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Der Leser, der dem Geschick des jungen Elsäßers folgte, wird sich kaum darüber wundern, diesen schon nach einigen Wochen als Vertrauten des Herrn Schultze wiederzufinden. Beide waren fast unzertrennlich geworden. Arbeiten, Mahlzeiten, Spaziergänge im Parke, lange Pfeifen beim schäumenden Bierkrug – Alles thaten und genossen sie gemeinschaftlich. Noch nie hatte der Ex-Professor von Jena einen Mitarbeiter so ganz nach seinem Geschmacke gefunden, der ihm das Wort von der Lippe ablas und seine theoretischen Anforderungen so schnell zu verwirklichen wußte.
Marcel zeigte sich nicht nur nach allen Seiten gründlich unterrichtet, sondern war auch der liebenswürdigste Gesellschafter, der unverdrossenste Arbeiter, sowie der glücklichste und doch bescheidenste Erfinder.
Herr Schultze war entzückt von ihm. Zehnmal täglich sagte er sich:
»Welcher Fund! Welche Perle von Mann!«
In Wahrheit hatte Marcel den Charakter seines grauenhaften Chefs im ersten Augenblicke durchschaut, als dessen meist hervortretende Charakter-Eigenthümlichkeit einen grenzenlosen Egoismus erkannt, der sich äußerlich durch die empfindlichste Eitelkeit kennzeichnete, und er hatte sich feierlich gelobt, sein eigenes Benehmen unter allen Umständen darnach zu richten.
Binnen wenig Tagen hatte er die Claviatur dieses Instrumentes so genau kennen gelernt, daß er mit Herrn Schultze wie auf einem Piano zu spielen im Stande war. Seine Taktik ging ganz einfach davon aus, den eigenen Werth so viel wie möglich hervorzuheben, dem Anderen aber dabei immer noch Gelegenheit zu lassen, seine Überlegenheit an den Tag zu legen. Fertigte er z. B. eine Zeichnung an, so lieferte er dieselbe möglichst vollkommen – bis auf einen in die Augen fallenden, leicht nachzubessernden Fehler, auf den der Ex-Professor dann sofort mit größter Selbstbefriedigung aufmerksam machte.
Kam ihm ein neuer Gedanke, so ließ er ihn mitten im Gespräche in der Weise laut werden, daß Herr Schultze glauben konnte, ihn zuerst gehabt zu haben. Manchmal ging er hierin noch weiter und sagte zum Beispiel:
»Hier habe ich den Riß zu einem Kriegsschiff mit abnehmbarer Ramme, wie Sie es wünschten, entworfen.«
»Ich?« antwortete Herr Schultze, der nicht im Geringsten daran gedacht hatte.
»Gewiß! Sie haben das also vergessen? . . . Einen ablösbaren Rammsporn, der in der Flanke des feindlichen Fahrzeuges einen spindelförmigen Torpedo hinterläßt, welcher nach drei Minuten explodirt.«
»Das ist mir gänzlich entfallen. Es gehen mir so viele Gedanken durch den Kopf.«
Und Herr Schultze heimste ganz ruhig die Vaterschaft der neuen Erfindung ein.
Immerhin wurde er durch dieses Verfahren wohl nur zum Theile hinter's Licht geführt. Wahrscheinlich fühlte er selbst, daß Marcel ihm überlegen war. In Folge eines jener räthselhaften und doch nicht so seltenen Vorgänge im menschlichen Gehirn kam es ihm aber bald gar nicht schwer an, sich mit dem »Schein der Ueberlegenheit« zu begnügen und das vorzüglich seinem Untergebenen gegenüber festzuhalten.
»Er ist doch ein Dummkopf trotz seines Geistes, dieser junge Naseweis!« sagte er manchmal für sich und zeigte heimlich lächelnd die zweiunddreißig »Steine« seines Gebisses.
Seine Eitelkeit fand übrigens wirklich eine gewisse reelle Befriedigung. Er allein war ja im Stande, sozusagen industrielle Träumereien aller Art zu verwirklichen! . . . Solche Träumereien hatten keinen Werth, außer durch ihn und für ihn! . . . Marcel war am Ende ja auch nichts Anderes als ein Rädchen des gewaltigen Organismus, den er, Schultze, in's Leben zu rufen gewußt u. s. w. u. s. w. . . .
