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Des Stahlkönigs Haß gegen Doctor Sarrasin und dessen Bestrebungen war Niemandem ein Geheimniß. Man wußte, daß er absichtlich seine Stadt gegenüber der anderen gegründet hatte. Immerhin lag doch ein weiter Zwischenraum zwischen diesem Schritte und der Absicht, die letztere durch einen Gewaltstreich ohne Gleichen zu zerstören. Der »New-York Herald« meldete das Unerhörte aber schwarz auf weiß. Die Correspondenten des mächtigen Journals hatten Herrn Schultze's Geheimnisse erspäht und – sie sagten es ja – jetzt war keine Stunde zu verlieren!
Der würdige Doctor saß anfangs ganz betäubt da. So wie jeder brave Mann sträubte er sich lange, das Entsetzliche zu glauben. Es schien ihm unmöglich, daß Jemand sich so weit verirren könne, eine Stadt, welche gewissermaßen das allgemeine Eigenthum der Menschheit bildete, ohne Ursache, aus reiner Prahlerei, vernichten zu wollen.
»Bedenken Sie doch,« rief er in aller Unschuld aus, »daß unsere Sterblichkeit dieses Jahr nur ein und ein Viertel Procent betragen würde; daß wir keinen Knaben von zehn Jahren haben, der nicht lesen könne, daß seit der Gründung France-Villes keine Mordthat, kein Diebstahl vorgekommen ist! Und nun sollten Barbaren kommen, einen so glückverheißenden Versuch in seinem Anfange zu nichte zu machen? Nein, ich kann es nicht glauben, daß ein Chemiker, ein Gelehrter, und wäre es hundertmal ein Deutscher, solcher Verruchtheit fähig wäre!«
Nichtsdestoweniger durfte man die Warnung einer dem Werke des Doctors befreundeten Zeitung nicht unbeachtet lassen. Nach Ueberwindung der ersten Bestürzung wandte sich der Doctor, der seiner wieder Herr geworden, an seine Freunde.
»Meine Herren,« begann er, »Sie sind Mitglieder des Stadtrates, es liegt ihnen nicht weniger ob als mir, alle zur Rettung der Stadt nöthigen Maßregeln zu ergreifen. Was haben wir zunächst zu thun?«
»Giebt es keine Möglichkeit eines gütlichen Ausgleichs?« fragte Herr Lentz. »Ist der Kampf ehrenvoller Weise zu vermeiden?«
»Gewiß nicht,« fiel Octave ein, »Herr Schultze sucht ihn offenbar um jeden Preis. Sein Haß wird jede Verständigung vereiteln!«
»So sei es,« rief der Doctor, »vielleicht sind wir doch im Stande, ihm gebührend zu antworten. Meinen Sie, Colonel, daß wir im Stande sind, den Kanonen von Stahlstadt Widerstand zu leisten?«
»Jede menschliche Kraft kann offenbar durch eine andere menschliche Kraft überwunden werden,« erwiderte Colonel Hendon, »doch dürfen wir gar nicht daran denken, uns durch dieselben Mittel und Waffen, mit denen Herr Schultze jedenfalls angreifen wird, vertheidigen zu wollen. Die Herstellung von Kriegsmaschinen, die gegen die seinigen zu kämpfen vermöchten, erfordern eine viel zu lange Zeit, und ich bezweifle überhaupt, daß wir damit zu Stande kämen, da uns die dazu nöthigen Werkstätten gänzlich fehlen. Für unsere Rettung giebt es nur den einen Weg, den Feind uns fern zu halten und jede Belagerung unmöglich zu machen.«
»Ich werde sofort die Rathsversammlung berufen!« sagte Doctor Sarrasin.
Mit diesen Worten schritt er schon seinen Gästen nach dem Arbeitszimmer voran.
