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Octave Sarrasin, der Sohn des Doctors, gehörte nicht geradezu unter die Faullenzer. Er war weder dumm noch gescheidt, weder schön noch häßlich, weder blond noch braun und überhaupt ein Muster von Mittelmäßigkeit nach allen Seiten. Im Colleg errang er sich gewöhnlich einen zweiten Preis und zwei oder drei Accessits. Beim Baccalaureats-Examen lautete seine Censur »leidlich«. Einmal bei der École centrale abgewiesen, wurde er bei einer zweiten Prüfung mit Nummer hundertsiebenzwanzig aufgenommen. Er war einer jener unentschiedenen Charaktere, einer der Geister, die sich schon mit einer unvollständigen Sicherheit zufrieden geben, die mit dem »Ungefähr« auf vertrautem Fuße stehen und durch's Leben wandeln wie ein Mondstrahl. In der Hand des Schicksals gleichen diese Leute dem Korkpfropfen auf dem Wellenkamme, Je nachdem der Wind von Norden oder Süden weht, werden sie nach dem Pole oder dem Aequator hineingetrieben. Ihre Laufbahn entscheidet nur der Zufall. Hätte sich Doctor Sarrasin nicht selbst einigen Täuschungen über den Charakter seines Sohnes hingegeben, so würde er wahrscheinlich gezögert haben, ihm jenen Brief zu schreiben; ein wenig väterliche Verblendung ist jedoch auch den besten Köpfen nachgelassen.
Zum Glück verfiel Octave gleich im Anfange seiner höheren Ausbildung der Herrschaft einer energischen Natur, deren etwas tyrannischer, aber wohlthätiger Einfluß sich ihm mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängte. Auf dem Lyceum Charlemagne, wohin ihn sein Vater zur Beendigung der Studien geschickt hatte, schloß Octave einen innigen Freundschaftsbund mit einem seiner Kameraden, einem Elsäßer, Marcel Bruckmann, der zwar ein Jahr jünger war als er, physisch geistig und moralisch aber das entschiedenste Üebergewicht über ihn behauptete. Der schon in seinem zwölften Jahre verwaiste Marcel Bruckmann besaß als Erbtheil eine kleine Rente, welche gerade hinreichte, seine Collegien zu bezahlen. Ohne Octave, der ihn während der Ferien zu seinen Eltern mitzunehmen pflegte, hätte er wohl niemals den Fuß außer den Mauern des Lyceums gesetzt.
Erklärlicher Weise wurde Doctor Sarrasin's Familie bald auch die des jungen Elsäßers. Trotz scheinbarer Kälte doch von tiefempfindsamer Natur, sagte ihm eine innere Stimme, daß er jenen braven Leuten, die ihm Vater- und Mutterstelle vertraten, sein ganzes Leben zu widmen habe. Es ging also ganz natürlich zu, daß er Doctor Sarrasin, dessen Gattin und deren hübsches und schon recht verständiges Töchterchen aufrichtig verehren lernte, doch gab er Allen seine Erkenntlichkeit nicht durch Worte, sondern mehr durch die That kund. Er stellte sich nämlich die angenehme Aufgabe, aus Jeanne, welche viel Wißbegierde zeigte, ein junges Mädchen mit klarem Verstande, mit festem, urtheilsfähigem Geiste heranzubilden, und Octave gleichzeitig zu einem, seines Vaters würdigen Sohn zu erziehen. Die Erreichung dieser Ziele machte ihm der junge Mann allerdings weniger leicht als das junge Mädchen, die für ihr Alter dem Bruder offenbar überlegen war, Marcel hatte sich aber einmal in den Kopf gesetzt, seine Aufgabe nach beiden Seiten hin zu erfüllen.