Alles in Allem wurde er auch niemals »aufgeknöpfter«, wie man zu sagen pflegt. Nach fünfmonatlichem Verweilen im Stierthurme kannte Marcel von den Geheimnissen der letzten innersten Anlagen auch noch nichts Besonderes. Nur sein längst gehegter Verdacht war zur halben Gewißheit geworden. In ihm wurzelte jetzt die feste Ueberzeugung, daß Stahlstadt noch ein Geheimniß berge und Herr Schultze noch zu einem anderen Zwecke, als den des bloßen Nutzens arbeitete. Alles, was man ringsum sah und hörte, unterstützte die Annahme, daß der Professor irgend eine neue Kriegsmaschine erfunden habe.
Die Lösung dieses Räthsels ließ aber noch immer auf sich warten.
Marcel sah wohl ein, daß auch er es nicht ohne eine Krisis erfahren würde. Da eine solche nicht von selbst eintrat, beschloß er, dieselbe absichtlich herbeizuführen.
Es war am Abend des 5. September nach dem Essen. Ein Jahr vorher, genau auf den Tag, hatte er im Albrechts-Schachte die Leiche seines kleinen Freundes Karl aufgefunden. Draußen bedeckte der lange und rauhe Winter dieser amerikanischen Schweiz schon die ganze Umgebung mit seinem weißen Mantel. Im Parke von Stahlstadt freilich war die Temperatur noch ebenso mild wie im Juni, und der Schnee, der hier schon zum Schmelzen kam, bevor er den Erdboden erreichte, fiel nur als Thau an Stelle der Flocken nieder.
»Diese Würstchen mit Sauerkraut waren doch vortrefflich, nicht wahr?« begann Herr Schultze, den auch die Millionen der Begum seinem Lieblingsgerichte nicht abwendig gemacht hatten.
»Ganz ausgezeichnet!« bestätigte Marcel, der diese Speise, welche er allgemach geradezu verwünschte, mit wahrem Heldenmuth niederwürgte.
Seine Magenbeschwerden veranlaßten ihn jetzt aber den letzten Anlauf zu versuchen, den er schon längst im Schilde führte.
»Ich lege mir immer die Frage vor,« fuhr Herr Schultze mit einem Seufzer fort, »wie die Völker, welche weder Würstchen noch Sauerkraut und Bier kennen, überhaupt ihr Leben fristen können?«
»Ja, es muß für sie eine Strafe ohne Ende sein,« meinte Marcel, ». . . wahrlich, es wäre nur ein Act der Menschlichkeit, sie wieder mit dem ›Vaterlande‹ zu vereinigen.«
»O . . . o . . . Das kommt noch . . . Das kommt noch!« rief der König von Stahlstadt. »Jetzt haben wir uns schon im Herzen Amerikas festgesetzt; nun lassen Sie uns nur erst eine oder zwei Inseln in der Nähe von Japan in Besitz nehmen, dann werden Sie staunen, welche Riesenschritte wir rings um den Erdkreis machen werden!«
Der Kammerdiener hatte die Pfeifen hereingebracht. Herr Schultze stopfte die seinige und setzte sie in Brand. Marcel hatte mit Absicht diesen Augenblick der vollkommensten Glückseligkeit seines Herrn abgewartet.
»Ich muß gestehen,« begann er dann nach kurzem Schweigen, »daß ich an diese Eroberung nicht recht glauben kann!«
»Welche Eroberung?« fragte Herr Schultze, der schon nicht mehr bei dem Gegenstande der Unterhaltung war.
»Die Eroberung der ganzen Erde durch die Deutschen!«
Der Ex-Professor glaubte falsch verstanden zu haben.
»Sie glauben nicht an die Unterwerfung der Welt durch die Deutschen?«
»Ei, sehen Sie, das ist sonderbar! . . . Ich wäre begierig, die Gründe dieses Zweifels zu hören.«
»Sehr einfach, die französischen Artilleristen werden noch größere Fortschritte machen und Sie überflügeln. Die Schweizer z. B., meine Landsleute, welche jene sehr gut kennen, haben das Vorurtheil, daß ein Franzose so viel ausrichte wie zwei Deutsche. 1870 ist für jene eine Lection gewesen, welche sich gegen Diejenigen kehren wird, die sie ertheilt haben. Davon ist in meinem Vaterlande Jedermann überzeugt, und, ich mag das nicht verhehlen, damit stimmen auch die besten Köpfe Englands überein.«
Marcel hatte diese Worte in einem so kalten trockenen und schneidenden Tone hervorgestoßen, daß er die Wirkung einer solchen schnurgeraden Blasphemie bei dem König von Stahlstadt womöglich verdoppeln mußte.