Letzteres bildete ein einfach ausgestatteter, auf drei Seiten mit Büchergestellen erfüllter Raum, dessen vierte Seite unter einigen Gemälden und Kunstwerken eine Reihe numerirter, etwa einer Hörrohrmündung ähnlicher Apparate einnahm.
»Dank dem Telephon,« sagte er, »können wir in France-Ville eine Verhandlung abhalten, während jeder Theilnehmer zu Hause bleibt.«
Der Doctor berührte den Drücker eines Anrufglocken-Systems, das gleichzeitig in den Behausungen sämmtlicher Rathsmitglieder ertönte. In weniger als drei Minuten verkündete die durch jeden Leitungsdraht zugeführte Antwort: »Gegenwärtig!« daß der Rath versammelt war.
Der Doctor setzte sich nun vor seinem Sprechapparat, klingelte und sagte:
»Die Sitzung ist eröffnet. Mein ehrenwerther Freund, Colonel Hendon, hat das Wort, um dem Stadtrathe eine höchst wichtige Mittheilung zu machen.«
Darauf nahm der Colonel den Platz vor dem Telephon ein, verlas zuerst den Artikel aus dem »New-York Herald« und beantragte, daß sofort die nöthigen Maßregeln beschlossen würden.
Kaum hatte er geendet, als Nr. 6 die Frage stellte:
»Hält der Colonel eine Verteidigung auch dann noch für möglich, wenn sich die von ihm vorgeschlagenen Mittel zur Fernhaltung des Feindes als unzureichend erweisen sollten?«
Colonel Hendon antwortete bejahend. Frage und Antwort waren inzwischen augenblicklich auch den anderen nicht sichtbaren Theilnehmern der Sitzung ebenso zu Ohren gekommen, wie die vorher gegangenen Erklärungen.
Nr. 7 fragte an, wie viel Zeit ihnen zur Vorbereitung des Kampfes bleiben würde.
Der Colonel vermochte das nicht zu bestimmen, meinte aber, man solle an's Werk gehen, als stehe der Angriff schon in vierzehn Tagen bevor.
Nr. 2: »Sollen wir den Angriff abwarten oder halten Sie es für rathsamer, demselben zuvorzukommen?«
»Unsere Lage verlangt das letztere,« antwortete der Colonel, »und wenn uns z. B. eine Landung von der Seeseite her droht, werden wir Herrn Schultze's Schiffe durch Torpedos zu sprengen suchen!«
Auf diese Aeußerung hin erbot sich Doctor Sarrasin, ein Comité der hervorragendsten Chemiker und der erfahrensten Artillerie-Officiere zu berufen, um diesem die Prüfung der von Colonel Hendon zu machenden Vorschläge zu überweisen.
Frage des Telephons Nr. 1:
»Welcher Geldsumme bedarf es zur schleunigsten Fertigstellung der Vertheidigungsmittel?«
»Wir brauchen etwa fünfzehn bis zwanzig Millionen Dollars.«
Nr. 4: »Ich beantrage, sofort eine allgemeine Bürgerversammlung einzuberufen.«
Präsident Sarrasin: »Ich bringe diesen Antrag zur Abstimmung!«
Zwei aus jedem Telephon ertönende Glockenschläge meldeten dessen einstimmige Annahme.
Es war jetzt achtundeinhalb Uhr. Die Sitzung hatte kaum achtzehn Minuten gedauert und Niemand aus seiner Ruhe gestört.
Die Volksversammlung wurde hierauf durch ein ebenso einfaches als schnell wirksames Mittel einberufen. Kaum hatte Doctor Sarrasin, immer mittelst Telephon, den Beschluß des Rathsgremiums nach dem Stadthause gemeldet, als schon auf allen bei den 280 Straßenkreuzungen der Stadt angebrachten Säulen eine elektrische Glocke ertönte. Diese Säulen überragte ein beleuchtetes Zifferblatt, dessen durch Elektricität bewegte Zeiger sofort auf acht und ein halb Uhr – die Stunde der Einberufung – eingestellt wurden.
