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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Herr und Frau Schnakenberg waren in Paris gewesen. Sie hatten sich alles mögliche von dort mitgebracht; es war eine förmliche Ausstellung in ihrem Haus auf der Königsallee.

Gleich der Läufer im Flur kam von der Weltausstellung. »Persianisch«, sagte Herr Schnakenberg. Und der Teppich im Salon war aus ›Kairo‹. Und in jeder Ecke stand ein Spucknapf, der war aus Kokosnußschalen von der Südsee; das war doch etwas anderes als die gewöhnlichen ›Quispeldörchen‹.

Den Garten zierten allerlei Gnömchen und Hasen und Rehe aus Porzellan. Der Transport hatte freilich mächtig gekostet, Herr Schnakenberg verriet nicht wieviel.

Frau Trina hatte mehrere seidene Kleider eingekauft: schwarze Seide aus Lyon, rohe Seide aus China, von leibhaftigen Würmern gesponnen. Auch Valencienner Spitzen, schöne Sofakissen und eingelegte Perlmuttertischchen und Vasen mit unverwelklichen Blumen. Ihr Hendrich hatte ihr zum Andenken an die Reise ein Armband aus Marokko ums Handgelenk gelegt und eine Brosche mit römischer Kamee an den Busen gesteckt.

Das Reizendste aber war der kleine Regenschirm aus Elfenbein für Josefine. Wenn man durch ein Löchelchen oben an dessen Griff guckte, sah man die ganze Pariser Weltausstellung und die Porträts von Napoleon und Eugenie und Lulu.

Ja, in Paris konnte man kaufen, da gab es herrliche Sachen und so geschmackvolle, wie nirgends sonst in der Welt. Man mußte gestehen, der Napoleon war ein kluger Kopf. Er hatte sich durch seine Weltausstellung sämtliche Potentaten ins Land gelockt, und daß sie ihm sozusagen den Hof machten. Wie hätte Herr Schnakenberg zu Hause bleiben können, wenn der Zar von Rußland, der König von Preußen und der Kronprinz und die Kronprinzessin nach Paris reisten! Besonders von der französischen Kaiserin war Schnakenberg hingerissen. Diese schöne Dame trug eine Krinoline und einen Chignon. Er geriet noch in Ekstase, wenn er schilderte, wie er sie in der Avenue des Champs Elysées hatte fahren sehen in malvenfarbener Seidenrobe, den Sonnenschein auf ihren rotgoldenen Haaren, und den Prinzen Lulu an ihrer Seite, in kurzen Hosen, roten Strümpfen, mit dem Kreuz der Ehrenlegion auf der Samtjacke.

Paris, Paris – das war die Hauptstadt der Welt!

Viele Düsseldorfer Bürger hatten es wie Schnakenberg gemacht; es gehörte zum guten Ton, diesen Sommer in Paris gewesen zu sein. Und nur was von dort kam, hatte Schick.

»Kümmel«, sagte zwar Peter und rümpfte die Nase, als er die Schätze bei Schnakenbergs besehen hatte. Das lag aber an den Käufern. Die Pariser waren schon voran, besonders in der Kunst. Waren nicht schon viele junge Künstler dorthin gewallfahrtet und als große Meister heimgekehrt? Warum fiel's denn keinem Menschen ein, nach der preußischen Hauptstadt zu gehen, da gab's doch auch eine Akademie? Bah, die Berliner hatten ja gar keine Kunst!

Peter fabelte immer von Paris. Wenn seine Lehre bei Meister Cremer um war, würde er auch nach Paris wandern, in die Stadt der Freude, der Schönheit, der Kunst. Wenn man dort nur aufs Pflaster trat, flog es einem schon an. Da wurde auch noch ein Maler aus ihm, so ein richtiger Künstler, kein lumpiger Anstreicher.

Und doch fühlte er sich jetzt leidlich zufrieden: Farben, Farben – er roch sie wenigstens. Der Meister war erstaunt über die Fortschritte des Lehrlings; man konnte ihm schon getrost etwas überlassen. Freilich mit der Schablone klexte er noch zu oft über, doch was aus freier Hand war, ›da hat er Idee von‹, sagte Meister Cremer.