Herr Schultze war sprachlos und außer Athem, Das Blut stieg ihm so heftig in's Gesicht, daß der junge Mann fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Da er aber wahrnahm, daß sein Opfer, nachdem dessen Wuth einigermaßen verschnauft war, nicht von einem solchen Schlage sterben würde, fuhr er in seiner Rede fort:
»Ja, es ist unangenehm, sich das sagen zu müssen, aber es bleibt doch wahr. Wenn unsere Rivalen weniger geräuschvoll auftreten, so sind sie dafür desto fleißiger. Glauben Sie denn, daß diese seit dem Kriege gar nichts gelernt haben? Während wir plumper Weise nur darauf ausgehen, das Gewicht unserer Geschütze zu vermehren, bringen sie etwas ganz Neues zu Tage, was sich bei der ersten Gelegenheit zeigen wird.«
»Etwas Neues! Etwas Neues!« stammelte Herr Schultze, »o das bringen wir auch.«
»Ah, sehr schön, bleiben wir dabei! Wir stellen aus Stahl her, was unsere Vorgänger aus Bronze machten, das ist Alles! Wir verdoppeln die Proportionen und die Tragweite unserer Geschütze!«
»Verdoppeln! . . .« entgegnete Herr Schultze mit einem Tone, der vielmehr sagte: wahrhaftig wir erreichen mehr als eine simple Verdoppelung!
»Im Grunde sind wir aber doch nichts Anderes als Nachahmer. Darf ich Ihnen die volle Wahrheit sagen? Uns fehlt die Erfindungsgabe. Wir ersinnen nichts, die Franzosen erfinden, darauf verlassen Sie sich.«
Herr Schultze hatte scheinbar wieder einige Ruhe gewonnen, doch verrieth das Zittern seiner Lippen, die Blässe, welche der ersten apoplektischen Röthe folgte, wie tief sein Inneres erregt war.
Hätte er je geglaubt, eine solche Erniedrigung zu erfahren? Er sollte Schultze heißen, der unumschränkte Beherrscher der größten Werkstätte und der ersten Kanonengießerei der ganzen Welt sein, Könige und Parlamente zu seinen Füßen sehen und sich hier von einem einfachen Zeichner sagen lassen, daß ihm die Gabe der Erfindung fehle, daß er noch unter dem französischen Artilleristen stehe! . . . Und das zu erdulden, wo ihm in seiner Festung tausend Mittel zur Verfügung standen, den unverschämten Buben zu vernichten, ihm den Mund auf ewig zu verschließen und seine Argumente aus der Welt zu schaffen? Nein, ein solcher Schimpf war nicht zu ertragen!
Herr Schultze erhob sich jetzt so plötzlich, daß er seine Pfeife dabei zerbrach. Dann blickte er Marcel voll bitterer Ironie an, preßte die Zähne fest aufeinander und sagte zu diesem oder pfiff ihm vielmehr die Worte zu:
»Folgen Sie mir, ich werde Ihnen zeigen, ob ich, Herr Schultze, der Erfindungsgabe entbehre!«
Marcel hatte ein gewagtes Spiel getrieben, doch er hatte gewonnen. Dank der plötzlichen Ueberraschung durch eine so kühne, unerwartete Redeweise, Dank dem heftigen Aerger, den er seinem Chef bereitete, bei dem die Eitelkeit nun einmal stärker war als die Klugheit, Schultze drängte es nun, sein Geheimniß zu entschleiern, er eilte fast wider Willen nach dem Arbeitszimmer, dessen Thür er sorgfältig hinter sich verschloß, ging geraden Weges auf ein Büchergestell zu und drückte auf eines der Fächer. Sofort entstand in der Mauer eine sonst von Bücherreihen versteckte Oeffnung. Diese bildete den Eingang zu einem engen Wege, der bis zu dem Fuße des Stierthurmes selbst führte.
