen tagein, tagaus hernieder.
An der Haltestelle der elektrischen Bahn ballten sich die schwarzen Schirmdächer zu einem großen dunklen Knäuel zusammen, rücksichtslos kämpfte man mit den Ellenbogen um die wenigen freien Plätze im schützenden Wagen. Schon die dritte Bahn war den beiden Freundinnen, welche, die Büchermappe unter dem Arm, vergeblich versucht hatten, noch ein Plätzchen zu erwischen, an der Nase vorbeigefahren.
»Nein, Daisy, jetzt bleibst du aber dicht hinter mir, drängle doch und schuppse wie ich; ich war in der letzten Bahn fast drin, aber wenn du höflich jedem Menschen den Vortritt läßt, werden wir heute wohl überhaupt nicht mehr in die Schule kommen.« Hilde hatte sich allmählich wieder daran gewöhnt, statt der stolzen Benennung »Gymnasium« den verachteten Namen »Schule« zu setzen.
»Aber, Hilde, ich konnte doch unmöglich die alte Dame vor mir zurückstoßen. Übrigens kommen wir sowieso zu spät, da schlägt's eben drei Viertel acht. Na, Doktor Werner wird wenig erbaut sein.«
Hilde schwieg, das war nun schon das dritte Mal, daß sie zu spät kam, gerade bei Werner, das erste Mal hatte er sie in recht ironischem Ton gebeten, das Morgenfrühstück nicht zu lange auszudehnen, und als sie kurz darauf sich wieder um fast eine Viertelstunde verspätete, da hatte er sie nach seiner bekannt ekligen Manier einfach nicht beachtet.
Hilde, die früher in der Schule in aller Gemütsruhe stets pünktlich nach dem Läuten zu erscheinen pflegte, sah jetzt gepreßt, wie der Zeiger an der großen Normaluhr unerbittlich vorwärtsrückte. Mußte Doktor Werner nicht denken, daß sie ihn absichtlich ärgern wollte?
Diesmal wurden Hildes kraftvolle Stöße und Püffe von Erfolg gekrönt. Sie sowohl als die schüchtern nachfolgende Daisy fanden zwei bescheidene Plätzchen in der Straßenbahn.
Daisy, der »Musterknabe«, wie Hilde die Freundin benannte, nahm sogleich das lateinische Buch vor und sah noch einmal das heutige Pensum durch, während Hilde die lebhaften Augen neugierig in der Bahn herumschweifen ließ. Da gab es wenig Interessantes zu schauen. Der größte Teil der Herren hatte das Gesicht hinter der Zeitung vergraben, hier setzte ein dicker Alter schnarchend sein Morgenschläfchen fort und belästigte dabei den neben ihm Sitzenden, dort durchblätterte ein junges Mädchen den spannenden Roman.
Aber meistens sahen die Gesichter alle, jung und alt, grau und regnerisch aus wie der Himmel draußen. Es roch nach feuchten Kleidern und nassen Schirmen.
»Daisy,« rief Hilde plötzlich betrübt, »ich muß vorhin beim Drängen mein Frühstück verloren haben, wirklich, ist es futsch!«
»Siehst du, das ist die Strafe,« neckte Daisy, »nun mußt du dir beim Bäcker Nolte die feinen Mushörnchen kaufen. Ich habe dich im Verdacht, dein Frühstück mit Willen preisgegeben zu haben.«
Eine alte Dame stieg an der nächsten Haltestelle ein, suchend überblickte sie die Reihen, nirgends ein Plätzchen mehr. Hilde sah sich erwartungsvoll um, machte denn keiner von den jungen Leuten ihr gegenüber der würdigen Greisin Platz? Keiner rührte sich, die jungen Herren starrten aus dem regenbespritzten Fenster, und blieben unhöflich sitzen.
Empört sprang Hilde auf: »Bitte schön, gnädige Frau,« sagte sie mit flammenden Wangen, »nehmen Sie meinen Platz.« Sie machte Miene, sich ans Ende des Wagens zu stellen.
Dankend setzte sich die alte Dame. Einer der Jünglinge aber stand jetzt nachträglich auf und bot Hilde errötend seinen Platz an.
»Danke, ich stehe,« das schlanke Mädchen im dunkelblauen Regenmantel schritt mit zurückgeworfenem Köpfchen bis ans Ende des Wagens. Verächtlich blickte sie auf die »stoff'lige Gesellschaft« herab.