Marcel Bruckmaun gehörte zu den mannhaften und klugen Kämpen, welche Elsaß-Lothringen alljährlich zu ihrer Erprobung in den Strudel des Pariser Lebens zu entsenden pflegte. Schon als Kind zeichnete er sich ebenso durch die Kraft und Geschmeidigkeit seiner Muskeln, wie durch seine hervorragenden geistigen Anlagen aus. Er war innerlich ebenso ganz willens- und thatkräftig, wie äußerlich ein Hüne von Gestalt. Von der Schule her beherrschte ihn stets das Bedürfniß, sich in Allem auszuzeichnen, in der Arbeit wie beim Spiele, im Turnsaale wie im chemischen Laboratorium. Entging ihm ein Preis seiner jährlichen Ernte, so hielt er das Jahr für verloren. Mit zwanzig Jahren war er ein Riese an Körper, voller Leben und Thätigkeit, eine hochangespannte organische Maschine von größter Leistungsfähigkeit. Sein intelligenter Kopf erregte die Aufmerksamkeit feinerer Beobachter. Als Zweiter in die Centralschule eingetreten, hatte er beschlossen, sie nur als Erster zu verlassen.
Nur seiner unbeugsamen und für zwei Menschen völlig ausreichenden Energie verdankte Octave überhaupt seine Zulassung. Im Laufe eines Jahres hatte ihn Marcel »gedrillt«, an strenge Arbeit, auch an das schöne Bewußtsein des Erfolges gewöhnt. Ihn beseelte für diese schwächliche, schwankende Natur ein Gefühl freundschaftlichen Mitleids, ähnlich demjenigen, das ein Löwe etwa für einen jungen Hund haben kann. Es machte ihm Vergnügen, diese anämische Pflanze durch den Ueberschuß seines Lebenssaftes zu kräftigen und sie auch neben sich Früchte zeitigen zu lassen.
Der Krieg von 1870 überraschte die beiden Freunde, als sie eben mit Absolvirung ihres Examen beschäftigt waren. Sofort, nachdem der Unterricht unterbrochen worden, trat Marcel voll patriotischen Schmerzes über die Gefahren, welche Straßburg und Elsaß bedrohten, in das einunddreißigste Bataillon der Jäger zu Fuß ein. Octave folgte seinem Beispiele.
Schulter an Schulter standen beide Vorposten während der schrecklichen Belagerung von Paris. Bei Champigny erhielt Marcel eine Kugel in den rechten Arm, bei Buzeval eine Epaulette auf die linke Schulter. Octave besaß weder eine Auszeichnung noch eine Wunde. Gewiß lag dieser Mangel nicht an ihm, denn er wich auch im Feuer nie von seines Freundes Seite; kaum sechs Meter blieb er hinter jenem zurück; sechs Meter thaten eben Alles.
Nach dem Friedensschlusse und der Wiederaufnahme der gewohnten Arbeiten bewohnten die Studirenden zwei benachbarte Zimmer in einem einfachen Hause in der Nähe des Collegs. Das Unglück Frankreichs, der Verlust Elsaß' und Lothringens hatten Marcel's Charakter die ganze Reife des Mannes aufgeprägt.
»Es ist die Aufgabe der französischen Jugend,« sagte er, »die Fehler ihrer Väter wieder gut zu machen, ein Ziel, das sie nur durch ernstliche Arbeit zu erreichen vermag.«
Um fünf Uhr stand er gewöhnlich auf und nöthigte Octave ebenfalls dazu. Er geleitete ihn zum Unterricht und beim Spazierengehen und wich nie einen Fuß breit von seiner Seite. Nach Hause zurückgekehrt, ging es an die Arbeit, die wohl zuweilen durch eine Pfeife Tabak und eine Tasse Kaffee gewürzt wurde. Um zehn Uhr ging man zu Bett mit befriedigtem, wenn auch nicht zufriedenem Herzen und von geistiger Nahrung gesättigt. Von Zeit zu Zeit eine Partie Billard, ein gutes Schauspiel, in längeren Zwischenräumen ein Concert des Conservatoriums, ein Ritt bis in den Wald von Verrières, ein Spaziergang unter den Bäumen, zweimal wöchentlich ein Wettkampf im Boxen und Fechten – das waren so die Zerstreuungen der beiden Freunde. Octave versuchte zwar manchmal, sich gegen diese Ordnung aufzulehnen und ließ seine Neigung zu weniger empfehlenswerthen Vergnügungen durchschimmern. Er sprach davon, Aristide Leroux zu sehen, der in der Brauerei von St. Michel seinen Mann stellte. Marcel spottete aber so bitter über derartige Abweichungen, daß jener seine Lust meist unterdrückte.
