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V

Diese Probe war die beste von allen Proben gewesen. Langenbruch und die Klee verständigten sich zwar nachher ziemlich rasch – und sie wollten den wie immer blinden Regisseur darauf aufmerksam machen: daß der sonst so sichere Charakterspieler Ullrich diesmal eine Art Brüchigkeit zeige, daß er auf pathologischem Grunde stehe, oder vielmehr schwanke, und daß sich auf diese Art keine sicheren Wirkungen fixieren ließen. –

Herr Ullrich selbst aber fühlte, daß sich in seinem Innern, dem wohl schon längst eine Verhärtung gedroht haben mochte, nun etwas zu lösen begann. Es strömte heiß in ihm, wühlte sich hoch, so daß seine Augen davon immer wieder überzufließen drohten.

Während er nach Hause ging, auf offener Straße, passierte es ihm immer wieder, daß sich sein Gesicht zusammenzog, weil ein Weinen heraufwollte, das druntenzuhalten er sich energisch bemühte. Ein weinerlicher alter Herr, so kam er sich vor, und deshalb ging er an seinem Hause vorüber und ohne weiteres in einer Richtung, die ihn, wenn er sie fünfzehn Minuten verfolgte, zu Fräulein Dahnke führen mußte.

Es war ein Nachmittag im späten April. Der verdammte Direktor hatte das herzerweichende Stück zu einem Termin angesetzt, den eigentlich nur noch das leichte Lustspiel vertrug. Die Sonne flunkerte bereits sehr beweglich, sie warf ihre Flecken auf die Steinhäuser und glänzte grell im Asphalt. Dieses Licht blendete die Augen und betäubte das Gehirn. Es machte sich auch eine zudringliche Wärme bemerkbar, und Herr Ullrich fühlte sich dicht vor einer Migräne.

Trotzdem wollte Herr Ullrich den Beweis erbringen, daß er den weinerlichen älteren Herren in sich in jeder Hinsicht zu überflügeln imstande war, und er bewältigte die vier Treppen der Dahnke fast ohne Pause wie im Sprung. Er mußte sich zwar dann ein wenig an ihre Türe anklammern, und der Schweiß, den er sich von der Stirn und vom Nacken, unter dem Kragen hervor wegwischte, war kühl.

Aber Fräulein Dahnke war so reizend überrascht, und sie zeigte sich so geschickt darin, von einem Jüngling ungestüm genommen und gleichsam mit einem Biß verschlungen zu werden; sie war so hurtig und mit Grazie ein nackter Leib, der von dem zart verhüllten Fenster alle Sonne empfing: daß Herr Ullrich kein Wort sprechen und schon gar nicht »mein liebes Kind« in irgendwelchem Ton sagen mußte.

Es war ihm auch nicht ums Sprechen zu tun. Er war genug beschäftigt, den Schüttelfrost zu verhehlen, der innerlich ihn bedrängte. In den weißen Armen Friederikes, von ihren dunklen Zigeunerlocken gekitzelt, dachte er vorübergehend an die Klee und triumphierte über sie. –

Erst als er wieder vor seinem eigenen Hause stand, fühlte er sich zuinnerst trübe und etwas abgetakelt. Da war nun wieder ein flauer Abend heraufgerückt! Dieses Paternoster der Tage und Nächte drehte sich unablässig, eine bewährte Technik, auf die niemand mehr achtete. Entsetzliche Routine des Lebens! dachte Ullrich, und es schüttelte ihn ein wenig. Mörderische Routine! Ödes Hoftheater der Gefühle! Auf der Bühne war das alles noch am echtesten. –

Während er in den weißen, noch wie neuen Armen der Dahnke lag, hatte das Telephon angeschlagen. Doch Friederike tat nichts dergleichen, und als das Läuten immer wieder schrillte und Ullrich sie fragend ansah, schüttelte sie nur den Kopf. Fünf-, sechsmal läutete es, dann schwieg der Apparat, und die Dahnke drehte Ullrichs Gesicht dem ihrigen zu.

Merkwürdig! Wenn so ein Telephon ruft und ruft, und man läßt es umsonst rufen, dann ist der Apparat wie ein Mensch. Ob es der Regisseur war, der schließlich nachgab und weiterrollte auf seiner gerundeten Bahn? Die herzlose Jugend, eine lustige Person namens Friederike, ließ ruhig das Telephon ausbluten. Hätte sie es auch getan, wenn Ullrich am andern Ende der Leitung gerufen hätte? Wie unbekümmert ist die Jugend in der Hingabe und in der Abweisung! Sie hat den großen Vorrat der Möglichkeiten, es kommt ihr nicht darauf an. –

Dieses Telephon war das Erlebnis des Tages gewesen, Ullrich merkte es jetzt. Die großartige Probe verblaßte dahinter, das besiegte stolze Bild der Klee vernebelte sich. Plötzlich war Friederike Dahnke wirklich da gewesen, und in einem Anfall wie von Angst hatte sich der vielgeübte Mund des alten Charakterspielers hoch an ihrem schmalen fleckenlosen Halse festgesogen, dessen Adern laut klopften. Es war unter diesem Kusse so regungslos und so still gewesen, daß man die Adern hören mußte. – Später befestigte Friederike Dahnke ein schwarzes Schönheitspflästerchen an dieser Stelle ihres Halses. –

Meister Ullrich benutzte nicht den Lift, sondern stieg mit dumpfen, nachgiebigen Knien ziemlich bekümmert zu seiner Wohnung empor. Im Munde fühlte er jetzt Ekel vor seiner eigenen verbrauchten Persönlichkeit. Er war fünfzig Jahre alt wie Kusofkin. Wenn es so spät in uns wird, rückt das Privatleben in den Winkel.

Es war heute wirklich spät geworden. Seine Frau war glücklicherweise ins Kino gegangen. Er konnte Ruhe haben, er mußte nicht Gespräche führen oder sie sich verbitten, was ja auch innerlich anstrengt. Er wollte noch Text lernen.

Sein Arbeitszimmer war dunkel, aber die Lichtreklame von gegenüber blitzte immer wieder rhythmisch auf, wie ein Wetterleuchten. Mit kindlicher Befangenheit drehte Ullrich ganz langsam seinen Kopf dahin. »Und abends in die Scala!« … »Und abends in die Scala!«: schrieb eine unsichtbare Hand ihr Menetekel.

Ullrich grinste erleichtert, bedankte sich bei dem unsichtbaren Helfer, der ihn an das gesicherte Programm des menschlichen Lebens erinnerte, und schloß die Vorhänge. Als er sich vom Fenster abwandte, leuchtete in der Ecke die Kognakflasche auf. Ihr Hals, ebenso schmal und hell wie der Friederikes, flüsterte: endlich allein! –


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