Leuchtend blaue Augen hatten schon eine ganze Weile über die Zeitung hinweg dem Vorgange interessiert zugeschaut. Jetzt ließ der Herr in der Ecke plötzlich die verbergende Zeitung von dem Gesicht sinken, die Hand griff nach dem weichen Filz und eine bekannte Stimme fragte freundlich: »Aber meinen Platz werden Sie doch nicht zurückweisen, nicht wahr, Fräulein Dahlen?«
Ehe Hilde es sich versah, saß sie auf dem Eckplatz, und neben ihr stand Doktor Gerhard Werner und schaute lächelnd auf das erglühende Gesichtchen herab.
Traumbefangen saß Hilde da. Wie kam Doktor Werner nur hier in diese Bahn? Er wohnte doch draußen im Vorort. Erst neulich hatte sie ihm ganz, ganz heimlich Fensterpromenade gemacht.
»Sie denken wohl, Sie können allein nur zu spät kommen?« begann er scherzend das Gespräch. »Heute bekommen wir beide einen Tadel. Schon die dritte Bahn mußte ich benutzen, um bei dem fürchterlichen Wetter überhaupt nur vorwärts zu kommen.«
Daisy sah neugierig herüber – wenn das Martha Tiedemann und Alice Marx wüßten, wie angelegentlich sich ihr Germanicus mit Hilde Dahlen, der er doch noch dazu unsympathisch war, unterhielt.
Doktor Werner nahm den leer gewordenen Platz neben Hilde ein, und diese hatte ihre Unbefangenheit bald wieder gefunden. Nur in die leuchtenden Augen zu blicken, wagte sie nicht, sie heftete den Blick auf den obersten Knopf seines Überziehers, und redete kunterbuntes, krauses Zeug durcheinander, wie es ihr gerade durch den lustigen Mädchenkopf spukte.
Aber der ernste Mann neben ihr mußte doch seine Freude an dem frischen, kindlichen Geplauder haben, jetzt lachte er sogar laut und herzlich. Daisy schielte erstaunt über ihr Buch herüber – war das denn noch derselbe sachliche Lehrer, als den ihn die Klasse kannte?
»Nun gibt's bald Ferien, Fräulein Dahlen,« Doktor Werners Blick haftete auf dem taufrischen Gesicht seiner Nachbarin.
»Ja – leider,« Hilde zupfte traumverloren an ihrem Stupsnäschen.
»Leider« – Gerhard Werner horchte erstaunt auf, »schmeckt denn der Unterricht so gut, Fräulein Dahlen?«
»Der Unterricht nicht – nein,« das junge Mädchen hielt verwirrt inne. Sie konnte doch unmöglich zugestehen, daß sie es ganz entsetzlich fand, fünf lange Wochen das Leuchten der dunkelblauen Augen entbehren zu müssen, »nein – aber die Mushörnchen,« setzte sie erleichtert aufatmend hinzu.
Doktor Werner sah kopfschüttelnd vor sich nieder.
Sie war doch noch das reine Kind mit ihren fast siebzehn Jahren. Eben noch glaubte er reifes, weibliches Empfinden in ihrem verschleierten Blick zu lesen, und im nächsten Moment blitzte es schon wieder voll kindlichen Übermuts in den rehbraunen Augen auf. Aber was wollte er denn, das gefiel ihm doch gerade so an ihr, diese natürliche Jugendfrische!
Hilde ahnte nichts von den ernsten Gedanken, die hinter der Stirn des Lehrers soeben vorüberzogen. Unbekümmert berichtete sie ihm von dem Mißgeschick, das ihr Frühstück betroffen, und daß sie noch unbedingt vor der Stunde die beliebten Mushörnchen einkaufen müsse.
Doktor Werner zog die Uhr.
»Gleich viertel – nein, Fräulein Dahlen, wir müssen sofort mit dem Unterricht beginnen, wenn Sie auch nur fünf Minuten fehlen, haben Sie gleich eine Lücke, die auszufüllen, später Stunden kostet.«
Hilde warf unwillig die frischen Lippen auf.
»Nachher sind die Mushörnchen wieder alle futsch,« brummte sie zwischen den Zähnen. Aber sie wagte doch nicht, seiner Autorität zu trotzen und ihm, wie sie es so gern getan hätte, in den kleinen Bäckerladen drüben zu entschlüpfen.
Der Unterricht in den übrigen Abteilungen hatte bereits begonnen, längst schon hatte die Glocke das Zeichen zum Anfang gegeben. – Doktor Werner fehlte noch immer.
