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Drittes Kapitel

Der erste Weg, den Josefine lernte allein zurücklegen, war der zu den Großeltern. Munter und großäugig blickend, trippelte die Kleine über Hof I der Kaserne. Ein mit einem Lämmchen besticktes Perlentäschchen trug sie umgehängt, da hinein steckte ihr die Großmutter immer etwas Leckeres.

Feldwebel Rinke war nicht für die Verwöhnung; ob es regnete oder windete oder fror, Josefine mußte hinaus, nur daß sie dann statt des runden Hutes mit Bändern, der ihr ewig im Nacken hing, ein Kapüzchen trug und um den nackten Speckhals ein Radmäntelchen, Frau Trina war weniger für die Abhärtung: sie wird den Husten kriegen, sie kommt noch zu Unglück! Aber im Grunde war sie doch ganz froh, einmal für ein paar Stunden ein Kind los zu sein, sie hatte noch den um ein Jahr jüngeren Wilhelm und ein ganz Kleines in der Wiege. Zwischen Wilhelm und dem Kleinsten war eins gestorben, ein Mariechen. No, das war ja nur drei Wochen alt geworden, und zu warten hatte sie auch so noch genug! Die Eltern hielten ihr zwar jetzt ein Mädchen für die Tagesstunden, aber das war fast selber noch ein Kind.

Das Kasernentor war die einzige ernste Schwierigkeit auf Josefines Weg zur Ratingerstraße, den schweren Torflügel konnte sie nicht heben; und stand keine Spalte offen, um durchzuschlüpfen, mußte sie Hilfe rufen. Hell schallte die Kinderstimme über den Hof, die Soldaten spitzten die Ohren wie bei einem Trompetenstoß. Nur rasch, sonst schrie die Kleine sämtliche Spottnamen der Kompanie! Die Soldaten wollten sich darüber totlachen.

Wurde auf dem großen Platz exerziert, stand Josefine gewiß oben in der Wohnung auf dem Fensterbrett, den einen Arm ums Fensterkreuz geschlungen, den andern zum Schutz vor die geblendeten Augen gelegt. Wurde in Hof I gedrillt, hockte sie sicher in der Nähe, auf dem Pumpentrog, auf irgendeiner Treppenstufe und folgte mit aufmerksamem Blick jedem Griff, jeder Wendung.

Feldwebel Rinke freute sich seiner Tochter; er war nicht wenig stolz auf sie. Abends, wenn er sich die Pfeife anzündete – die einzige, die er sich überhaupt gönnte – rief er: »Antreten!« Und Josefine, die schon lange auf diesen Ruf gelauert, war mit einem Sprung zur Stelle. Einen zugestutzten Haselstock trug sie im Arm.

»Achtung!« Der Vater kommandierte. Hei, da wurden Griffe geübt, geschmeidig klammerten sich die kleinen Finger um das Stockgewehr.

»Faßt das Gewehrr – an! Gewehrr – ab! Faßt das Gewehrr – an! Ladestock im Lauf! Gewehrr – hoch! Spannt den Hahn!«

Der Feldwebel schmunzelte: ja, die beschämte manchen Rekruten! Und ihre wichtige Miene dabei, das Gesicht ganz erfüllt vom Ernst des Augenblicks!

Nun wurde Stellung geübt, und Wendungen auf der Stelle, und Marsch.

»Bataillon – Marsch! Kurz getreten! Frei – weg! Halt!«

Kein Großer konnte exakter den Kommandos folgen, schneller die Beine werfen.

Dann folgte theoretischer Unterricht. Sie mußte lernen: Meldungen machen, – »richtig und klar«, das war die Hauptsache die verschiedenen militärischen Grade aufsagen, vom Feldmarschall an bis herab zum Gefreiten; die verschiedenen Truppen unterscheiden nach den Waffen. Und wurde ihr das alles auch noch so schwer, daß sich ihre Augen oft mit Tränen füllten, ihre Instruktionsstunde hätte sie nicht hergegeben, selbst für eine ganze Düte Leckers nicht.

Und fragte der Vater ernst und gemessen: »Wieviel Elemente haben wir?«

»Fünf!«

»Wie heißen sie?«

So antwortete sie mit leuchtenden Augen: »Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre!«

Frau Trina schüttelte wohl den Kopf über diese »Dummheiten«, aber sie sagte nichts – wenn es ihnen nun Spaß machte! ›Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen‹, dachte sie.