Am 29. October 1871 saßen die beiden Stubenburschen gegen sieben Uhr Abends wie gewöhnlich an demselben Tische unter dem Schirme einer gemeinschaftlichen Lampe. Marcel war mit Leib und Seele in ein Problem der descriptiven Geometrie vertieft. Octave beschäftigte sich höchst aufmerksam mit der für ihn leider weit wichtigeren Herstellung einer Kanne Kaffee. Hierin zeichnete er sich mit Vorliebe aus, weil er damit täglich Gelegenheit fand, für einige Minuten der schrecklichen Notwendigkeit, verwirrte Gleichungen aufzulösen, eine der Aufgaben, die Marcel seiner Meinung nach gar zu häufig wiederholte, überhoben zu sein. Tropfen für Tropfen ließ er also das siedende Wasser durch eine dicke Schicht gemahlenen Mokkas sickern, ein stilles Vergnügen, das ihm volle Befriedigung gewährte. Wenn Marcel's Fleiß ihm Gewissensbisse machte, so fühlte er stets das unwiderstehliche Bedürfniß, ihn wenigstens durch sein Geplauder einmal zu stören.
»Wir werden uns wohl einen ordentlichen Durchseiher anschaffen müssen,« sagte er plötzlich. »Dieser antike Filter steht wahrlich nicht auf der Höhe der Civilisation.«
»So kauf' einen Durchseiher! Das wird mindestens dazu dienen, Dich nicht jeden Abend eine Stunde bei dieser Kocherei verspielen zu lassen!« antwortete Marcel.
Wiederum wandte er sich seinem Problem zu.
»Ein Gewölbe hat als Intrados ein Ellipsoid mit drei ungleichen Winkeln, A, B, D, E sei die Grund-Ellipse, welche die größte Achse o A = a enthält, die mittlere Achse aber o B = b, während die kleinste Achse (o, o', o1) vertical und gleich c ist, wonach das Gewölbe ein gedrücktes darstellt . . .«
In diesem Augenblick klopfte es an die Thüre.
»Ein Brief, Herr Octave Sarrasin!« rief der Hausbursche herein.
Man kann sich denken, wie lieb dem jungen Studenten diese Abwechslung war.
»Der ist von meinem Vater, bemerkte Octave. Ich erkenne die Handschrift . . . Das nennt man doch wenigstens ein Sendschreiben!« fügte er, das Papierpacket in der Hand wiegend, hinzu.
Marcel wußte so wie er, daß der Doctor in England verweilte. Als er vor acht Tagen durch Paris kam, wurde seine Anwesenheit durch ein den beiden Kameraden gegebenes Mittagsmahl im Restaurant des Hotel-Royal gefeiert, das früher berühmt, jetzt aus der Mode gekommen ist, von Doctor Sarrasin aber noch immer als das non plus ultra des Pariser Raffinements betrachtet wurde.
»Theile mir mit, was der Vater von dem hygienischen Congresse schreibt,« sagte Marcel. »Es war von ihm ein guter Gedanke, dahinzugehen. Die französischen Gelehrten verfallen zu leicht in den Fehler, sich zu isoliren.«
Marcel machte sich wieder an das Studium seines Problems.
». . . Die Extrados bestehen aus einem dem ersten ähnlichen Ellipsoid, das sein Centrum unter o1 der Verticale o haben möge. Nach Bezeichnung der Brennpunkte der drei Hauptellipsen F1, F2, F ziehen wir die Hilfsellipse und Hyperbel, deren gemeinschaftliche Achse . . .«
Da veranlaßte ihn ein Schrei Octave's den Kopf zu erheben.