Alle Bewohner, denen durch jene eine Viertelstunde über andauernden Glockenzeichen eine gleichzeitige Meldung zuging, eilten aus den Häusern, richteten die Blicke nach dem ihnen nächsten Zifferblatte und verloren, überzeugt, daß eine nationale Pflicht sie nach dem Stadthause riefe, keinen Augenblick, sich dahin zu begeben.
In kürzester Zeit war die Versammlung vollzählig. Doctor Sarrasin befand sich schon auf seinem Ehrenplatze, umgeben von den Mitgliedern des Rathes. Colonel Hendon wartete am Fuße der Tribüne nur, daß ihm das Wort ertheilt würde.
Die meisten Anwesenden kannten schon die Hiobspost, welche Veranlassung zu diesem Meeting gab. Die von dem Telephon des Stadthauses automatisch niedergeschriebene Verhandlung des Rathes war sofort an die Journale versendet worden, welche sie als Extrablatt durch öffentlichen Anschlag bekannt gaben.
Der Stadthaussaal bildete einen großartigen, glasüberdachten Raum mit vorzüglicher Ventilation, über den lange, an den eisernen Gewölbträgern angebrachte Gasflammenreihen ihr gleichmäßiges, überreiches Licht ergossen.
Ringsumher stand die ruhige, erwartungsvolle Menge. Jedes Antlitz glänzte heiter. Das Vollgefühl von Gesundheit, die Gewohnheit eines regelmäßig geordneten Lebens und das Bewußtsein der eigenen Kraft ließen bei Niemandem eine besondere Erregung oder gar eine zornige Hitze aufkommen.
Kaum ertönte das Glockenzeichen des Vorsitzenden, als auch schon die vollkommenste Ruhe herrschte.
Der Colonel betrat die Tribüne.
Mit tiefer starker Stimme, ohne unnützen Redeschmuck und nichtssagende Floskeln – in der Sprache der Leute, welche wissen, was sie sagen und sich über ihren Gegenstand mit Klarheit verbreiten, weil sie denselben beherrschen – schilderte Colonel Hendon Herrn Schultze's tiefwurzelnden Haß gegen Frankreich, gegen Sarrasin und sein Werk, und nach dem »New-York Herald«, die furchtbaren Vorbereitungen zur Vernichtung France-Villes und seiner Bewohner.
»An diese selbst tritt nun die Forderung heran, den besten Ausweg zu suchen, fuhr er dann fort. Leute ohne Muth und Vaterlandsliebe würden vielleicht vorziehen, zurückzuweichen und den Angreifern die neue Heimat zu überlassen. Ich bin jedoch im Voraus überzeugt, daß solche kleinmüthige Vorschläge in den Herzen meiner Mitbürger kein Echo finden werden. Die Männer, welche die Tragweite der von den Gründern France-Villes erstrebten Ziele begriffen und sich den Gesetzen der Musterstadt unterwerfen konnten, diese Männer sind nothwendig auch Leute, die Kopf und Herz auf dem rechten Flecke haben. Als aufrichtige und streitbare Vertreter des Fortschrittes werden sie gern Alles thun, dieses Gemeinwesen ohne Gleichen, dieses preiswerthe Denkmal, das der Kunst, das Menschenloos zu verbessern, errichtet wurde, zu retten! Ja, es ist ihre Pflicht, auch das Leben in die Schanze zu schlagen für die Sache, die sie vertreten!«
Ein ungeheurer Beifallssturm folgte diesen mannhaften Worten.
Verschiedene Redner schlossen sich den Aeußerungen Colonel Hendon's vollinhaltlich an.
Doctor Sarrasin betonte die Nothwendigkeit der sofortigen Constituirung eines Vertheidigungsrathes, der unter unentbehrlicher Geheimhaltung seiner Operationspläne die dringendsten Maßnahmen aus eigener Machtvollkommenheit zu treffen habe. (Ohne Discussion angenommen.)