Hier wurde eine starke, eichene Thüre mittelst eines kleinen Schlüssels, den der Werkbesitzer niemals von sich gab, geöffnet. Dann zeigte sich eine zweite Thür mit einem Buchstaben-Vexirschloß, wie man solche wohl an Geldkisten verwendet. Herr Schultze stellte das betreffende Wort ein und schob die schwere Pforte zurück, welche nach innen zu noch mit complicirten Selbstschuß-Apparaten versichert war, die Marcel als Sachkenner natürlich gern näher in Augenschein genommen hätte. Sein Führer ließ ihm hierzu aber keine Zeit.
Beide befanden sich nun vor einer dritten Thür, ohne sichtbares Schloß, welche nur durch einen an den richtigen Stellen und in bestimmter Ordnung angewendeten Druck aufsprang.
Nachdem sie diese drei Verschanzungen durchschritten, stiegen Herr Schultze und sein Begleiter eine eiserne Treppe von zweihundert Stufen empor und gelangten damit nach dem oberen Theile des Stierthurmes, der ganz Stahlstadt überragte.
Dieses Granitbauwerk, dessen Festigkeit auf den ersten Blick einleuchtete, bedeckte eine Art Kasematte mit mehrfachen Schießscharten. In der Mitte derselben stand eine ungeheure Kanone aus Gußstahl.
»Sehen Sie hier!« sagte der Professor, der bisher den Mund nicht mehr aufgethan hatte.
Es war das größte Belagerungsgeschütz, das Marcel je gesehen, als Hinterlader eingerichtet und mindestens 300.000 Kilogramm schwer. Der Durchmesser seiner Mündung erreichte einundeinhalb Meter. Das Ungethüm mit seiner auf Rollen laufenden Stahl-Laffette war doch so leicht zu regieren, daß ein Kind zu seiner Bewegung hingereicht hätte, so ausgezeichnet arbeitete der sinnreiche Mechanismus. Hinter der Laffette hielt eine gewaltige Feder den Rückstoß des Geschützes auf und diente gleichzeitig dazu, dasselbe nach jedem Schuß wieder in seine vorige Lage zu bringen.
»Und welche Perforationskraft besitzt dieses Geschütz?« fragte Marcel, den ein solches Meisterstück unwillkürlich in Erstaunen setzte.
»Auf 20.000 Meter durchbohren wir mit einem Vollgeschoß eine vierzigzöllige Platte wie eine Butterschnitte!«
»Wie groß ist die Tragweite?«
»Die Tragweite!« rief Schultze, der sich allgemach erwärmte. »O, Sie meinten, wir als Nachahmer hätten es nicht weiter gebracht als bis zur Verdoppelung der Schußweite der heutigen Kanonen. Nun, mit dieser hier verpflichte ich mich, ein Projectil mit der größten Treffsicherheit bis auf zehn Stunden weit zu schleudern.«
»Zehn Stunden!« wiederholte Marcel, »zehn Stunden! Da müssen Sie aber ein bisher unbekanntes Pulver anwenden.«
»O, jetzt kann ich Ihnen Alles mittheilen,« antwortete Herr Schultze in etwas auffallendem Tone. »Es hat nichts mehr zu bedeuten, daß ich Ihnen meine Geheimnisse entschleiere. Das großkörnige Pulver hat sich überlebt. Ich bediene mich nur der Schießbaumwolle, deren Expansivkraft die des gewöhnlichen Pulvers um das Vierfache übertrifft. Eine Kraft, welche ich durch Beimischung von acht Zehnteln ihres Gewichts salpetersauren Natrons noch verfünffache.«
»Der Explosion dieses Pyroxils,« wendete Marcel ein, »vermöchte aber kein Geschütz, und bestände es aus dem besten Stahl der Welt, Widerstand genug zu leisten. Nach drei, vier, fünf Schüssen wird Ihre Kanone zerstört oder doch unbrauchbar sein.«
»Und wenn sie nur einen Schuß abgiebt, so wird dieser genügen!«
»Der wird sehr theuer zu stehen kommen!«
»Etwa eine Million, so hoch belaufen sich die Herstellungskosten des Geschützes.«
»Ein Schuß für eine Million! . . .«
»Was thut das, wenn er dafür eine Milliarde zerstört!«
»Eine Milliarde!« rief Marcel.
Er mußte an sich halten, um nicht das Entsetzen bemerkbar werden zu lassen, das sich der Bewunderung zugesellte, die ihm diese furchtbare Zerstörungsmaschine immerhin einflößte.