Josefine pries sich jetzt glücklich, wenn sie von der abscheulichen Roheit und den Messerstechereien hörte, die in erschreckender Weise in den Industriedistrikten zunahmen, daß ihr Peter nicht in einer Fabrik steckte. Von immer neuen Greueltaten las man im Blättchen und sonst nur Klagen über die Bedrängnis des Heiligen Vaters und Adressen der katholischen Bürgerschaft mit der dringenden Bitte an den König, den Heiligen Vater zu schützen. Warum bedrängte man denn den armen Papst, der tat doch keinem was zuleide? Nun, bald kam der König ins Rheinland, und da würden die Rheinländer schon den Weg zu seinem Ohr finden. Leutselig sollte der ja sein und anders als der Friedrich Wilhelm IV.! Es gab noch viele Bürger, die sich an dessen Besuch damals in der tollen Zeit erinnerten. – –

Am zwanzigsten August wurde König Wilhelm, auf der Reise zum Kölner Florafest, in Düsseldorf erwartet.

Ein patriotischer Lokalpoet begrüßte ihn:

»O König, Führer du der Künste und Gewalten,
Mag Gott in Frieden dich noch lange uns erhalten!«

Die gesamte Bürgerschaft jubelte Willkommen.

Ein endloser Fackelzug am Abend – vierhundert Sebastianschützen voran – bildete Spalier. In der Königsallee quetschte sich die Volksmenge, um einen Blick auf den Gefeierten zu erhaschen; die Hand mußte ihm ganz lahm werden vom vielen Grüßen. Kinder hingen auf Bäumen und Laternenpfählen, und auch Josefine war auf einen Prellstein gestiegen.

Eigentlich war es gar nicht ihre Absicht gewesen, gucken zu gehen. Aber auf dem Weg zu ihrer Mutter war sie unversehens in den Trubel hineingeraten. Sie wunderte sich, daß die Bürger so laut jubelten: hatten sie, vor noch nicht zu langer Zeit, nicht ebenso laut geschimpft?! Ganz verdutzt stand sie auf ihrem Prellstein; unter ihr, um sie breitete sich ein Meer von Köpfen, von winkenden Armen, von wehenden Taschentüchern.

Ein aufgeregtes Flüstern, ein Raunen und Tuscheln geht durch die Menge: »Kömmt he?«

»Wo, wo, wo?«

»He küt, he küt!«

»Hurra!«

»Hoch, hoch, hoch!«

Immer mehr schwillt der Ruf an: »Es lebe König Wilhelm! König Wilhelm! König Wilhelm!«

Und nun erklingt majestätisch das:

»Heil dir im Siegerkranz!«

Die Musik spielt es, brausend fällt die Menge ein, das Volk wirft sich fast vor die Räder:

»Herrscher des Vaterlands –
Heil König dir!«

Der Wagen mußte halten.

Schlicht, im dunklen Soldatenmantel, blitzend nur die Helmspitze, saß der König da.

Also das war er?!

In erwachter Neugier reckte sich Josefine. Der hübsche, alte Herr mit den weißen Bartkoteletten – also das war der Herrscher des Vaterlandes?

Er lächelte übers ganze Gesicht, er grüßte unablässig.

»Fühl in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz –

Oh, wie er lächelte! So gut, so von Herzen! Josefine wurde es warm. Das war kein Herrscher, das war der Mann, auf den ihr Vater gehofft! Es gab ihr inwendig einen starken Ruck.

»Liebling des Volks zu sein!«

brauste der Chor.

»Heil König dir!« Sie hatte ihre Stimme mit erhoben, ohne es zu wissen. Hell übertönte ihr starker Ruf den Gesang umher. Hoch hatte sie sich auf dem Prellstein aufgerichtet in ihrer ganzen Stattlichkeit, ihr Tuch sich vom Hals gerissen und schwenkte es nun heftig: »Heil König dir!«

Nun sah er sie – sie ganz besonders! Ja, sie fühlte seinen Blick. Und dann lächelte er gütig und nickte. Ach, er nickte, er nickte! Ihr, hatte er ihr nicht ganz besonders zugenickt?!