»Was giebt es denn? fragte er, etwas beunruhigt über das erbleichte Gesicht seines Freundes.
»Lies selbst!« erwiderte dieser, der über die eben empfangene Nachricht ganz von Sinnen zu sein schien.
Marcel nahm den Brief, las ihn zu Ende, durchlas ihn noch einmal, warf einen Blick auf die ihn begleitenden Documente und sagte:
»Das ist merkwürdig!«
Dann stopfte er seine Pfeife und setzte sie in aller Muße in Brand. Octave hing an seinen Lippen.
»Glaubst Du, daß das Alles wahr ist,« fragte er mit zitternder Stimme.
»Wahr? . . . Natürlich. Dein Vater hat einen viel zu klaren Verstand und wissenschaftlichen Geist, als daß er sich durch eine derartige Täuschung fangen ließe. Uebrigens liegen ja die Beweise bei und die Sache ist im Grunde sehr einfach.«
Nachdem die Pfeife richtig in Ordnung gebracht war, ging Marcel auf's Neue an seine Arbeit. Octave stand mit schlotternden Armen dabei, unfähig, nur noch den Kaffee zu Stande zu bringen, viel weniger vermögend, einen logischen Gedanken zu erfassen. Er fühlte sich aber gedrängt zu sprechen, nur um sich zu überzeugen, daß er nicht träume.
»Aber . . . wenn das wahr ist, so stellt das Alles auf den Kopf! . . . Weißt Du wohl, daß eine halbe Milliarde ein wahrhaft enormes Vermögen darstellt?«
Marcel erhob wie zur Bestätigung den Kopf.
»Enorm ist das richtige Wort. Es giebt vielleicht kein ähnliches in ganz Frankreich; man kennt nur wenig solche Vermögen in den Vereinigten Staaten und fünf oder sechs in England, fünfzehn oder zwanzig in der ganzen Welt.«
»Und ein Titel noch obendrein!« rief Octave, »ein Baronets-Titel! Ich habe gewiß niemals darnach gestrebt, einen solchen zu besitzen, da sich dieser aber von selbst bietet, so muß man doch wohl zugestehen, daß er einen eleganteren Klang hat als der bloße Name Sarrasin.«
Marcel blies eine dicke Rauchwolke vor sich her, sagte aber kein Wort, Diese Wolken sagten ja deutlich genug: »Bah! . . . Bah!«
»Ich hätte es,« fuhr Octave fort, »gewiß nie so gemacht wie viele Menschen, welche ihrem ehrlichen Namen ein Partikelchen anhängen oder sich ein papierenes Marquisat erkaufen! Doch einen echten authentischen Titel zu besitzen, der völlig regelrecht in die ›Peerage‹ Großbritanniens und Irlands eingetragen ist, ohne daß darüber ein Zweifel oder Einspruch aufkommen kann, wie das sonst so häufig geschieht . . .«
Die Pfeife Marcel's wiederholte immer ihr »Bah . . . Bah!«
»Du magst nun dagegen sagen, was Du willst, mein Lieber,« fuhr Octave mit Wärme fort, »aber ›das Blut ist doch etwas besonderes‹, wie die Engländer sagen.«
Er hielt vor dem spöttischen Blicke Marcel's ein wenig ein und kam wieder auf seine Millionen zurück.