Die blonde Feldwebelin war in den sieben Jahren ihrer Ehe recht auseinandergegangen; ihr blühendes Fleisch war Fett geworden, sie machte sich nicht viel Bewegung. Die Wochentage brachte sie meist in Unterrock und loser Jacke oben in ihren paar Stuben zu, schluffte vom Herd zur Wiege und wohl auch von der Wiege zum Fenster. Da sah sie auf dem, im Sommer staubigen, im Winter grundlosen Platz das tägliche Schauspiel des Exerzierens, und, wenn's hoch kam, jenseits des Kanals Arbeiter Erde und Steine karren. Dort wurde eine Promenade angelegt überm Graben, und schöne Kastanien wurden gepflanzt; Bauplätze waren auch schon feil. Da würde es einmal angenehm zu wohnen sein!

»Ach Jesus!« seufzte sie dann wohl, schlich wiederum zur Wiege zurück und schaukelte das greinende Kind. Ein alter Reim fiel ihr ein:

»Wenn andre Leut' spazierengehn,
Muß ich an der Wiege stehn,
Muß da machen: knick, knick, knack,
Schlaf, du kleiner Habersack!«

Und dann trübten sich ihre blauen Augen.

Der Wilhelm machte ihr viel zu schaffen, mehr als das Kleinste; er war ein kränkliches Kind und für seine fünf Jahre schwach auf den Beinen. Bald hatte er einen Husten, bald einen Ausschlag, der Vater wurde schon ganz ungeduldig – das sollte ein Soldatenjunge sein?! Hing ewig an der Mutter Rock und flennte wie ein altes Weib, wenn die Josefine mit ihm exerzieren wollte. Wenn die Schwester ihn prügelte, prügelte er sie nicht wieder – das Hasenherz!

Bei jeder solchen Gelegenheit äußerte sich des Feldwebels Unwillen: der Junge wurde nun und nimmer ein Soldat! Und Rinke nahm das als eine persönliche Beleidigung; ohne daß er es wußte, wurde sein Ton barscher, wenn er mit dem Knaben sprach. War es da nicht natürlich, daß die Mutter sich gerade dieses Kindes besonders annahm?

Auch Josefine liebte den Bruder; sie schlug ihn nur, wenn er beim Exerzieren den Stock verkehrt hielt und die Beine nicht stramm stellte. –

Heute führte sie ihn, sorglich wie eine kleine Mutter, an der Hand. Es war Sonntag, und die Geschwister trippelten vor den Eltern her über die Kasernenstraße, während Stina, das noch kindliche Stundenmädchen, den Kleinsten im blaugestrichenen Holzwägelchen hintennachzog.

Die Familie rückte zum Sonntagnachmittagsspaziergang aus; es war das einzige Vergnügen, das Frau Trina hatte, und dies ließ sie sich auch so leicht nicht nehmen.

Dann holte sie ihren Putz hervor und zeigte sich, am Arm ihres Feldwebels, als gute Bürgerstochter, die mehr Geschmack hat, als eine gewöhnliche Soldatenfrau. Die Schnürbrust ließ sich freilich so eng nicht mehr zusammenziehen, aber der Rock setzte sich modisch mit vielen Falten unter dem runden Leibchen an, die Ärmel bauschten mächtig bis zum Ellbogen, und reichlich gesteifte und wattierte Unterröcke gaben dem Rock einen schönen Fall.

Frau Trina war heut nicht ganz zufrieden mit dem Ziel des Ausflugs, sie hätte ihren Staat lieber mehr sehen lassen und selber gern welchen gesehen im Kaffeegarten »Zum Stocklämpchen« oder in der »Petersburg«, wo man beim Gläschen Wein oder Bier Musik von der Estrade des großen Saals zu hören bekam und nachher auch ein Tänzchen machen konnte. Aber ihr Mann, der war ja zu geizig für so etwas, der ging am liebsten nur, jenseits der Schiffbrücke, nach der »Andern Seite«, wo man im Grasgarten des Bauernwirtshauses Bauernbrot und dicke Milch aß.

Schon hatte man das eherne Reiterbild des alten Jan Willem am Marktplatz erreicht und spazierte hinunter zum Zolltor. Und sieh da – der Rhein, der Rhein!

Josefine stieß einen hellen Jubelschrei aus: da war er! Ein heiteres Sonnenlicht küßte seine breite, schleppende, lichtgrüne Flut. Langsam ziehend und lautlos glitt Welle auf Welle am Brückenkopf vorbei.