Ihre Arme streckten sich aus, ihr Herz schlug ihm entgegen.

Sie stand noch verträumt, mit heißgeröteten Wangen, als eine bekannte Stimme sie aufschreckte: »No, Finchen, auch kucken gegangen?«

Es war Schnakenberg. Er trug seinen feinsten Rock und den Stock – die Weinrebe mit dem goldenen Knopf – den er sich aus Paris mitgebracht hatte.

»Haben Se ihn auch gesehn?« fragte Josefine noch zitternd vor Erregung, »den König, den König?!«

»Och ja, en ganz netter Mann«, sagte Schnakenberg. »Ein artiger Mann. Et is gut, dat de von Bismarck nit mit derbei war, da wär et ungemütlich geworden, denn de –

Er unterbrach sich. »Lauf bei die Mutter, Fina, du weißt doch, heut is dem selige Willem sein Geburtstag, da is se ganz aus 'm Häuschen. Ich geh nach der Uehl, da wolle mer den König leben lassen. Aber dat muß ich dir sagen: der Napoleon hat en noblere Kutsch. Der hat eben mehr savoir-vivre – aber kann mer die erwarten bei so enem Preuß?! No, adjüs, Fina!« Er blinzelte ihr zu und schlug dann den Weg ein, der zum Wirtshaus in der Ratingerstraße führte.

Die Volksmenge war dem königlichen Wagen nachgeströmt; einsam lag die Königsallee. Hier war Schnakenbergs Haus. Josefine war erstaunt: von den Mansarden bis herab zum Parterre prangte es in einer glänzenden Illumination. Der Stiefvater war doch ein besserer Patriot, als er zu sein schien!

Die Magd öffnete ihr, auf Strümpfen gehend.

»St«, flüsterte Drückchen, »geht e bißke leis, Frau Schnakenberg is im Hinterzimmerken.« Damit deutete das Drückchen alles an, was diesen Tag bewegte.

Frau Trina hatte überall neue Möbel; nur in einem kleinen Hinterstübchen stand das zusammengepfercht, was sie noch von ihrem früheren Hausrat behalten hatte. Da standen die Möbel in ihrer tannenen Armseligkeit, als ob sie sich genierten; keine Sonne beschien sie, fast nie wurden die geschlossenen Läden des Fensters geöffnet. In dieses Hinterzimmerchen zog sich Frau Trina immer zurück am Geburtstag ihres Wilhelm.

Josefine trat leise ein. Die Kattungardinen waren dicht vorgezogen, die Luft war dumpf-kühl und eingeschlossen wie in einem Mausoleum. Keine Lampe brannte; auf dem Tisch vor Frau Schnakenberg flackerte nur eine dicke Kerze, in einen Behälter mit Sand gestellt: das war das Lebenslicht, geweihtes Wachs, aber es brannte trüb.

Frau Trina trug ein schwarzwollenes Kleid; das marokkanische Armband, die römische Kamee und jede goldene Kette fehlten. Sie konnte den Sohn ja nicht feiern an Allerseelen, nicht an sein Grab wallen und es schmücken mit Kränzen – er war ja nicht tot. ›Er kömmt wieder, er kömmt sicher und gewiß wieder –‹ sie sagte das nicht oft, aber sie dachte es immer.

»Mutter, hör doch auf mit Weinen«, bat Josefine und setzte sich neben Frau Schnakenberg. Sie legte den Arm um die Schultern der alten Frau. Heute fühlte sie sich der Mutter näher als sonst im ganzen Jahr – sie wußte ja, wie man einen Sohn lieben kann.

So saßen sie ganz still nebeneinander in dem engen Stübchen, an demselben tannenen Tisch, um den sich einst die ganze Schar in der Feldwebelwohnung gereiht hatte.