Während der Sitzung brachte ein Rathsmitglied noch in Anregung, daß es sich empfehlen möchte, für die ersten Arbeiten einen vorläufigen Credit von fünf Millionen Dollars auszuwerfen. Alle Hände erhoben sich zustimmend.
Um zehn Uhr fünfundzwanzig Minuten schloß die Versammlung und schon wollten sich die Bewohner France-Villes nach der Erledigung der Anführer-Wahl zurückziehen, als sich ein unerwarteter Zwischenfall ereignete.
Die eben leerstehende Tribüne erklomm ein Unbekannter von sehr fremdartiger Erscheinung.
Der Mann schien wie durch Zauberei emporgeschnellt. Sein energisches Gesicht verrieth die gewaltigste Aufregung, während sein Auftreten die ruhigste Entschlossenheit zeigte. Die halbzerfetzte Kleidung voller Schmutz und Schlamm und die noch blutige Stirne ließen erkennen, daß er manche Fährlichkeit überwunden haben möge.
Bei seinem Anblick blieben Alle stehen. Durch nicht mißzudeutende Handbewegungen gebot der Unbekannte der Versammlung Ruhe.
Wer war er? Woher kam er? Niemand, selbst Doctor Sarrasin nicht, dachte daran, ihn darum zu fragen.
Neber seine Persönlichkeit erhielt man doch bald einigen Aufschluß.
»Ich bin aus Stahlstadt entflohen,« sagte er, »Herr Schultze hatte mich zum Tode verurtheilt, Gottes Gnade verdanke ich es, bis zu Euch gelangt zu sein, um in Zeiten eine Rettung zu versuchen. Mein verehrter, väterlicher Freund, Doctor Sarrasin, wird gewiß bestätigen, daß man, wenn mein jetziges Aussehen mich auch ihm selbst unkenntlich macht, zu Marcel Bruckmann einiges Vertrauen haben kann!«
»Marcel!« riefen der Doctor und Octave wie aus einem Munde.
Beide eilten auf ihn zu . . .
Eine erneute Handbewegung hielt sie zurück.
In der That, das war der wunderbar errettete Marcel. Nachdem er, eben als er besinnungslos zusammenbrach, das Gitter des Kanals gesprengt, riß die Strömung seinen fast leblosen Körper mit sich fort. Zum Glück schloß jenes Gitter auch die Umwallung von Stahlstadt ab, und zwei Minuten später wurde Marcel draußen auf den Bachesrand geworfen – jetzt ein freier Mann, wenn er noch einmal auflebte.
Lange Stunden hindurch lag der muthige Jüngling ohne Bewegung, in finsterer Nacht und einsamer Gegend ohne alle Hilfe.
Als er wieder zu sich kam, war es schon hell geworden. Allmälig kehrte ihm auch die Besinnung wieder. Gott sei Dank, endlich war er dem vermaledeiten Stahlstadt entronnen und kein Gefangener mehr! Alle seine Gedanken strebten zu Doctor Sarrasin, seinen Freunden, seinen Landsleuten.
»Zu ihnen! Zu ihnen!« rief er laut.
Mit äußerster Anstrengung gelang es Marcel, sich aufzurichten.
Zehn Meilen trennten ihn von France-Ville, zehn Meilen, die er ohne Eisenbahn, Pferd oder Wagen durch das rings um Stahlstadt verlassene Land zurücklegen mußte. Ohne sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen, überwand er diese Strecke und langte um zehn ein Viertel Uhr bei den ersten Häusern der Stadt des Doctor Sarrasin an.
Hier klärten ihn schon die Maueranschläge über die Lage auf. Er erfuhr, daß die Bewohner von der ihnen drohenden Gefahr Kenntniß hatten; er sagte sich aber auch, daß diese weder wissen konnten, wie nahe sie über ihnen schwebte, noch viel weniger, von welcher Art dieselbe sei.