An den Fenstern preßten seine Verehrerinnen die Nasen gegen die nassen Scheiben platt und lugten sehnsüchtig nach ihrem Germanicus aus. Da kam er ja. Jetzt schritt er eilig über die Brücke, und an seiner Seite gingen Daisy Greeham und Hilde Dahlen – eifersüchtige Blicke huschten zu den beiden Freundinnen hinunter.
Hilde saß verdrossen auf ihrem Platz.
Sie dachte nicht mehr daran, wie glückselig eben noch ihr Herz an Doktor Werners Seite geschlagen hatte, sie hörte nicht die erläuternden Worte des Lehrers. Die Mushörnchen spukten ihr im Kopf herum. Ob es nachher auch noch welche gab?
Endlich Pause. Wie gejagt eilte Hilde allen voran die Treppen hinab, über den Damm in den kleinen Bäckerladen.
»Viktoria!« – Sie ergatterte noch gerade die beiden letzten Mushörnchen, großmütig schenkte sie der verlangend zuschauenden Daisy eines des kostbaren Gebäcks.
Aber zwischen Lipp' und Kelchesrand ..., in dem Augenblick, wo Hilde gierig auf der Treppe in das knusprige Hörnchen hineinbeißen wollte, ereilte sie das Verderben.
Fräulein Studienrat Doktor Kurz tauchte plötzlich wie aus der Versenkung vor Hilde auf.
»Hilde Dahlen, Sie sind doch schon wieder auf die Straße gelaufen, ich habe Ihnen doch oft genug gesagt, daß ich das nicht wünsche.«
Gegen ihre Gewohnheit hatte Hilde die Strafpredigt der Lehrerin schweigend an sich vorübergehen lassen. In der Klasse aber machte sich ihre Empörung Luft.
»So 'ne alte Tante, wie kommt sie denn bloß dazu, mich wie eine Schuljöre abzukanzeln, eine Obersekundanerin! Na, warte man. Kurzchen, ich räche mich bei passender Gelegenheit. Wißt ihr, Kinder, was ich tue?« Hilde war bereits zu den meisten Mitschülerinnen in ein freundschaftliches Verhältnis getreten, und das steife »Sie«, das man anfangs gebraucht, hatte allgemein dem vertraulichen »Du« Platz gemacht. »Ich stehe ganz einfach nachher in der Stunde beim ›Wickelkind‹ nicht auf. Fräulein Kurz hat uns erst neulich darum gebeten, das ärgert sie sicher mächtig. Im übrigen haben wir doch wahrhaftig auch nicht nötig, bei solchem jungen Ding, wie das ›Wickelkind‹ ist, beim Antworten aufzustehen; das verlangen doch nicht einmal die alten Lehrer von uns erwachsenen Mädchen.«
Und das erwachsene Mädchen biß so wütend in das unschuldige Mushörnchen, als ob es zwischen ihren weißen Zähnchen Fräulein Kurz samt dem »Wickelkind« zermalmen wollte.
Ruhe trat plötzlich ein, Doktor Werner hatte seinen Platz auf dem Katheder wieder eingenommen, der Unterricht nahm seinen Fortgang.
Hilde war inzwischen schon etwas mehr in die Geheimnisse der Mathematik eingedrungen, es war ihr nicht mehr alles ein Buch mit sieben Siegeln wie im Lyzeum, wenn ihr das Rechnen auch nach wie vor kein Vergnügen machte. Aber heute hatte Doktor Werner nach langer Zeit wieder ernstlich Grund, über ihre Unaufmerksamkeit zu klagen.
Vor ihr im Tischfach lag das angebissene Mushörnchen und duftete herrlich zu Hilde herauf.
Hilde zog schnuppernd das Näschen kraus, nur einmal abbeißen – ihr Magen knurrte vernehmlich.
Doktor Werner schrieb erläuternd eine Formel an die Wandtafel.
»Was er für schlanke, weiße Hände hat!« flüsterte die schwarzäugige Alice Marx entzückt ihrer Nachbarin zu.
»Ach, und sein süßer Hinterkopf,« schwärmerisch blickte Ilse Petersen, die Künstlertochter, auf den kräftig gebauten, von üppigen, weichen Haaren umwogten Schädel des Angebeteten. Mit einigen sicheren Linien hatte sie sein charakteristisches Profil auf ihr Löschblatt gebracht.