»Erinnerst Du Dich,« plauderte er weiter, »daß Binôme, unser Mathematik-Professor, in seiner ersten Stunde jedes Unterrichtsjahres regelmäßig wiederkäute, daß eine halbe Milliarde eine größere Zahl ist, als daß der menschliche Geist sich von ihr eine einigermaßen richtige Vorstellung zu machen im Stande wäre, wenn man nicht die graphische Darstellung zu Hilfe nähme? . . . Du weißt wohl noch, daß ein Mann, selbst wenn er jede Minute einen Franc verausgabte, mehr als tausend Jahre brauchte, um mit jener Summe fertig zu werden. O, wahrhaftig . . . es ist doch ein eigentümliches Gefühl, sich zu sagen, daß man der Erbe einer halben Milliarde Francs ist!«
»Eine halbe Milliarde Francs,« wiederholte Marcel mehr erregt durch das Wort als die Sache selbst. »Weißt Du auch, was Ihr am besten damit anfangen könntet? Ihr solltet sie Frankreich schenken zur Bezahlung seiner Kriegsschulden! Das Vaterland brauchte nur zehnmal so viel! . . .«
»Laß um Himmels willen meinem Vater gegenüber von einem solchen Gedanken nichts verlauten! . . .« rief Octave erschreckt. »Er wäre im Stande, darauf einzugehen. Ich sehe schon kommen, daß er selbst über ein ähnliches Project nachdenken wird . . . es mag noch hingehen, dem Staate das Capital zu verschreiben, aber die Rente davon müßten wir mindestens für uns behalten!«
»Sieh da, Du bist ja, ohne davon eine Ahnung zu haben, ein geborner Kapitalist!« erwiderte Marcel. »Dennoch sagt mir ein gewisses Etwas, mein armer Octave, daß es für Dich besser gewesen wäre – wenn nicht auch für Deinen Vater, der doch klaren Kopf und Sinn hat – daß diese ungeheure Erbschaft sich auf bescheidenere Dimensionen beschränkte. Ich sähe es weit lieber, Du hättest mit Deiner braven kleinen Schwester eine Rente von fünfundzwanzigtausend Pfund zu verzehren, als diesen Berg von Gold!« Er ging wieder an seine Arbeit.
Auch Octave war es unmöglich, ganz müßig zu bleiben, und er wanderte deshalb so hastig im Zimmer auf und ab, daß sein Freund endlich ungeduldig wurde.
»Du würdest besser thun, in die Luft zu gehen,« sagte er, »heute Abend bist Du doch für alles Andere untauglich.«
»Du hast recht!« antwortete Octave, der mit Freuden diese halbe Erlaubniß ergriff, jeder Art von Arbeit zu entschlüpfen.
Schnell griff er nach dem Hute, eilte die Treppen hinab und befand sich auf der Straße. Nach kaum zehn Schritten machte er schon wieder unter einem Gascandelaber Halt, um den Brief seines Vaters noch einmal zu durchlesen. Er fühlte das Bedürfniß, sich zu überzeugen, daß er wirklich wach sei.
»Eine halbe Milliarde! . . . Eine halbe Milliarde . . .« wiederholte er sich immer. »Das giebt mindestens fünfundzwanzig Millionen Rente . . . Wenn mir mein Vater jährlich nur eine zum Unterhalte gewährt, nur eine halbe, nur eine viertel davon, so wäre ich ja glücklich. Mit Geld läßt sich gar viel anfangen! Gewiß würde ich es weise anwenden. Ich bin doch kein Dummkopf, nicht wahr? . . . Man hat ja in der École centrale Aufnahme gefunden! . . . Dazu besitze ich auch einen Titel! . . . Ich werde ihm keine Schande machen!«
Im Vorbeigehen sah er sich in den Spiegelscheiben eines Ladens.
»Ich werde ein Hotel haben und Pferde! . . . Marcel natürlich ganz wie ich. Von dem Augenblicke an, wo ich reich bin, ist es ganz dasselbe, als ob er es wäre. Das versteht sich von selbst! . . . Eine halbe Milliarde! . . . Baronet! . . . Es ist drollig; jetzt, da es gekommen ist, scheint es mir, als hätte ich schon darauf gewartet. Eine innere Stimme sagte mir, daß ich nicht dazu auserlesen sei, ewig über Büchern zu brüten und Gleichungen zu enträthseln! . . . Doch wie dem auch sei, es ist doch ein schöner Traum!«
Octave wanderte mit derlei Gedanken im Kopfe längs der Arcaden der Rivoli-Straße hin. Er kam nach den Elysäischen Feldern, bog um die Ecke der Rue Royale und gelangte nach dem Boulevard. Früher fiel sein Blick theilnahmslos auf die Schaufenster mit ihren glänzenden Ausstattungen, die er als unnütze Sachen betrachtete, welche ihn nichts angingen. Heute blieb er davor stehen und empfand mit freudiger Erregung, daß alle diese Schätze ihm gehörten, wenn er nur wollte.