Die von Herrn Schultze beabsichtigte Katastrophe sollte noch heute Abend um elf Uhr fünfundvierzig Minuten hereinbrechen . . . jetzt war es fünfzehn Minuten nach zehn!
Eine letzte Anstrengung stand ihm noch bevor. Marcel stürmte durch die Stadt, was er nur laufen konnte, und um zehn Uhr fünfundzwanzig Minuten, eben als die Versammlung auseinander gehen wollte, stand er, ohne zu fragen, auf der Tribüne.
»Nicht nach einem Monate, meine Freunde, rief er, selbst nicht erst nach einer Woche droht Euch das Unheil zu erreichen. Vor Ablauf einer Stunde soll eine Katastrophe ohne Gleichen, ein Regen von Eisen und Feuer über Eure Stadt hereinbrechen. Eine wahre Höllenmaschine, welche zehn Meilen weit trägt, wird jetzt, da ich hier spreche, schon gegen sie gerichtet. Ich habe jene mit eigenen Augen gesehen! Mögen Frauen und Kinder Schutz suchen in den festesten Kellern oder bringt sie vorläufig aus der Stadt hinaus auf die Berge. Alle kräftigen Männer müssen sich zum Feuerlöschen bereit halten. Für jetzt ist das Feuer Euer einziger Feind! Weder Armeen noch Soldaten marschiren gegen Euch. Der Gegner, der Euch bedroht, verschmäht solch' alltägliche Angriffsmittel. Wenn sich die Pläne, die Rechnungen eines Mannes, dessen Herrschaft über das Böse anerkannt ist, verwirklichen, wenn Herr Schultze sich nicht zum ersten Male geirrt hat, so wird in France-Ville auf einmal an hundert Stellen Feuer ausbrechen! An hundert Orten werden wir gleichzeitig dem verheerenden Elemente entgegentreten müssen. Was aber auch kommen möge, zuerst gilt es, die Bevölkerung zu retten, denn sollten auch Eure Häuser, Denkmäler, ja schlimmstenfalls selbst die ganze Stadt zu Grunde gehen – diesen Verlust vermögen Zeit und Geld ja zu ersetzen!«
In Europa würde man Marcel für einen Narren gehalten haben. In Amerika pflegt man jedoch kein Wunder der Wissenschaft, und wäre es noch so unerwarteter Natur, von vornherein zu leugnen. Man hörte den jungen Ingenieur ruhig an und schenkte ihm, auf Doctor Sarrasin's Versicherung hin, vollen Glauben.
Mehr noch durch den Nachdruck des Redners als durch seine Worte bezwungen, gehorchte ihm die Menge, ohne neue Verhandlungen zu beginnen. Doctor Sarrasin bürgte für Marcel Bruckmann. Das genügte.
Sofort wurden die nöthigen Verordnungen erlassen, zu deren Verbreitung sich zahlreiche Boten nach allen Seiten zerstreuten.
Von den Bewohnern der Stadt selbst kehrten die Einen nach ihren Behausungen zurück und flüchteten in die Keller, bereit, die Schrecken eines Bombardements über sich ergehen zu lassen; die Anderen eilten zu Fuß, zu Pferde und zu Wagen hinaus in's Feld und sammelten sich auf den ersten Abhängen der Cascadenberge. Währenddessen vertheilten sich die kräftigen Männer nach den von dem Doctor Sarrasin bezeichneten Stellen und schafften Alles herzu, was zur Dämpfung einer Feuersbrunst dienen konnte, nämlich Wasser, Sand und Erde.
Im Sitzungssaale spannen sich die Verhandlungen noch in der Form von Zwiegesprächen fort.