Hilde aber sah weder die schlanken Hände noch den entzückenden Hinterkopf Doktor Werners; ihre Blicke waren starr auf das verlockende Mushörnchen gerichtet. Eins, zwei, drei, saß sie unter dem Tisch, einen großen Happen – noch einen – nun hatte sie den Mund so voll, daß sie das Taschentuch dagegenpressen mußte.
»Haben Sie die Formel verstanden?« Doktor Werner wandte sich wieder der Klasse zu. Sein Blick suchte Hilde. »Sie auch, Fräulein Dahlen?«
Hilde nickte, krampfhaft drückte sie das Tuch gegen den vollgestopften Mund. Sie würgte und würgte.
»Sie haben wohl Zahnschmerzen, Fräulein Dahlen?« Er trat teilnehmend zu ihr.
In tödlicher Verlegenheit schüttelte Hilde den Kopf, während sich ein lautes Gelächter in der Klasse erhob.
Was dachte er wohl von ihr? – seine Augen hingen fragend an ihrem zusammengeknäuelten Taschentuch.
Mit raschem Entschluß ließ Hilde das Tuch sinken.
»Ich hatte nur solchen schrecklichen Hunger,« kam es kleinlaut in seltsam gequetschten Tönen aus Hildes vollem Munde.
Schüchtern blickten die sonst so mutwilligen Augen zu den unbeweglichen Zügen des Lehrers auf.
Jetzt aber huschte es wie Sonnenschein um seine Lippen, belustigt leuchtete es in den blauen Augen auf – was das Mädel für ein drolliges Gesicht machen konnte!
»Na, dann nehmen Sie sich Ihr Mushörnchen nur ganz ruhig vor, Fräulein Dahlen,« lachte er zum Gaudium der Klasse, »wir sind doch keine Barbaren, daß wir Sie dem Hungertode preisgeben werden.« Er schritt wieder zum Katheder.
Hilde aber schmeckte das unglückselige Mushörnchen auf einmal kein bißchen mehr.
Ihre ganze Wut, daß sie sich Doktor Werner gegenüber schon wieder einmal so kindisch benommen hatte, ließ Hilde in der nächsten Stunde an dem unschuldigen »Wickelkind« aus.
Fräulein Studienassessor Geßner, die seit kurzem am Gymnasium Geschichtsunterricht erteilte, machte wirklich, wenn sie ihre Autorität den Schülerinnen gegenüber schwinden fühlte, ein so hilfloses Kindergesicht, daß man sie allgemein das »Wickelkind« nannte.
Fast alle aus der Klasse kamen Fräulein Doktor Geßners Wunsch, sich beim Antworten von den Plätzen zu erheben, nach. Nur Hilde und einige Getreue waren nach wie vor widerspenstig und wollten sich dieses Zeichen ihrer Würde nicht rauben lassen. In unüberlegtem Mutwillen erschwerten sie der armen Lehrerin ihr neues Amt nach Möglichkeit. Und dabei verstand das »Wickelkind« es entschieden, den Unterricht interessant zu gestalten. Sie stellte kluge, anregende Fragen, und die jungen Mädchen beteiligten sich fast alle interessiert und gaben klare aufgeweckte Antworten. Auch Hilde, die im Geschichtsunterricht schon in der Schule geglänzt hatte, hätte gern teilgenommen, aber ihr Stolz gab es nicht zu. Unmöglich konnte sie sich doch beim »Wickelkind« wie ein Schulmädel melden.
Fräulein Doktor Geßner trug aus den Bauernkriegen vor. Hilde hatte fleißig darüber in Vaters Werken nachgelesen. Aber sie machte ein möglichst gleichgültiges Gesicht und tat, als ob sie gelangweilt aus dem Fenster schaute.
»Wissen Sie wirklich nicht, Hilde Dahlen, auf welche Weise Thomas Münzer sein Ende fand?« Fräulein Doktors Augen ruhten mißbilligend auf der teilnahmlosen Hilde.
»Natürlich weiß ich es.« Hilde lehnte sich überlegen auf ihren Platz zurück.
»Und warum melden Sie sich nicht?« Fräulein Geßners Stimme klang ein wenig gereizt.
»Ich bin kein Baby.« Hilde blickte starr zur Decke empor. Fräulein Doktor Geßner atmete erregt.
»Stehen Sie auf, wenn Sie mit mir sprechen.« Die klugen Züge der jungen Lehrerin wurden bleich.
Hilde blieb sitzen.
»Verstehen Sie mich nicht, Hilde Dahlen?« Ihre Stimme zitterte leicht.
»So steh' doch auf, Hildchen,« flüsterte Daisy bittend der Freundin zu.