»Das ist ohne Zweifel ein erstaunliches und höchst merkwürdiges Geschütz, es bestätigt aber, trotz aller seiner Vorzüge, nur meinen Ausspruch: Vervollkommnungen, Nachahmung, keine Erfindung!«
»Keine Erfindung!« versetzte Herr Schultze achselzuckend. »Ich wiederhole, daß ich für Sie keine Geheimnisse mehr haben will. Kommen Sie also!«
Der König von Stahlstadt und sein Begleiter verließen die Kasematte und begaben sich, mittelst eines hydraulischen Fahrstuhls nach einer unteren Etage. Hier befanden sich eine Menge länglicher, cylinderförmiger Gegenstände, welche man aus einiger Entfernung recht wohl für demontirte Geschütze hätte ansehen können.
»Da sehen Sie unsere Geschosse!« sagte Herr Schultze.
Jetzt mußte Marcel allerdings anerkennen, daß das, was er hier vor sich sah, nichts ähnelte, was er von früher kannte. Es waren das ungeheure Tuben von zwei Meter Länge und ein Meter zehn Zentimeter Durchmesser, äußerlich mit einem Bleimantel überzogen, um genau in die Züge der Seele des Rohres zu passen, an der Rückseite mit verbolzter Stahlplatte verschlossen und an der Spitze mit länglich stählerner Spitze versehen, die in einem Percussionszünder auslief.
Ueber die eigentliche Natur dieser Geschosse gab ihr äußeres Ansehen noch keinen Aufschluß. Noch lag die Voraussetzung nahe, daß sie im Innern einen furchtbaren Explosionsstoff enthalten möchten, der wahrscheinlich Alles in seiner Art übertraf.
»Sie werden sich nicht klar?« fragte Herr Schultze, als er Marcel schweigend stehen sah.
»In der That, nein! Wozu in aller Welt ein so langes und dem Anscheine nach so schweres Langgeschoß?«
»Der Schein trügt,« erwiderte Herr Schultze, »denn das Gewicht desselben weicht nicht besonders von dem einer gewöhnlichen Kugel desselben Kalibers ab. . . . Nun, Sie sollen Alles wissen! . . . Der innerste Theil besteht aus einer langen Spindel von Glas, die mit Eichenholz überkleidet und unter dem Drucke von zweiundsiebzig Atmosphären mit flüssiger Kohlensäure geladen ist. Beim Niederfallen erfolgt die Explosion der Umhüllung und die Flüssigkeit kehrt in den gasförmigen Zustand zurück. Die Folge davon ist eine Kälte von ungefähr hundert Grad in der Umgebung und gleichzeitig die Beimischung einer enormen Menge Kohlensäure zu der Atmosphäre.
Jedes lebende Wesen, das sich im Umkreise von dreißig Meter um die Stelle der Explosion aufhält, wird ebenso durch Kälte getödtet, wie durch das Gas erstickt. Ich nehme nur dreißig Meter an, um eine Basis für die Berechnung zu gewinnen; die Wirkung erstreckt sich aber höchst wahrscheinlich noch viel weiter, vielleicht auf einen Umkreis von hundert bis zweihundert Meter. Dazu kommt ferner, daß die Kohlensäure in Folge ihrer specifischen Schwere, welche die der Luft bedeutend übertrifft, sich lange Zeit in den unteren Schichten der Atmosphäre aufhält; die todesdrohende Zone behält also ihre vergiftenden Eigenschaften noch mehrere Stunden nach der Explosion, und jedes Geschöpf, das sich in diese hineinwagt, geht rettungslos zu Grunde, Ja, ja, das ist ein Kanonenschuß, der im Augenblick ebenso wie auf die Dauer wirkt! . . . Bei meinem System giebt es keine Verwundeten mehr, sondern nur noch Todte!«
Herr Schultze fand offenbar Wohlgefallen daran, die Vorzüge seiner Erfindung in das rechte Licht zu stellen. Er hatte seine ganz gute Laune wieder, war roth von Stolz geworden und wies alle seine Zähne.