Mit lautem Jauchzen stürmte Josefine voran; es machte ihr ein unsägliches Vergnügen, die Planken der langen Schiffbrücke unter ihren Füßen leis schwanken zu fühlen und durch die Ritzen das Wasser unter sich strömen zu sehen. Sie rannte dahin, als hätte der Rheinduft sie berauscht, dieser köstliche Geruch nach Tang und Teer und durchfeuchtetem Holz. Den Kopf zurückgeworfen, die Flügel der kleinen Stumpfnase gebläht, die Arme ausgebreitet, lief sie dem Rheinwind entgegen, helle Glücksschreie ausstoßend. Und der Wind pustete sie an, daß ihre Bäckchen leuchtender strahlten in einem warmen, weichen Rot.

Auch Frau Trinas Gesicht war heiter geworden. Jetzt war man drüben, und der Blick zurück aus die Stadtseite war gar zu schön. Weiß zeigten sich die Häuser an der Werft, in ihren Fenstern blitzte der Sonnenglanz und machte sie zu blendenden Spiegeln; stolz ragten dahinter die Türme der Kirchen, und mächtig und klotzig erhob sich das alte Schloß.

Stolz wies die Düsseldorferin hinüber: »Kuck mal, Rinke!« Er meinte zwar, die Spree gäbe dem Rhein an Breite nicht viel nach, auch könne sich der alte Rumpelkasten da mit dem Königsschloß zu Berlin nicht messen; aber er betonte heut doch nicht mit gleicher Schärfe, wie sonst bei jeder Gelegenheit, sein Preußentum. Sein Hauptinteresse war bei Josefine.

Gleich einem Vogel auf eiligem Flug durchflatterte sie das satte Grün der Wiesen. »Krieg mich, krieg mich!« Oft verschwand sie ganz im fetten Gras, um dann plötzlich aufzutauchen mit dem schrillen, zwitschernden Schrei der Schwalbe, die den Äther durchschießt. Langgestielter blauer Salbei, goldäugige weiße Sternblumen, brennend roter Mohn nickten um sie. Mit beiden Händen griff sie hinein in die Blütenpracht, in ausgelassener Lust raufte sie aus, und sich hintenüber ins Gras werfend, goß sie all ihre Blumen wie einen Sommerregen über sich.

Der kleine Wilhelm hatte sich längst zu dem Rock der Mutter geflüchtet und zockelte so nach. Vergebens ermunterte ihn der Vater, der Schwester zu folgen, nur fester klammerte er sich an die Falte; als der Vater ihm die Finger lösen wollte, erhub er ein jämmerliches Geschrei.

Da begann die Mutter, den Arm ihres Mannes fahren lassend, auf die wilde Josefine zu schelten: »Kömmste hiehin! Wie siehste nu als wieder aus?!« Sie hob die Hand zum Schlag: »Wat machste denn, du Unart!«

Glühend vom Tollen, bebend vor Atemlosigkeit, sah Josefine der Mutter ins Gesicht. »Ich freu mich«, sagte sie und nahm den Schlag hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch dann senkte sie tief den Kopf, weh getan hatte ihr die Ohrfeige nicht, aber sie schämte sich.

Der Feldwebel biß sich auf die Lippen; er ärgerte sich über seine Frau. Aber: famoses Mädel, die Josefine, wie sie dastand und sich das Weinen verkniff und den Kopf hängen ließ, daß man ihr nicht ins Gesicht sehen sollte. Die hatte Ehrgefühl, Gott sei Dank! Die Ehre, die Ehre, nicht früh genug hält man die hoch. Ja, seine Tochter, die war Blut von seinem Blut! Ein mißbilligender Blick traf den noch immer heulenden Wilhelm.

Als Rinke über ein Weilchen sich nach Josefine umschaute – er mußte doch sehen, ob sie noch immer trauerte –, da sah er hinter einem Busch zwei langbehoste, kleine Beine in der Luft zappeln. Josefine schlug Purzelbäume.

Der Spaziergang auf die »Andere Seite« war für den Feldwebel immer der Anlaß zu allerhand militärischen Betrachtungen: hier hatten einst die Soldaten des General Bernadotte den Freiheitsbaum mit der Jakobinermütze aufgepflanzt und von dem Rasenwall aus die Stadt Düsseldorf beschossen. Jetzt standen freilich harmlose Brettertische und Bänke an gleicher Stelle, und zwischen zwei starken Weidenbäumen quietschte eine Schaukel.