Da schien es aber, als sei Marcel plötzlich von einem Gedanken erfaßt, der nicht aus seinem Gehirn weichen wollte. Er sprach nicht mehr, sondern seine Lippen murmelten nur noch die einzigen Worte:
»Um drei Viertel zwölf Uhr! Wäre es möglich, daß dieser verfluchte Schultze uns durch seine teuflische Erfindung vernichten sollte? . . .«
Plötzlich zog Marcel ein Notizbuch aus der Tasche. Er deutete ringsum an, daß er völlige Ruhe wünsche, und warf mit fieberhaft zitternder Hand einige Ziffern auf das Papier. Dann ward seine Stirne allmälig heiterer und sein Antlitz leuchtete wieder auf.
»O, meine Freunde,« rief er laut, »entweder sind diese Zahlen hier Lügner, oder Alles, was wir befürchten, löst sich in Nichts auf wie ein Alpdrücken vor dem Ergebniß eines ballistischen Problems, dem ich lange vergeblich auf den Grund zu kommen suchte. Herr Schultze hat sich geirrt. Die uns drohende Gefahr ist nur ein Traum. Diesmal ist seine Weisheit eitel Dunst. Es wird, es kann nichts von dem eintreffen, was er beabsichtigte! Sein entsetzliches Geschoß wird über France-Ville hinwegfliegen, ohne ihm zu nahe zu kommen, und wenn irgend etwas zu fürchten ist, so ruht das noch im Schooße der Zukunft!«
Was wollte Marcel hiermit sagen? Niemand verstand ihn.
Da setzte der junge Elsäßer das Resultat seiner eben durchgeführten Rechnung den erstaunten Zuhörern auseinander. Mit klarer, noch schwach zitternder Stimme führte er seine Beweise so schlagend, daß sie auch jeden Uneingeweihten überzeugen mußten. Da ward es Licht nach der Finsterniß und friedliche Ruhe nach der Todesangst. Das Geschoß konnte nämlich nicht allein die Stadt des Doctors nicht, sondern es konnte »überhaupt nichts« treffen. Es mußte sich im Weltraume verlieren! . . .
Doctor Sarrasin prüfte und bestätigte die Aussagen Marcel's und wies dann mit dem Finger nach dem Zifferblatte der Uhr im Saale.
»Binnen drei Minuten,« sagte er, »werden wir wissen, ob Schultze oder Marcel Bruckmann Recht hat! Doch, wie dem auch sei, liebe Freunde, bedauern wir nicht die getroffenen Vorsichtsmaßregeln und vernachlässigen wir nichts, was die Henkerpläne unseres Feindes zu kreuzen vermag! Sein Schuß wird das Ziel verfehlen, wie Marcel uns eben versichert, aber es dürfte nicht der letzte sein. Schultze's Haß wird sich nicht für geschlagen ansehen und ihn dem einmaligen Mißerfolge gegenüber zum Verzicht auf weitere Versuche bringen.«
»Kommt, kommt!« rief Marcel.
Alle eilten mit ihm hinaus nach dem großen Platze.
Die drei Minuten verflossen. Jetzt schlugen die Thurmuhren drei Viertel elf Uhr! . . .
Vier Secunden später rauschte eine dunkle Masse hoch in der Luft über die Köpfe der erwartungsvollen Menge hinweg und verlor sich, schnell wie ein Gedanke, mit unheimlichem Sausen in der Ferne.
»Glückliche Reise!« rief Marcel hell auflachend. »Bei solcher Anfangs-Geschwindigkeit kann das Geschoß des Herrn Schultze, das jetzt schon die Grenzen der Atmosphäre verlassen hat, nicht mehr auf den Erdboden zurückfallen!«
Zwei Minuten später ließ sich eine Detonation vernehmen, so als wenn ein dumpfes Grollen aus den Eingeweiden der Erde heraustönte.
Das war der Donner der Kanone vom Stierthurme, der erst 113 Secunden nach dem Vorüberfliegen des Geschosses hörbar ward, da letzteres mit weit größerer, wahrhaft fabelhafter Schnelligkeit dahinraste.