Aber Hildens Trotz war geweckt.
Mit neugierigen Augen sahen die andern der Entwicklung des Kampfes zu. »Hilde Dahlen, bitte folgen Sie mir zum Direktor.« Fräulein Studienassessor raffte den letzten Rest ihrer Energie zusammen.
»Ich bin Obersekundanerin und kein Schulmädel,« kam es erbittert von Hildes trotzigen Lippen, »ich verlange von Ihnen dieselbe Behandlung, die uns alle übrigen Lehrer zuteil werden lassen.« Sie blieb immer noch sitzen.
Fräulein Doktor Geßner machte ihr hilflosestes Wickelkindgesicht, aber merkwürdigerweise mokierte Hilde sich nicht wie sonst darüber. Diese gequälten traurigen Augen der jungen Lehrerin taten ihr plötzlich weh.
War sie zu weit gegangen?
Gefaßt nahm Fräulein Doktor den Unterricht wieder auf, aber über ihren klugen Augen hing es wie ein verhaltener Tränenschleier. Hildes Herz schlug ungestüm. Sie wagte während der ganzen Stunde das blasse betrübte Gesicht auf dem Katheder nicht anzusehen. Sie hätte die Sache gern ungeschehen gemacht.
»Bitte noch auf ein Wort, Hilde Dahlen,« sagte die junge Lehrerin mit leiser Stimme nach Schluß der Stunde.
Hilde blieb in unbehaglicher Stimmung zurück.
»Ich sehe ein,« begann Fräulein Studienassessor mit zuckenden Lippen, »daß ich den feindlichen Strömungen hier in der Klasse nicht gewachsen bin. Ich kam mit einem Herzen voll Liebe zu Ihnen, ich hoffte freundschaftliche Gesinnung, gegenseitiges Verstehen und getreuliches Miteinanderarbeiten bei den erwachsenen Mädchen zu finden – ich habe mich getäuscht! Ihr heutiges Verhalten, Hilde Dahlen, zwingt mich, mich an eine andere Anstalt versetzen zu lassen. Ihnen, Hilde, aber wünsche ich, daß Ihnen das Leben solch bittere Stunde erspart, wie Sie mir sie heute bereitet haben.« Fräulein Doktor Geßner fuhr sich mit der Hand über die feuchtglänzenden Augen.
Hildes rosiges Gesicht hatte jähe Blässe überzogen. Ihr Atem stockte. Das war keine Strafpredigt, nein, das war tiefempfundener Seelenschmerz, der aus innerstem Herzen hervorquoll und daher auch den Weg zu Hildes warmem Herzen fand.
Sie war ja nicht schlecht – nur übermütig und eigenwillig!
Ehe es sich Fräulein Doktor versah, hatte die heißblütige Hilde beide Arme um den Hals der Lehrerin geschlungen. Ein tränenüberströmtes Gesicht preßte sich zärtlich gegen die bleiche Wange Fräulein Geßners und unter stoßweisem Schluchzen kam es von Hildes Lippen: »Ach, Fräulein Doktor, liebes Fräulein Geßner, versuchen Sie es doch nur noch einmal mit uns. Wir sind ja gar nicht so schlecht, wie Sie glauben. Gehen Sie nicht fort, Fräulein Geßner! Ich bedauere ja so sehr, Sie vorhin geärgert zu haben. Nicht wahr, Sie bleiben?« Flehentlich sahen die aufrichtigen braunen Augen die junge Lehrerin an.
Der wurde es mit einem Male ganz warm ums Herz. So hatte sie sich in Hilde Dahlen doch getäuscht, und die widerspenstige Schale verbarg einen goldenen Kern?
Warm drückte sie dem jungen Mädchen die Hand.
»Ich glaube Ihnen, Hilde,« sagte sie leise, »solche Augen können nicht lügen. Wohlan, versuchen wir es noch einmal miteinander.«
Und Fräulein Doktor Geßner hatte ihren Entschluß niemals zu bereuen.
Hilde sorgte mit wahrhaft mütterlicher Zärtlichkeit dafür, daß keine ihrem Wickelkind etwas zuleide tat; ihr, die bei allen Streichen stets die erste war, folgten die Gefährtinnen nun auch blindlings, die Stellung Fräulein Doktor Geßners in der Klasse zu festigen und ein herzliches Verhältnis zwischen ihr und den Schülerinnen zu schaffen. – Hilde aber hatte in der jungen Lehrerin eine Freundin für das ganze Leben gewonnen.