»Nun denken Sie sich,« fuhr er fort, »eine hinreichende Anzahl meiner Feuerschlünde auf eine belagerte Stadt gerichtet! Rechnen wir ein Stück auf jede Hektare Oberfläche, das gäbe für eine Stadt von tausend Hektaren hundert Batterien zu je zehn Geschützen. Nehmen wir ferner an, diese alle wären in gehöriger Stellung und sicher gerichtet, dazu günstige ruhige Luft und nun erfolgte durch eine elektrische Leitung das Signal zum Abfeuern . . . binnen einer Minute athmete auf einer Fläche von tausend Hektaren kein lebendes Wesen mehr! Ein wahrer Ocean von Kohlensäure hätte die Stadt überschwemmt! Die Idee hierzu kam mir übrigens erst im letzten Jahre, als ich den ärztlichen Bericht über den kleinen Jungen im Albrechts-Schacht durchlas. Die erste Anregung erhielt ich allerdings in Neapel, beim Besuche der dortigen HundsgrotteDie Hundsgrotte in der Nähe von Neapel erhielt den Namen von der merkwürdigen Eigenschaft ihrer Atmosphäre, welche einen Hund oder jedes etwa ebenso große vierfüßige Thier erstickt, während sie dem aufrechtstehenden Menschen nicht schadet – eine Eigenschaft, welche auf eine ungefähr sechzig Centimeter hohe Schicht Kohlensäure zurückzuführen ist, die in Folge ihrer Schwere nur dicht über dem Erdboden lagert.. Es bedurfte aber des letzteren Ereignisses, um den Gedanken in mir zur Reife zu bringen. Sie begreifen doch das Princip? Ein künstlicher Ocean von reiner Kohlensäure! Schon ein Fünftel dieses Gases der Atmosphäre beigemengt genügt aber, sie unathembar zu machen!«
Marcel stand sprachlos da; er vermochte in der That kein Wort hervorzubringen. Herr Schultze fühlte seinen Triumph so lebhaft, daß er ihn selbst abzuschwächen suchte.
»Es ärgert mich hierbei nur eine Kleinigkeit,« sagte er,
»Und das wäre?« fragte Marcel.
»Es hat mir noch nicht gelingen wollen, den Knall bei der Explosion zu umgehen. Das verleiht meinem Schuß noch zu viel Aehnlichkeit mit dem gewöhnlichen Kanonenschuß. Denken Sie etwas darüber nach, wie es möglich wäre, einen geräuschlosen Schuß zu erzielen. So ein plötzlicher Tod, der in heiterer stiller Nacht hunderttausend Menschen ganz unbemerkt überrascht, das wäre so nach meinem Sinn!«
Diese wundervolle Aussicht machte Herrn Schultze zum vollkommenen Schwärmer, und vielleicht hätte seine Träumerei, bei welcher er in einem wahren Vollbade seiner Eigenliebe schwelgte, noch lange fortgedauert, wenn ihn nicht eine Bemerkung Marcels daraus erweckt hätte.
»Recht schön, Herr Schultze, aber tausend Geschütze dieser Art kosten Zeit und viel Geld.
»Geld? . . . Daran ersticken wir fast! . . . Die Zeit gehört uns!«
Und wahrlich, der Mann, welcher so sprach, glaubte an seine Worte.
»Gut, fuhr Marcel fort, leider ist Ihr mit Kohlensäure gefülltes Geschoß wiederum nichts eigentlich Neues, denn man kennt schon seit vielen Jahren solche Kugeln mit tödtlichen Gasarten; doch gebe ich gerne zu, daß Ihre Maschine unerhörte Verwüstungen anzurichten vermag. Indessen . . .«
»Indessen? . . .«
»Das Geschoß ist zu leicht für seine Größe und wird nimmermehr zehn Stunden weit fliegen! . . .«
»Das ist auch nur für zwei Stunden berechnet,« erwiderte Herr Schultze lächelnd. »Hier ist dagegen,« fügte er lächelnd hinzu, »ein Projectil aus Gußstahl. Dieses enthält hundert kleine, symmetrisch angeordnete Kanonen, welche ineinander geschoben sind wie die Auszüge eines Fernrohres, und die, nachdem sie zuerst als Geschosse fortgeschleudert wurden, zuletzt selbst als Kanonen wirken, indem sie eine Unzahl kleiner Kugeln mit leicht entzündlicher Masse aussenden. Ich schieße also gleichsam eine ganze Batterie hinaus, welche Tod und Verderben über eine ganze Stadt ausstreut, indem sie dieselbe mit unauslöschlichem Feuer überschüttet! Dieses Geschoß besitzt die nothwendige Schwere, um zehn Stunden weit zu fliegen. Binnen Kurzem werde ich damit einen Versuch anstellen, der jedem Ungläubigen Gelegenheit bieten soll, hunderttausend Körper, die ich als Leichen zu Boden strecke, mit dem Finger zu berühren!«
Die »Steine« im Munde glänzten bei diesem Versprechen so herausfordernd, daß Marcel nicht übel Lust verspürte, ein Dutzend davon auszubrechen. Er gewann es aber über sich, seine Arme in Ruhe zu lassen. Noch wußte er ja immer noch nicht Alles, was er hören wollte.