Ach, wo waren sie alle hin?! Josefine stützte den Kopf in die Hand. Der Wilhelm war verschollen. Der Friedrich, ja der Friedrich – ein froher Schein glitt über ihr Gesicht, ja, der würde jetzt des Vaters Stolz sein, wenn er auch kein Soldat war! Dann der Ferdinand – ach du lieber Gott! Den ganzen Winter hatte er verschlafen in der Ecke beim Ofen; nur vormittags zum Frühschoppen und abends wieder hatte er sein Bein angeschnallt, um ins Wirtshaus zu gehen.

Und der Jüngste, das Karlchen? Vor Jahr und Tag hatte er einmal geschrieben, er sei jetzt Oberbootsmannsmaat auf S. M. Aviso ›Grille‹, aber so einen rechten Begriff konnten sie sich von ihm und seinem Leben nicht machen. Josefine seufzte. Daß man bei der Marine, wie es hieß, zehnmal schneller vorankäme als beim Landheer, das wollte sie ja gern glauben, aber es war doch traurig, daß man auch von dem Karlchen so gut wie gar nichts mehr zu sehen und zu hören kriegte.

Unwillkürlich sagte sie laut: »Ob de wohl mal wiederkömmt?«

»Er kömmt wieder, er kömmt sicher und gewiß wieder«, murmelte die Mutter.

Josefine wußte es wohl, die Rückkehr ihres Jüngsten kümmerte die wenig, die dachte nur an ihren Wilhelm. Da wurde es ihr eng; sie stand auf, es litt sie nicht mehr in der dumpfen Stube, deren Winkel vollgestopft waren mit Erinnerungen, die nur heute Erinnerungen waren, sonst vergessen standen und verstaubten. –

Aufatmend trat Josefine unter den freien, reichgestirnten Augustnachthimmel; wunderbar schön strahlten die Sterne drüben überm Exerzierplatz. Fernab rollte noch das Branden einer aufgeregten Volksmenge; es klang wie Brausen der Empörung, und doch war's lauter Freude.

In dieser Nacht schlief Josefine unruhig. Sie träumte viel; bald stand sie auf dem Prellstein und schrie Hurra, bald saß sie in der dunklen Stube bei der Mutter – – ›Er kömmt wieder, sicher un gewiß, er kömmt wieder!‹ Aber eine andere Stimme sprach hart: ›Er kommt nie wieder!‹ – Und dann nickte ihr der freundliche König zu, und sie nickte zurück. Da streckte der König die Hand aus und sprach: ›Was gibst du mir?‹ Er griff nach ihrem Herzen. Sie schrie laut auf, und wie sie schrie, da erwachte sie, ganz in Angstschweiß gebadet.

Es war sonniger Frühmorgen, Musikfanfaren schmetterten den Tag wach, drüben rückten die Neununddreißiger aus zur Truppenbesichtigung auf der Golzheimer Heide. Da sollten sie vorm König paradieren.

Die Trommeln wirbelten, die Pikkoloflöten schrillten:

»Freut euch des Lebens,
Solang noch das Lämpchen glüht.«

Hastig eilte Josefine ans Fenster; hinter dem Gardinchen spähte sie den Truppen nach. Soldaten, Soldaten, all die blauen Röcke und all die roten Kragen und die frischen, gebräunten Gesichter drüber. Auf tausend Helmspitzen schien sich die Sonne zu entzünden, es war ein Blitzen und Blinkern. Ei, war das lustig!

»Freut euch des Lebens«, summte sie mit und sah ihnen nach.

Heute war ein stiller Tag für das Lädchen, die Kaserne wie ausgekratzt, auch die halbe Stadt auf den Beinen nach der Golzheimer Heide. Den König sehn, den König! Heute gegen abend reiste er ja schon wieder ab.

Spät mittags war die Parade aus; todmüde, bis zur Unkenntlichkeit mit Staub bedeckt, marschierten die Soldaten wieder ein.

Der König aber besah sich noch rasch die Kunstausstellung bei Schulte und das Atelier des Schlachtenmalers Camphausen. Er hatte bei Schulte sogar einen Ankauf befohlen. Das Bildchen hieß: ›Die Rekruten.‹


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