»Für mich,« sagte er, »drehen die Spinnerinnen Hollands ihre Spindeln, für mich erzeugt Elboeuf seine geschmeidigsten Gewebe, construiren die Uhrmacher die feinsten Chronometer, strahlt der Kronleuchter der großen Oper sein Meer von Licht, klingen die Geigen und schreien sich die Sängerinnen heiser! Für mich züchtet man Vollblut in den Manegen und erstrahlt das Café Anglais in vollem Glanze! . . . Paris ist mein! . . . Alles gehört mir! . . . Sollte ich nicht auf Reisen gehen? Nicht meine Baronie in Indien besuchen? Da könnte ich einmal eine Pagode kaufen, sowie die bronzenen und elfenbeinernen Idole über den Marktpreis bezahlen! . . . Dann schaffte ich mir Elefanten an . . . ginge auf die Tigerjagd! . . . Und die herrlichen Gewehre! . . . Das prächtige Boot! . . . Ein Boot? Ei nein, aber eine schöne tüchtige Dampfyacht, die mich hinbringt, wohin ich will und anhält und abfährt nach meinem Belieben. Halt, da ich eben beim Dampf bin, meiner Mutter werd' ich doch Nachricht zugehen lassen müssen. Wenn ich nun nach Douai führe? . . . Aber jetzt ist Unterrichtszeit . . . o, das Colleg, man kann ja wohl einmal fehlen. Aber Marcel muß davon wissen. Ich werde ihm eine Depesche senden, er muß doch begreifen, daß es mich drängt, unter solchen Umständen meine Mutter und meine Schwester zu sehen.« Octave trat in ein Telegraphenbureau, meldete seinem Freunde, daß er abreise und in zwei Tagen zurückkehren werde. Dann sprang er in einen Fiaker und ließ sich nach dem Nordbahnhof fahren.
Sobald er im Waggon saß, setzte er seine Träumereien fort.
Um zwei Uhr Morgens läutete Octave geräuschvoll an der Thüre seines Vaterhauses – an der Nachtklingel – und setzte das friedliche Stadtviertel des Aubette in Aufregung.
»Wer mag denn so krank sein?« fragten sich die Gevattern von einem Fenster zum andern.
»Der Doctor ist nicht in der Stadt!« rief die alte Magd aus ihrer Luke in der obersten Etage herab.
»Ich bin's, Octave! . . . Machen Sie schnell auf, Francine!« Nach längerem Warten gelang es Octave, in das Haus einzudringen. Seine Mutter und die Schwester Jeanne liefen eiligst in Nachtkleidern herbei, um die Ursache seines plötzlichen Besuches zu erfahren. Der mit lauter Stimme vorgelesene Brief des Doctors lieferte schnell den Schlüssel zu diesem Räthsel.
Madame Sarrasin war einen Augenblick ganz außer sich. Mit Freudenthränen im Auge, umarmte sie ihren Sohn und ihre Tochter. Es schien ihr, als gehöre ihnen nun die ganze Welt und als könnte das Unglück unmöglich jemals die jungen Leute treffen, welche jetzt einige hundert Millionen besaßen. Die Frauen sind indeß weit mehr als die Männer dazu geschaffen, große Schicksalswandlungen zu ertragen, Madame Sarrasin durchlas den Brief ihres Gatten noch einmal, sagte sich, daß es seine Sache wäre, über ihr Geschick und das der Kinder zu bestimmen, und die Ruhe zog damit wieder in ihr Herz ein. Jeanne schien über die Freude ihrer Mutter und ihres Bruders beglückt zu sein; ihr dreizehnjähriges Köpfchen selbst aber träumte von keinem größeren Glücke, als sie in diesem kleinen Hause schon genoß, wo sich ihr Leben zwischen dem Unterrichte der Lehrer und den Liebkosungen der Eltern in Frieden und Freuden abspielte. Sie hatte keine besondere Vorstellung davon, warum einige Stöße Banknoten mehr in ihrer Lebensweise eine besondere Veränderung hervorbringen sollten, und machte sich deshalb über die Zukunft keine besonderen Sorgen.