In der That begann Herr Schultze bald von Neuem: »Ich sagte Ihnen, daß nächstens ein Versuch angestellt werden solle.«
»Wirklich? Und wo? . . .« fragte Marcel.
»Nun, mit einem dieser Geschosse, das durch mein Riesengeschütz von der obersten Platform aus über die Cascade-Mounts hinweggeschleudert werden wird! . . . Uebrigens auf eine Stadt, welche kaum zehn Stunden weit von uns entfernt liegt, die diesen furchtbaren Donnerschlag nicht erwartet und dessen unausbleibliche Wirkung auch nicht abzuwehren vermöchte. Wir haben heute den 5. September . . . nun, am 13. um elf Uhr fünfundvierzig Minuten des Nachts wird France-Ville vom amerikanischen Boden verschwinden! Der Untergang Sodoms wird sein Gegenstück erhalten! Professor Schultze wird von seinem Thurme aus alle Feuer des Himmels entfesseln!«
Bei dieser allerdings unvorhergesehenen Erklärung drängte sich in Marcels Brust alles Blut zum Herzen. Zum Glück bemerkte Herr Schultze nicht, was in ihm vorging.
»Sehen Sie,« fuhr er fort, als handelte es sich um die gleichgiltigsten Dinge, »wir erstreben hier das Gegentheil von dem, was die Erbauer France-Villes beabsichtigen. Wir suchen das Geheimniß, das Leben der Menschen abzukürzen, während Jene darnach trachten, es zu verlängern. Ihr Werk ist aber einmal verdammt, und erst aus dem von uns entsendeten Tode soll das Leben ersprießen. Uebrigens erfüllt Alles in der Natur seinen Zweck, und als Doctor Sarrasin in jener Einöde seine Stadt gründete, hat er sie mir, ohne daran zu denken, als bestes Versuchsobject für die Tragweite meiner Geschütze hingestellt!«
Marcel konnte kaum glauben, was er soeben hörte.
»Aber,« begann er mit unwillkürlich zitternder Stimme, welche einen Augenblick lang die Aufmerksamkeit des Königs von Stahlstadt zu erregen schien, »die Einwohner von France-Ville haben Ihnen doch nichts gethan? Sie haben, so viel ich weiß, auch nicht die geringste Ursache, mit ihnen Streit zu führen?«
»Mein Bester,« begann Herr Schultze, »in Ihrem nach anderen Seiten recht gut organisirten Gehirn lebt noch ein Rest von keltischen Ideen, die Ihnen noch viel Schaden bringen könnten, wenn Sie noch lange zu leben hätten! Das Recht, das Gute und das Böse sind nur relativ verschiedene Dinge, je nach dem Standpunkt, von dem aus man sie betrachtet. Es giebt nichts Absolutes, als die großen Naturgesetze. – Das Gesetz des Kampfes um's Dasein gehört dahin ebenso wie das der Gravitation. Sich ihm entziehen zu wollen, ist reiner Unsinn; sich ihm zu fügen und in der von ihm bezeichneten Richtung zu wirken, ist das einzige Rechte und Vernünftige, und aus diesem Grunde werde ich Doctor Sarrasin's Stadt zerstören. Mit Hilfe meiner Kanonen werden meine fünfzigtausend Deutschen leicht genug mit jenen hunderttausend Träumern fertig werden, die nun einmal unterzugehen bestimmt sind!«
Da Marcel die Nutzlosigkeit jedes Versuches, Herrn Schultze's Anschauungen zu ändern, von vornherein einsah, setzte er das Gespräch nicht weiter fort.
Beide verließen nun den Geschoßraum, dessen geheime Thüren wieder verschlossen wurden, und begaben sich nach dem Speisezimmer zurück.