Es war Friede, stiller, eintöniger, schläfriger Friede. Der Feldwebel sagte sich nicht ohne Bitterkeit: er war ein Jahrzehnt zu spät auf die Welt gekommen; die großen Befreiungskämpfe waren ohne ihn ausgefochten, ihm war es wohl nur beschieden, in der Kaserne zu hocken und statt des Pulverdampfes den Staub des Exerzierplatzes zu schlucken.

Heut waren alle Tische und Bänke vor dem bäuerlichen Wirtshaus besetzt, nur ein schöner Tisch, so recht am besten Platz, war merkwürdigerweise noch frei.

Mit schwenkendem Rock und frohem Lachen stapelte Frau Trina darauf los, recht rasch Besitz zu ergreifen. Die Kinder erkletterten denn auch schon die Bank, als der Feldwebel in peinlicher Überraschung stutzte: Donnerwetter, da am Nebentisch, ganz dicht, saß sein Hauptmann, der Herr von Clermont! Rinke hielt seine Frau zurück und winkte den Kindern, aber Trina sagte ziemlich laut: »No, wat dann?! Warum sollen wir uns nit dahin setzen?!« Sie ärgerte sich über die Devotion ihres Mannes. »Wenn der zu vornehm is, da braucht der ja nit dahinzugehn, wo die Bürger hingehn. Ich setz mich!«

In diesem Augenblick wendete sich der Hauptmann herum, und der Feldwebel stand stramm. Clermont winkte ab und machte dann seine Frau lächelnd auf die kleine Josefine aufmerksam, die auf den Wink ihres Vaters von der Bank herabgeglitten war und nun, den Finger an den Lippen, halb scheu, halb dreist den Herrn Hauptmann anstarrte.

Inzwischen hatte Frau Trina Platz genommen; nicht ohne Absicht sprach sie recht hörbar und lachte ungeniert, keiner der Umsitzenden sollte denken, daß sie sich wegen des Vorgesetzten ihres Mannes auch nur die geringste Gêne antat. Das Kindermädchen mußte ihr sogar den Kleinsten reichen, und sie legte ihm eine frische Windel unter.

Rinke war wütend auf seine Frau; aber sie schien seine mißbilligenden Blicke nicht zu bemerken, fröhlich nickte sie ein paar Bekannten zu: »Tag zusammen!« und schöpfte mit Geklapper und Ausrufen des Entzückens die dicke Milch aus der irdenen Schüssel.

»Schrei doch nicht so!« flüsterte er. Sie hörte nicht, und deutlicher wagte er nicht zu werden, am Nebentisch konnte man ja jedes Wort verstehen.

Josefine starrte noch immer mit großen Augen, sie hielt ordentlich den Atem an – da saß neben der Dame des Herrn Hauptmann ein Mädchen, das war so klein wie sie, aber lange, dunkle, gedrehte Locken fielen auf dessen Schultern, und neben dem Mädchen saß einer, ein – ja, ein Junge war's, aber er hatte schon Uniform an! Eine ganze, richtige, wirkliche Uniform! Ihre Blicke waren gebannt.

Hauptmann von Clermont wurde aufmerksam: »He, du Kleine, was gibt's denn hier zu sehen?«

Sie wurde rot wie eine Rose; krampfhaft das Fingerchen streckend, ganz aufgeregt, ganz glückselig bewundernd, stammelte sie: »Der – och, der da – der kleine Soldat!«

Alles lachte. Clermont winkte sie zu sich heran; dreist kam sie bis an sein Knie, aber ihre Augen verließen den Jungen nicht.

»Der kleine Soldat da«, sagte der Hauptmann amüsiert, »das ist ein Kadett, verstehst du? Ein Kadett!«

Sie nickte stumm-strahlend.

Der Kadett war auch ganz rot geworden, die großen Blicke des kleinen Mädchens genierten ihn sehr. Er drehte den Kopf weg.

»Feldwebel, hat Er schon gesehn? Mein Sohn!« Der Hauptmann wendete sich zu Rinke. Dieser stand wie vorhin stramm, aber leutselig winkte der Vorgesetzte wieder ab: »Bitte bequem.« Und dann fuhr er fort: »Großer Junge, was? Erst elf. Habe ihn schon drei Jahre im Korps in Bensberg, ist in den Ferien hier. Kommt bald nach Potsdam. Ich denke, wird mal einen ganz netten Leutnant Seiner Majestät abgeben; hoffe, wenn's Glück gut ist, bei Seiner Majestät Garde, Viktor, sitz gerade! Kopf hoch, daß du wächst!«

Der Junge reckte sich. Auch Josefine reckte sich unwillkürlich. Die Blicke beider Kinder begegneten sich. Der Kadett lächelte ein wenig spöttisch, ein wenig von oben herab und zugleich doch geschmeichelt.