Madame Sarrasin, sehr jung schon die Gattin eines gänzlich mit seinen stillen Studien beschäftigten Fachgelehrten, respectirte die Liebhaberei ihres Mannes, den sie zärtlich liebte, wenn sie ihn auch nicht immer verstand. Da sie das Glück, das Doctor Sarrasin in seiner Arbeit fand, nicht zu theilen vermochte, fühlte sie sich wohl manchmal etwas vereinsamt an der Seite dieses fleißigen Forschers und wandte ihre Liebe, ihre Hoffnungen nur destomehr ihren Kindern zu. Für sie träumte sie immer eine glänzende Zukunft, welche ihnen unzweifelhaft bevorstehen müsse. Octave – daran zweifelte sie keinen Augenblick – war gewiß noch zu höheren Dingen berufen. Seit seinem Eintritte in die Centralschule hatte sich die bescheidene und nützliche Akademie für junge Ingenieure in ihrer Vorstellung zu einer Pflanzschule berühmter Männer erhoben. Ihre einzige Beunruhigung hatte den Grund darin, daß sie ihr geringes Vermögen für ein Hinderniß, für eine Schwierigkeit ansah, welches die glorreiche Laufbahn ihres Sohnes hemmen und auch der einstigen Lebensstellung ihrer Tochter schaden könne. Was sie jetzt freilich aus dem Schreiben ihres Mannes ersah, sagte ihr, daß sie solche Befürchtungen fallen lassen könne. Jetzt war ihre Befriedigung vollständig.
Mutter und Sohn verbrachten einen großen Theil der Nacht plaudernd und Pläne entwerfend, während die mit der Gegenwart zufriedene und um die Zukunft unbesorgte Jeanne in einem Lehnstuhl friedlich eingeschlummert war.
Endlich wollten sich auch die beiden Anderen einige Ruhe gönnen.
»Du hast mir noch gar nichts von Marcel mitgetheilt,« sagte Madame Sarrasin zu ihrem Sohne. »Setztest Du ihn von dem Briefe des Vaters etwa gar nicht in Kenntniß? Was meint er dazu?«
»O,« erwiderte Octave, »Du kennst ja Marcel! Er ist mehr als ein Gelehrter, er ist ein Stoiker vom Kopf bis zu den Zehen! Ich glaube, er erschrak über die Größe dieser Erbschaft, d. h. in Bezug auf uns; den Vater nahm er davon aus, dessen gesunder Sinn, wie er sagte, und tiefe wissenschaftliche Bildung ihn beruhigte. Zum Teufel, aber was Dich betrifft, Mutter, und Jeanne auch und vorzüglich mich, so verhehlte er nicht, daß er eine geringere Erbschaft, so etwa fünfundzwanzigtausend Pfund Rente, weit lieber gesehen hätte . . .«
»Marcel hat vielleicht so unrecht nicht,« antwortete Madame Sarrasin mit einem Blick auf ihren Sohn. »Ein plötzlicher Glücksfall birgt für gewisse Naturen nicht selten seine Gefahren!«
Jeanne war eben wieder erwacht und hatte nur die letzten Worte ihrer Mutter gehört.
»Du weißt, Mama,« sagte sie, sich die Augen reibend und nach ihrem Kämmerchen wankend, »Du weißt, was Du mir eines Tages gesagt hast, daß Marcel immer recht habe! Ich, ich glaube, was unser Freund Marcel für wahr hält!«
Jeanne umarmte noch ihre Mutter und verschwand.