So als ob gar nichts vorgefallen sei, führte Herr Schultze hier seinen Bierkrug zum Munde, ließ eine Glocke ertönen, verlangte eine andere Pfeife an Stelle der zerbrochenen und fragte den Kammerdiener:
»Sind Arminius und Sigimer bei der Hand?«
»Gewiß.«
»Sage ihnen, sie sollen nicht weggehen, damit ich sie rufen kann.«
Als der Diener das Zimmer verlassen, wandte sich der Stahlkönig gegen Marcel und schaute diesem gerade in's Gesicht.
Dieser schlug die Augen nicht nieder vor jenem Blicke, der selbst metallische Härte angenommen zu haben schien.
»Sie denken das erwähnte Vorhaben wirklich auszuführen?« fragte er noch einmal.
»Natürlich. Ich kenne die Lage von France-Ville genau auf das Zehntel einer Secunde bezüglich der Länge und Breite, und am 13. September um elf Uhr fünfundvierzig Minuten Nachts wird die Stadt aufgehört haben zu existiren.«
»Einen solchen Plan hätten Sie aber doch völlig geheim halten sollen.«
»Mein Lieber,« erwiderte Herr Schultze, »da fehlt es Ihnen wieder einmal an der nöthigen Logik. Ich beklage es deshalb auch weniger, daß Sie so jung sterben müssen!«
Marcel war bei den letzten Worten aufgesprungen.
»Wußten Sie das wirklich nicht vorher,« fuhr Herr Schultze eiskalt fort, »daß ich von meinen Projecten niemals gegen Andere spreche als gegen Die, welche sie nicht mehr verrathen können?«
Die Glocke ertönte. Arminius und Sigimer, zwei Riesen von Gestalt, erschienen an der Thür.
»Sie wollten in mein Geheimniß dringen,« sagte Herr Schultze, »Sie kennen es! . . . Nun werden Sie dafür den Tod erleiden!«
Marcel gab keine Antwort.
»Sie sind ein viel zu heller Kopf,« fuhr Herr Schultze fort, »als daß Sie annehmen könnten, ich würde Sie nun, da Sie davon wissen, was ich zunächst beabsichtige, noch am Leben lassen können. Das wäre ein unverzeihlicher Leichtsinn, das wäre unlogisch. Die Größe meines Zieles verbietet mir, dessen Erreichung durch die Rücksichtnahme auf den verhältnißmäßig geringen Werth eines einzelnen Menschenlebens zu gefährden – selbst eines Menschen wie Sie, dessen gute Gehirnorganisation ich übrigens hochschätze. Ich bedauere wirklich, daß mich eine schwache Regung von Eigenliebe etwas zu weit hingerissen hat und mich nun zwingt, Sie unschädlich zu machen. Sie werden jedoch einsehen, daß ich angesichts der von mir verfolgten Interessen nicht einem weicheren Gefühle nachgeben darf. Ich gestehe Ihnen jetzt gern ein, daß Ihr Vorgänger Sohne wegen Verletzung desselben Geheimnisses hat sterben müssen und nicht durch die Explosion einer Dynamit-Patrone umgekommen ist. Meine Regel duldet keine Ausnahme. An einem unumstößlichen Gesetze vermag ich selbst nichts zu ändern!«
Marcel blickte Herrn Schultze an. Der Ton seiner Stimme sagte ihm, daß der Starrsinn dieses Trotzkopfes nicht zu beugen sein werde und daß er verloren sei. Er gab sich also nicht einmal Mühe, gegen jenes Urtheil Einspruch zu erheben.
»Wann werde ich sterben und auf welche Weise?« fragte er.
»Sorgen Sie sich nicht um solche Einzelheiten,« erklärte Herr Schulze völlig ruhig. »Sie werden sterben, doch wird Ihnen jede Todesqual erspart bleiben. Sie werden eines Morgens nicht wieder erwachen. Das ist Alles!«
Auf einen Wink des Stahlkönigs sah Marcel sich abgeführt und nach seinem Zimmer gebracht, vor dessen Thür die beiden Riesen Wache standen.
Als er sich aber allein sah, dachte er zitternd vor Angst und Wuth an den Doctor, an dessen Familie, seine Landsleute, an Alle, die er liebte.
»Der Tod, der meiner wartet, ist das Geringste,« sagte er, »doch die Gefahr, die ihnen droht, wie soll ich diese beschwören?«