»Möchtest du vielleicht mit dem kleinen Mädchen spielen, Cäcilie?« sagte jetzt die Frau Hauptmann zu ihrem Töchterchen, und das blasse, vornehme Gesicht dem blonden Kind zuwendend, fragte sie gütig: »Wie heißt du?«

»Zu Befehl: Josefine!«

Wieder lächelte der Hauptmann, der Kadett aber prustete laut heraus. Da wurde Josefines freier Blick unsicher, es zuckte um ihren Mund; hastig nach der Hand der kleinen Schwarzhaarigen, die sich ihr schüchtern genähert hatte, greifend, riß sie diese mit sich fort, weg von den Tischen, hinein in die Wiese.

Die beiden Mädchen, sich an der Hand haltend, liefen rasch immer weiter hinein in das hohe, blumige Gras.

Da stand der Kadett auf, drehte sich erst noch ein wenig in der Nähe der Tische herum, pfiff, schleuderte ein Steinchen, schüttelte an einem Baum, besah seine Stiefel und ging dann langsam, mit gemessenem Schritt, den Kindern nach in die Wiese.

Von diesem Sonntag an war Josefine zur Gespielin des kleinen Fräulein von Clermont erkoren; der Hauptmann hatte seinem Feldwebel allerhand Freundliches über das frische, blonde Kind gesagt.

Rinke bemühte sich, seiner Frau nicht zu zeigen, wie stolz er auf die Ehre war, die seiner Tochter widerfuhr: Käthe hatte ja doch kein richtiges Verständnis dafür. »Du lieber Gott, wat is dat denn?!« sagte sie. Der Großvater brummte auch: »Wat soll dat Kind da? Wir sind Düsseldorfer Bürger, wir scheren uns 'ne Dreck um die ›Vons‹!« Die Großmutter war ebenfalls wenig erbaut: die Clermonts waren evangelisch, aus Thüringen sollten sie sein, daher, wo man den Luther auf der Burg versteckt gehalten. Die alte Frau war sich über ihre Gefühle nicht ganz klar, aber ihr bangte für ihr Finchen; allerlei Reden führte sie vor dem Kind, die es nicht verstehen konnte, jedoch es fühlte heraus, Großeltern und Mutter freuten sich nicht über die Einladung. Aber der Vater!

Es war ein großer Moment für beide, als Josefine an des Feldwebels Hand nach der Bolkerstraße hüpfte. Dort wohnten die Clermonts. Sie war in ihrem besten Kleid, weiß hingen ihr die Höschen unter dem Röckchen vor bis an die Knöchel. Ihr Herz klopfte: hatte der kleine Soldat nicht gesagt, er würde vielleicht auch einmal mit ihr spielen? Exerzieren – ach ja, das wollten sie!

Ehe der Vater an der Klingel zog, ermahnte er noch: »Mach mir Ehre, Josefine! Und wenn dir auch was gegen den Strich geht, nicht gemuckst, hörst du?«

»Aber – wenn se mich hauen?« fragte sie und warf trotzig den Kopf zurück.

»Dann haust du nicht wieder – untersteh dich!«

Das Kind machte große Augen: heute verstand es seinen Vater nicht.

Die Clermonts waren nicht reich, der Hauptmann hatte nicht mehr als seine Gage und jährlich ein Paar hundert Taler Zuschuß aus dem Erbe seiner Frau. Sie mußten sich sehr einschränken, aber die Welt merkte nichts davon. Die Frau Hauptmann trug, wenn sie ausging, ein seidenes Kleid und Armbänder, aus den Haaren ihrer Eltern und Kinder geflochten, mit goldenen Schlößchen daran. Und die hübsche Cäcilie sah aus wie ein englischer Kupfer, mit ihren langen, gedrehten Locken, in den zarten, bandgegürteten Kleidchen.

Für Viktor hatte der Hauptmann eine Freistelle im Kadettenkorps, und wenn der Leutnant in spe zweimal im Jahr von Bensberg nach Hause kam, so saß er als blinder Passagier neben dem Kutscher des Stellwagens oder wurde wohl auch noch innen zwischengeklemmt.

Viktor war stolz auf sein »von«. Im Korps waren sie alle adelig, sogar zwei Grafen waren da. »Ich bin zwar nur Freiherr«, sagte er zur kleinen Josephine, »aber unsere Familie ist viel älter wie denen ihre. Papa hat mir erzählt, daß schon Clermonts in den Kreuzzügen mitgewesen sind unter Gottfried von Bouillon. Meine Mama ist auch von ganz altem Adel, ihre Familie hat in der Reformationszeit sich hervorgetan. Aber das verstehst du ja nicht, dazu bist du noch zu dumm!«

Nein, sie verstand ihn auch nicht; sie fühlte nur eine ganz instinktive Bewunderung für ihn, wenn er die Uniform trug. Sprang er dagegen im Garten hinter dem Hause herum, und trug er dabei ein Paar verschabte Hosen, aus des Vaters abgelegten Beinkleidern geschneidert, und ein verwaschenes Drillichjäckchen, dann fühlte sie sich mit ihm ganz auf gleich und gleich. Er spielte noch sehr gern. Freilich, vom Exerzieren wollte er nicht viel wissen, das mußten sie im Korps so viel, selbst in den Freistunden; er mochte lieber mit ihr über die Gartenmauern klettern, hinunter zum Speeschen Graben, und da mit einem Stock fischen und Frösche fangen und Regenwürmer suchen und Papierschiffchen schwimmen lassen. Sie machten sich naß und schmutzig dabei und waren sehr glücklich.

Sie rissen auch wohl aus nach dem Kacheloch, einem noch wüsten Plan am Ausgang der Bolkerstraße, wo stark duftender Holunder wuchs und im Schutt Stechapfel und Nachtschatten, und wo das Bauen der ersten Häuser der schönen Freiheit noch keinen Abbruch tat.

Blau wölbte sich der Sommerhimmel, und die goldne Sonne strahlte. Große Schmetterlinge gaukelten, blaue Brummer surrten, lärmend spielte eine ganze Kinderschar. Ein frecher, dicker Bürgersjunge war der Schinderhannes, Josefine die geraubte Prinzessin, Viktor der Offizier des Königs, der ritterlich den Räuber verfolgt. Was noch an übrigen Kindern da war, mußte die Meute sein. Da wurde gehetzt und gekläfft und geschrien bis hin in die wogenden Kornfelder der Königsallee; da wurde geknufft und geprügelt, in zitternder Angst sich verkrochen und mit lautem Hallo gestürmt. Viktor war tapfer, aber der Schinderhannes auch nicht feige, sie schlugen sich manche Beule.

Die Großeltern klagten, sahen sie doch so gut wie gar nichts von der Enkelin mehr; auch zu Hause war Josefine nicht viel. »Mutter, is et nu bald Zeit? Laß mich doch schon gehen! Ach, laß mich doch!«

Frau Trina schalt: sonst hatte ihr die Fina schon die kleineren Geschwister »verwahrt«. Aber der Feldwebel leistete seiner Tochter Vorschub: »Na, lauf denn!«

Und sie lief davon, so rasch sie konnte, immer nach der Bolkerstraße, und blieb vom Morgen früh bis zum Mittag und vom Nachmittag früh bis zum Abend. Sie teilte die mager gestrichenen Brote der Clermonts Kinder; kein fettes Butterbrot, kein Stück Korinthenblatz bei der Großmutter hatte ihr je so gut geschmeckt.

Viktor verschmähte es durchaus nicht, kleine Streifzüge über die Gartenmauern anzutreten und des Nachbars Birnenspalier einer eingreifenden Besichtigung zu unterziehen. Wehe, wenn der Vater ihn betroffen hätte! Mit wildklopfendem Herzen stand Josefine auf Vorposten.

Oh, diese noch harten, grünen Birnen! In der versteckten Laube wurden sie verteilt, am Steintisch mürbe geklopft und mit Entzücken verspeist. Durch das dichte Pfeifenkraut drang kaum die neugierige Sonne. Dämmerig war's in der versteckten, engen Laube, unendlich groß die heimliche Seligkeit.

Doch es kam ein Morgen, an dem Josefine, viel früher als sonst, weinend wieder zu Hause erschien. Sie wollte nicht essen und nicht spielen, trübselig kauerte sie in einem Winkel und schüttelte auf alles Befragen der Mutter nur stumm den Kopf. Der Feldwebel, der zu Mittag heraufkam, wurde ganz besorgt: »Nanu, Josefine, was 's denn los?«

Da warf sie sich laut schluchzend an des Vaters Hals – der kleine Soldat war abgereist.


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